Ab sofort ist jede Gemeinde „barrierefrei“

Artikel von Sandra Peoples
3. Dezember 2022 — 6 Min Lesedauer

Laut einer Studie sagen fast alle Pastoren (99 %) und die meisten Gemeindemitglieder (97 %), dass behinderte Menschen sich in ihrer Gemeinde willkommen und dazugehörig fühlen würden. Familien wie meine lesen diese Statistik jedoch und empfinden Unbehagen.

Ich habe eine Schwester mit Down-Syndrom und bin deshalb schon immer von Menschen mit Behinderung umgeben gewesen. Die Gemeinden, in denen ich aufgewachsen bin, haben meine Familie tatsächlich mit offenen Armen empfangen. Aber als bei unserem Sohn James vor zehn Jahren Autismus diagnostiziert wurde, wurde mir klar, dass in der Gemeinde, in der mein Mann Pastor war, kein einziger Mensch mit Behinderung war. Hätte uns jemand gefragt, so hätten wir zwar behauptet, dass Menschen mit Behinderung herzlich willkommen sind, aber im Grunde haben wir nichts dafür getan, um diese Menschen wirklich einzuladen.

„Ich bin zuversichtlich, dass jede Gemeinde von ‚Wir denken, dass Menschen mit Behinderungen willkommen wären‘ zu ‚Wir wissen, dass sie willkommen sind‘ übergehen kann.“
 

Was können Gemeinden tun, um behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene einzuladen? Während ich über die Schritte nachdenke, die meine Gemeinde vor zehn Jahren unternommen hat, bin ich zuversichtlich, dass jede Gemeinde von „Wir denken, dass Menschen mit Behinderungen willkommen wären“ zu „Wir wissen, dass sie willkommen sind“ übergehen kann.

Hier sind vier Möglichkeiten, wie Gemeinden darauf hinarbeiten können:

1. Entwickle eine Theologie der Behinderung

In ihrem Buch Same Lake, Different Boat stellt Stephanie Hubach drei Sichtweisen auf Behinderung vor. Eine modernistische Auffassung versteht Behinderung als einen abnormalen Teil des Lebens in unserer normalen Welt. Eine postmoderne Auffassung betrachtet Behinderung als einen normalen Teil des Lebens in unserer normalen Welt. Die biblische Auffassung sieht Behinderung jedoch als einen normalen (d.h. zu erwartenden) Teil des Lebens in unserer abnormalen Welt.

In Psalm 139 heißt es, dass wir alle „erstaunlich und wunderbar gemacht“ sind (Ps 139,14). Gott hat eine Person, die mit Down-Syndrom geboren wurde, genauso sorgfältig erschaffen wie jemanden, der mit der üblichen Anzahl von Chromosomen auf die Welt kam. In 2. Samuel 9 ehrte David Jonathans verkrüppelten Sohn Mephiboseth, indem er ihn einlud, an seinem Tisch zu essen. Er schätzte ihre Beziehung genug, um alle Barrieren niederzureißen.

In Johannes 9, als die Jünger Jesus fragten, ob die Blindheit eines gewissen Mannes seine Schuld oder die seiner Eltern sei, korrigierte Jesus ihre falschen Annahmen. Er sagte, dass die Behinderung des Mannes existierte, damit „an ihm … die Werke Gottes offenbar werden“ (Joh 9,3). Das Verständnis von Behinderung als einer zu erwartenden Realität in unserer abnormen Welt nach dem Sündenfall hilft uns, eine Theologie der Behinderung zu entwickeln, die jedes Menschenleben als Ebenbild Gottes wertschätzt.

2. Sei überzeugt, dass jeder Teil des Leibes unverzichtbar ist

Jedes Glied an Jesu Leib ist notwendig, um den Auftrag des Leibes Christi, der Gemeinde, auszuführen. Einige Körperteile sind schwächer als andere, doch sie sind umso größerer Ehre wert (vgl. 1Kor 12,12–27). Mehr noch:

„[W]enn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit.“ (1Kor 12,26)

Wenn du meinen Sohn James danach beurteilst, was er für unsere Gemeindefamilie leisten kann, würdest du ihn ganz unten auf die Liste der wertvollen Gemeindemitglieder setzen. Er kommuniziert im Grunde nicht, was bedeutet, dass er auf dein „Guten Morgen!“ wahrscheinlich eher mit einem Zitat aus einem seiner Lieblingsfilme antwortet als mit dem, was wir für eine angemessene Antwort halten würden.

