Die Heiligkeit Gottes und die Sündhaftigkeit des Menschen

Artikel von R.C. Sproul
13. Dezember 2022 — 6 Min Lesedauer

Die Essenz des christlichen Glaubens kristallisiert sich in einem Wort: Gnade. Eines der großen Mottos der Reformation war der lateinische Ausdruck sola gratia – allein durch die Gnade. Doch dieser Ausdruck wurde nicht von den Reformatoren des 16. Jahrhunderts erfunden. Seine Wurzeln liegen in der Theologie des Augustinus von Hippo, der ihn verwendete, um auf das zentrale Konzept des Christentums hinzuweisen, dass unsere Erlösung allein durch Gnade ist und dass der einzige Weg der Versöhnung des Menschen mit Gott in der Gnade liegt. Dieses Konzept ist so zentral in der biblischen Lehre, dass es schon wie eine Beleidigung wirkt, dass man es überhaupt erwähnt; und doch, wenn es eine Dimension der christlichen Theologie gibt, die über die letzten Generationen verschleiert worden ist, dann ist es die Gnade.

„Zwei Dinge, die jeder Mensch unbedingt verstehen muss, sind die Heiligkeit Gottes und die Sündhaftigkeit des Menschen.“
 

Zwei Dinge, die jeder Mensch unbedingt verstehen muss, sind die Heiligkeit Gottes und die Sündhaftigkeit des Menschen. Es ist sehr schwierig für Menschen, sich diesen Themen zu stellen. Sie gehören zusammen: wenn wir verstehen, wer Gott ist, und einen Blick seiner Majestät, Reinheit und Heiligkeit erhaschen, dann werden wir uns sofort unseres Verderbens bewusst. Sobald das passiert, flüchten wir zur Gnade – weil wir wahrnehmen, dass es absolut keine andere Möglichkeit als Gnade gibt, um vor Gott zu bestehen.

Der Prophet Habakuk war während einer bestimmten Periode in der jüdischen Geschichte aufgebracht, weil er sah, dass die Feinde des Volkes Gottes triumphierten, die Frevler Erfolg hatten und die Gerechten litten. Er klagte: „Bist du, o Herr, nicht von Urzeiten her mein Gott, mein Heiliger? Wir werden nicht sterben! Herr, zum Gericht hast du ihn eingesetzt, und zur Züchtigung hast du, o Fels, ihn bestimmt“ (Hab 1,12). Außerdem bekräftigt er die Heiligkeit Gottes und dass Gott das Böse nicht tolerieren kann: „Deine Augen sind so rein, dass sie das Böse nicht ansehen können; du kannst dem Unheil nicht zuschauen …“ (Hab 1,13a).

Dies ist ganz anders als die menschliche Natur. Wir können das Falsche tolerieren. Tatsächlich könnten wir weder einander noch uns selbst tolerieren, wenn wir das Falsche nicht tolerieren könnten. Um mit mir selbst, einem Sünder, leben zu können, muss ich lernen etwas Böses zu tolerieren. Wenn meine Augen zu heilig für den Anblick von Ungerechtigkeit wären, müsste ich meine Augen immer schließen, wenn ich jemandem begegne – und sie würden mich als einen Mann sehen, der Gottes Ebenbild besudelt hat.

Habakuk sagt weiter: „Warum siehst du denn den Frevlern schweigend zu, während der Gottlose den verschlingt, der gerechter ist als er?“ (Hab 1,13b). Er kann nicht begreifen, wie Gott das menschliche Böse erdulden und geduldig mit uns sein kann. Doch gleichzeitig können wir auch den Gedanken, dass Gott über das menschliche Böse aufgebracht ist, nicht tolerieren; wir reagieren feindselig auf den Gedanken, dass Gott so heilig ist, dass er Sündern oder der Sünde den Rücken zukehren könnte. Das ist das Dilemma, das uns die Bibel vorsetzt: wir haben einen heiligen Gott, dessen Ebenbild wir sind und dessen Ebenbild zu spiegeln wir zur Lebensaufgabe haben – und doch sind wir nicht heilig.

