Vorsehung

Rezension von Eduard Klassen
6. Dezember 2022 — 9 Min Lesedauer

Über Vorsehung habe in den ersten Jahren meines Glaubenslebens kaum nachgedacht. Deswegen wundert es mich nicht, dass viele Christen diesem Begriff vermutlich keine große Bedeutung beimessen. Ich wurde mit Gottes Vorsehung vertraut gemacht, als ich anfing, die Bücher der Puritaner zu lesen. Besonders das Buch Alles in seiner Hand von John Flavel hat mir die Augen geöffnet, Gottes wunderbares Wirken in allen Lebensbereichen eines Christen zu erkennen. Ich las das Buch mehrmals. In schwierigen Lebensumständen fand ich darin wertvolle Passagen. Besonders der zweite Absatz in seinem Buch hat sich tief in mein Herz eingebrannt:

„In allem Kummer, der die Heiligen hier befällt, ist es ihr großer Trost und Rückhalt, dass Gottes Geist voller Weisheit in jedem Geschehen und jedem noch so kleinsten Detail wirkt und die wunderlichsten Kreaturen und ihre bösartigsten Pläne zu segensreichen und glücklichen Ergebnissen lenkt. Und in der Tat wäre eine Welt ohne Gott und seine Vorsehung es nicht wert, in ihr zu leben.“ (S. 21)

Flavels Buch ist aus dem Jahr 1678. Das ist lange her, weshalb die Ausführungen sowie die Sprache etwas ungewöhnlich sind. Umso mehr freute ich mich, über John Pipers Pläne zu hören, ein Buch über die Vorsehung zu schreiben. Mir war sofort klar: Dieses Buch muss ich lesen. Als die englische Ausgabe veröffentlicht wurde, griff ich schnell zu. Als wenig später bekannt wurde, dass es auch eine deutsche Übersetzung geben wird, konnte ich das kaum glauben und erwartete sie nicht in absehbarer Zeit. Meine Erwartungen wurden bei Weitem übertroffen, als der neu gegründete Verlag Verbum Medien nach etwas mehr als einem Jahr eine deutsche Übersetzung veröffentlichte.

John Piper war 33 Jahre lang Pastor der Bethlehem Baptist Church in Minneapolis. Seine vielen Predigten durch viele Kapitel der Bibel und seine lehrreichen Vorträge auf Konferenzen waren immer nahe an der Schrift. Er hat dabei tief in der Schrift tief und für seine Zuhörer alte und neue Schätze hervorgeholt (vgl. Mt 13,52). Mit dieser Gewohnheit und einer tiefen Liebe zur Bibel schreibt John Piper seine Bücher. Über 50 Titel sind bereits aus seiner Feder geflossen. Das allein ist erstaunlich, doch sein Buch „Vorsehung“ ist nicht nur umfangreicher als alle anderen Schriften von ihm. Es ist in gewissem Sinne auch eine Zusammenfassung seiner bisherigen Autorentätigkeit und gleichzeitig eine enorme Präzisierung seiner Theologie und seiner Perspektive auf Gottes souveränes Handeln zur Verherrlichung seines Namens.

Viele Worte für ein vernachlässigtes Thema

John Pipers Opus magnum umfasst in der deutschen Übersetzung beinahe 700 Seiten. So ist es vor der Lektüre ratsam, sich das Inhaltsverzeichnis und die Struktur anzuschauen. Die vom Autor gewählte Dreiteilung beginnt mit der Definition im ersten Teil auf ca. 20 Seiten. Dabei bedient sich Piper verschiedener reformierter Bekenntnisse und erweitert sie im Wesentlichen nur in einem Punkt: Die Vorsehung Gottes bewirkt in den Gläubigen eine große Freude an Gott. Das hebt der Autor über alle Kapitel hinweg immer wieder hervor. Das Erkennen des Wirkens Gottes und das Nachdenken über seine Vorsehung führen zur Anbetung. Der Leser soll also nicht nur wahrnehmen, sondern auch anbeten.