Nachdem wir ihm aber wochenlang geholfen hatten, sich mit den Lichtern und Geräuschen in unserem Gottesdienst vertraut zu machen, konnte er am diesjährigen Muttertag bei den Liedern mit uns in der ersten Reihe stehen. Er trug lärmmindernde Kopfhörer und lehnte sich zur Sicherheit an seinen Vater, aber seine Anwesenheit war eine Ermutigung für die Menschen um uns herum.

In den Tagen danach erhielten wir E-Mails und Kurznachrichten darüber, wie viel es für andere bedeutete, dass unser Sohn mit uns Gottesdienst feierte. Diese Begebenheit zeigte unserer Gemeinde, dass Gottes Gnade auch in unseren Herausforderungen genügt und dass jeder Mensch andere mit dem Trost trösten kann, mit dem er selbst von Gott getröstet wurde (vgl. 2Kor 1,3–4).

3. Baue die Barrierefreiheit aus

Ein großer Teil der Begleitung von behinderten Menschen besteht aus dem Abbauen von Barrieren. Alle Menschen sollten Zugang zum Evangelium, zur Gemeinschaft und zum Gottesdienst haben. Gemeinden müssen bereit sein, entsprechende Vorkehrungen zu treffen – auch wenn es uns etwas kostet.

„Könnte es sein, dass Gott bereits Geschwister in deine Gemeinde gestellt hat, die helfen können, auf die Bedürfnisse von behinderten Menschen einzugehen?“
 

All unsere Veranstaltungen – vom Gottesdienst am Sonntagmorgen über Kleingruppen bis hin zu gemeinsamen Mahlzeiten, Sommerlagern und Freizeiten – sollten für so viele Menschen wie möglich zugänglich sein. Dies mag mehr Geld und mehr Helfer erfordern. Doch was für ein Privileg ist es, Gott auch darin zu vertrauen, alles Nötige bereitzustellen! Könnte es sein, dass er bereits Geschwister in deine Gemeinde gestellt hat, die helfen können, auf die Bedürfnisse von behinderten Menschen einzugehen? Lasst sie uns suchen und sie ermutigen, auf diese Weise zu dienen.

Überdies gibt es viele Berater, die Gemeinden bei der praktischen Umsetzung von Barrierefreiheit und Inklusion helfen können. Und wenn eine Gemeinde erst einmal anfängt, sich nach Hilfe umzuschauen, wird sie zunehmend auf hilfreiche Ressourcen stoßen.

4. Bemühe dich um Familien mit behinderten Kindern

Viele von uns haben Familien mit behinderten Kindern um sich. Doch wir sollten nicht von ihnen erwarten, dass sie unsere Gemeinden von sich aus aufsuchen, wenn wir uns umgekehrt nicht nach ihnen ausstrecken.

Unsere Gemeinde organisiert z.B. Veranstaltungen, die sich speziell an solche Familien richten. Auch laden wir Mütter und Betreuer zu freien Abenden und „Verwöhn-Tagen“ ein. Anstatt nur darauf zu warten, bis die Leute uns finden, bemühen wir uns aktiv um Familien, die sonst wahrscheinlich nicht in eine Kirche gehen würden. Wir lassen sie wissen, dass sie willkommen sind und dass wir lernen möchten, wie wir jeder einzelnen Person und Familie am besten dienen können.

Ansonsten erinnern wir unsere Mitglieder mit Behinderungen, unsere Familien mit behinderten Kindern und diejenigen, die im Gesundheitswesen oder in der Sonderpädagogik arbeiten, daran, dass sie Missionare sind. Sie kennen die Herausforderungen, mit denen betroffene Familien konfrontiert sind, und sie kennen die Bedeutung aller Fachbegriffe, Akronyme und Diagnosen. Als Gemeinde arbeiten wir hart daran, diese Missionare an vorderster Front zu ermutigen und auszurüsten.

Um eine Gemeinde zu werden, die Menschen mit Behinderung willkommen heißt, müssen wir uns selbst verleugnen und unser Kreuz auf uns nehmen – im Kleinen und im Großen. Die Belohnung ist jedoch groß: eine Gemeinde zu sein, die Jesu Barmherzigkeit für jeden Menschen widerspiegelt.