„Das ist das Dilemma, das uns die Bibel vorsetzt: wir haben einen heiligen Gott, dessen Ebenbild wir sind und dessen Ebenbild zu spiegeln wir zur Lebensaufgabe haben – und doch sind wir nicht heilig.“
 

Eines Tages diskutierte ich auf einer Theologiekonferenz die Heiligkeit Gottes mit einer Gruppe Pastoren. Einer der Pastoren schätzte meinen Vortrag zur Heiligkeit Gottes, aber er teilte meine Meinung zur Souveränität Gottes nicht. Ich sagte, dass, obwohl wir als Christen nach friedlichem Zusammenleben streben und nicht streitlustig oder polarisierend sein sollten, wir nicht beide recht haben konnten, wie Gottes Souveränität funktioniert. Außerdem, wer sich irrt, sündigt an diesem Punkt des Irrtums gegen Gott.

Wenn wir sündigen, wollen wir unsere sündhaften Taten als Fehler beschreiben, als ob wir die einhergehende Schuld mildern oder abschwächen könnten. Wir glauben nicht, dass ein Kind, das aus zwei und zwei fünf macht, etwas falsch macht. Wir wissen, dass die Antwort falsch ist, aber wir bestrafen das Kind nicht und sagen: „Du bist schlecht, weil du aus zwei und zwei fünf statt vier machst.“ Wir glauben, dass Fehler menschlich sind. Aber wie ich jenem Pastor sagte, wenn einer von uns beiden falsch liegt, könnte es daran liegen, dass er voreingenommen an die Heilige Schrift heranging, anstatt mit der Bibel übereinzustimmen. Wir tendieren dazu, voreingenommen zu sein, und wir verzerren Gottes Wort, um dessen Urteil zu entkommen.

Aber Fehler sind menschlich – d.h. es ist in Ordnung. Wir sind Gefallensein und Korruption so gewöhnt, dass unsere moralischen Antennen zwar auf abscheuliche Schwerverbrechen wie Massenmord reagieren, aber normaler, alltäglicher Ungehorsam Gott gegenüber stört uns nicht. Wir denken nicht, das dies so wichtig ist, weil „Irren menschlich und Vergeben göttlich ist.“

Dieser Denkspruch deutet an, dass es natürlich und daher für Menschen akzeptabel ist zu sündigen. Er deutet an, dass es in Gottes Natur liegt zu vergeben. Wenn er nicht vergibt, dann ist etwas mit seiner Göttlichkeit falsch, weil Vergebung Gottes Naturell entspricht. Aber dies ist genauso falsch wie die erste Annahme; Vergebung ist für die göttliche Essenz nicht notwendig. Vergebung ist Gnade, welche ein unverdientes Geschenk ist. Wir sind so an Sünde gewöhnt, dass wir es andauernd tun. Wir können einen Menschen nicht beschreiben, ohne auch unsere Menschlichkeit als gefallen zu beschreiben, und wir können unmöglich das Leben selbst erhalten, wenn nicht durch Gnade.

Wie sollte Sünde verstanden werden? Ist sie nebensächlich oder wesentlicher Bestandteil unserer Menschlichkeit? Nebensächlich heißt unwesentlich, bezieht sich also nicht auf die Essenz des Wesens; diese Eigenschaft kann existieren oder auch nicht existieren, ohne das eigentliche Objekt zu verändern. Zum Beispiel ist ein Schnauzbart ein nebensächliches Merkmal. Wenn ein Mann seinen Schnauzer abrasiert, hört er nicht auf, als Mann zu existieren.

Andererseits sind wesentliche Merkmale solche, die den Kern von etwas ausmachen. Wird dieses Merkmal entfernt, existiert es nicht mehr. Sünde ist kein wesentlicher Bestandteil von Menschlichkeit, es sei denn jemand glaubt, dass Gott die Menschheit sündhaft geschaffen hat. Wenn Sünde wesentlicher Bestandteil von Menschen wäre, dann wäre Jesus entweder sündhaft oder kein Mensch. Also ist Sünde unwesentlich. Adam war ohne Sünde, als er erschaffen wurde, und doch war er Mensch. Jesus ist ohne Sünde und ist doch Mensch. Gläubige werden ohne Sünde sein, wenn sie in den Himmel kommen, und sie werden immer noch Menschen sein.

Sünde ist nicht wesentlich, aber sie ist weder nur tangential noch oberflächlich. Stattdessen bekommen wir in der Bibel ein Bild davon, dass der gesamte Mensch in seinem gefallenen Zustand absolut und völlig von Sünde infiziert ist. Anders gesagt, Sünde ist kein äußerlicher Fleck, sondern etwas, das tief in unser Innerstes eindringt.