„Die Vorsehung Gottes bewirkt in den Gläubigen eine große Freude an Gott.“
 

Danach wird im zweiten Teil auf ca. 150 Seiten das grandiose Endziel der Vorsehung Gottes erschlossen. Dabei folgt der Autor der biblischen Chronologie vom Garten Eden, geht über zum Neuen Bund und schließt mit der Wiederkunft Jesu und der Verherrlichung des Gottesvolkes. Dieser zweite Teil endet mit einem „sprachlichen Feuerwerk“ der Anbetung Gottes. Dieser kurze Absatz soll als Einblick genügen:

„Wenn Jesus wiederkommt, wird er zu uns sagen: ‚Geh ein zur Freude deines Herrn!‘ (Mt 25,23). Er ist der Herr, und wir gehen in seine Freude ein. Dies wird das ewige Wirken des Heiligen Geistes sein – dass er die Freude des Vaters über den Sohn und die Freude des Sohnes über den Vater nimmt und zu unserer Freude macht, indem er uns immer mehr die Herrlichkeit des Vaters und des Sohnes offenbart. Das wird die allgenugsame, Gott verherrlichende, Christus erhebende und vom Geist abhängige Erfahrung des ‚überschwänglichen Reichtums seiner Gnade in Güte an uns in Christus Jesus‘ sein.“ (S. 186)

Im umfangreichsten letzten Teil werden das Wesen und Ausmaß der Vorsehung Gottes thematisch untersucht. Darin verfolgt der Autor vordergründig das Ziel, die Art und Weise zu zeigen, wie Gott über alles – ja, wirklich alles – regiert: über die Schöpfung, den Satan, alle Regierungen, über Leben und Tod und Sünde, und über die Errettung von Menschen, über das Christenleben und natürlich auch über die neue zukünftige Welt. Dieser lange Teil ist in 30 Kapitel unterteilt und lässt sich Stück für Stück nachdenkend und anbetend lesen. Es ist sogar wünschenswert, längere Pausen beim Lesen einzulegen, um die Tiefe, Breite und Höhe der Vorsehung Gottes auf sich einwirken zu lassen. Auf diese Weise erweitert das fulminante Werk unsere oft verkürzte und beschränkte Wahrnehmung und führt auf zuvor nicht gekannte Höhen der Freude an Gott. Ein Thema habe ich allerdings in diesem Teil vermisst: Die Vorsehung Gottes in der Geburt und im Wachstum der neutestamentlichen Gemeinde wird zwar immer wieder genannt, aber nicht gründlich biblisch-theologisch erarbeitet. Ich erwartete kein Kapitel über die Vorsehung Gottes in der gesamten Kirchengeschichte – immerhin könnte man mit diesem Thema mehrere Bände füllen. Zumindest das erste halbe Jahrhundert der Gemeinde Jesu Christi nach Pfingsten, wie es im Neuen Testament dokumentiert ist, wäre meiner Meinung nach jedoch einige Kapitel wert.

Ohne Umwege und ohne Ich-Form

John Piper ist für mich ein Autor erster Klasse. Jedes bisher auf Deutsch erschienene Buch habe ich mit großer Freude und tiefem Erkenntnisgewinn gelesen. Pipers Bücher unterscheiden sich in verschiedener Hinsicht von vielen anderen zeitgenössischen Autoren. So beginnen etwa die Kapitel und die Einführungen in die drei großen Teile dieses Buches nie mit einem Beispiel aus seinem Leben, einer Anekdote oder ähnlichem. Wer das in diesem Werk sucht, wird vergebens suchen. Piper beginnt ohne Umwege, jedoch auch ohne seine Leser in ein neues Thema hineinstolpern zu lassen, denn die meisten Kapitel enden mit einer kurzen Zusammenfassung und einem Ausblick auf das Folgende. Gute Lehrer und Prediger gehen so vor.

„Das fulminante Werk erweitert unsere oft verkürzte und beschränkte Wahrnehmung und führt auf zuvor nicht gekannte Höhen der Freude an Gott.“
 

In Vorsehung ist mir auch aufgefallen, dass der Autor selten in der Ich-Form schreibt. Nur in der Einführung und in den Schlussgedanken bekommt der Leser die Ich-Form präsentiert, und nur an wenigen Stellen auf den dazwischen liegenden hunderten Seiten. Die Stärke seiner Argumentation liegt nicht in seiner Philosophie, sondern im Zitieren des Wortes Gottes aus über 60 biblischen Büchern. Das Bibelstellenverzeichnis am Ende zeugt von den zahlreichen und meist ausgeschriebenen Bibelstellen. Die meisten Verse muss der Leser nicht nachschlagen, sondern sieht sie schon auf den ersten Blick anhand der besonderen Formatierung. Manchmal werden Bibelverse aneinandergereiht, um aufzuzeigen, wie viele Aussagen die Bibel zum jeweiligen Thema macht. Das empfand ich nie als überflüssig. Das Gegenteil war der Fall: Ich freute mich immer wieder über neue Entdeckungen und die Hervorhebungen des Autors zu zahlreichen Bibelstellen.

Zu Verwendung, Gestaltung und Übersetzung

Das Bibelstellenverzeichnis ist eine wahre Fundgrube, denn Vorsehung ist mehr als die systematische Abhandlung des Themas. Zu vielen Bibelstellen finden sich Kurzkommentare und Erläuterungen, die für das Bibelstudium und die Predigtvorbereitung wertvolle Impulse und Auslegungshilfen anbieten. Wer also einen Band für knapp 30 Euro kauft, ziert damit nicht nur sein Bücherregal, nachdem er es einmal gelesen hat. Nein, dieses Werk habe ich bereits innerhalb eines Jahres mehrere Male konsultiert. Auch als Andachtsbuch am Sonntag ist es benutzt worden, um über Gottes Werken und seiner Vorsehung zu meditieren. Ebenso habe ich es im Urlaub gelesen und auch als Nachschlagewerk beim Bibellesen benutzt. Das Geld ist also gut investiert.

Dieses wunderbare Werk hat in mir eine göttliche Freude geweckt, mich stark getröstet, mein Denken geschärft und mich mit einer lebendigen Hoffnung erfüllt.
 

Der deutsche Verlag Verbum Medien hat sich für eine besondere Gestaltung entschieden: Die Einzüge bei Überschriften und Absätzen sind größer als gewöhnlich, die Bibelverse und Zitate sind kleiner als der Fließtext, die Seitenzahlen befinden sich an den Rändern im oberen Bereich. Es fiel mir jedoch nicht schwer, mich an das ungewöhnliche Layout zu gewöhnen. Das Buch weckt dadurch die Aufmerksamkeit beim Lesen und vermittelt dem Auge Ruhe und Ausgeglichenheit. Der Verlag hat auf diese Weise Mut zum Neuen unter christlichen Verlegern gezeigt und hebt sich damit von anderen Publikationen ab.

Ich kann mir gut vorstellen, dass die Übersetzung von John Pipers sprachlicher Fulminanz anspruchsvoll ist. Der Übersetzer Friedemann Lux ist dabei sehr gut und elegant vorgegangen. Nur an manchen Stellen kamen mir die langen Sätze des Autors verworren und die von Piper stets wohlüberlegten Überschriften im Vergleich zum Original weniger prägnant vor. Wer die englische Ausgabe nicht kennt, wird das kaum bemerken.

Fazit

Ich schreibe diese Rezension als jemand, der mit der Theologie von John Piper vertraut ist, viele seiner Bücher gelesen und nicht wenige seiner Predigten gehört hat. Das begründet meine Freude am Buch, meine hohen Erwartungen daran, und wohl auch eine gewisse Voreingenommenheit. Da sich der Autor jedoch bewusst an reformierte Bekenntnisse hält und mit der Bibel als Haupterkenntnisquelle argumentiert, wird dieses Buch jedoch mit Sicherheit für viele ein Augenöffner sein. Dieses wunderbare Werk hat in mir eine göttliche Freude geweckt, mich stark getröstet, mein Denken geschärft und mich mit einer lebendigen Hoffnung erfüllt. Und es hat mich immer wieder zur Bibel geführt, meine Bibellesekompetenz gestärkt und die Bibelkenntnis vertieft. Das Buch kam gerade rechtzeitig in mein Leben. Das muss Gottes Vorsehung sein – ganz sicher!

Buch

John Piper, Vorsehung, Bad Oeynhausen: Verbum Medien, 2022, 694 Seiten, ca. 29,90 EUR.
Das Buch kann auch direkt beim Verlag bestellt werden.