Fünf falsche Theorien über Jesus

Artikel von Kyle Dillon
16. November 2015 — 11 Min Lesedauer

Wer war Jesus wirklich?

In den letzten Wochen habe ich diese Frage mit meinen Schülern im theologischen Unterricht diskutiert. Obwohl viele meiner Schüler in Gemeinden aufgewachsen sind, bin ich mir sicher, dass ihr Glaube herausgefordert wird, sobald sie für ein Studium an eine Universität gehen. Sie werden von ihren Kommilitonen und Professoren Dinge über den „wahren“ Jesus hören, die widersprüchlich zum Bekenntnis der Kirche zu Christus als dem auferstandenen Sohn Gottes sind.

Ich möchte meine Schüler auf solche Situationen vorbereiten. Ich möchte ihnen klarmachen, dass solche Behauptungen nicht neu sind und dass es christliche Antworten darauf gibt. Abgesehen davon, was viele kritische Wissenschaftler sagen, gibt es eigentlich keinen Widerspruch zwischen dem „historischen“ Jesus und dem „geglaubten“ Jesus. In der Tat kann die Beschäftigung mit der Geschichte Jesu sehr oft den Glauben stärken. Das bedeutet aber auch, dass wir uns auf eine ehrliche Art und Weise mit den Kritikern und ihren Behauptungen auseinandersetzen müssen.

Im Folgenden werde ich kurz fünf populäre alternative Theorien über Jesus vorstellen und abschließend einige allgemeine Richtlinien dafür aufstellen, wie Christen auf sie reagieren können.

1. Jesus, der heidnische Mythos

Auch wenn diese Theorie nur sehr wenig Unterstützung unter Wissenschaftlern und Lehrern hat, ist sie doch gerade auf Internetseiten, die von Atheisten betrieben werden, immer wieder zu finden. Ein Student wird diese Theorie eher von einem Kommilitonen als von seinem Professor hören. Diese Theorie geht davon aus, dass Jesus niemals als echte historische Figur existierte. Man geht davon aus, dass die Geschichten seiner Geburt, seines Lebens, seines Todes und seiner Auferstehung von den ersten Christen aus heidnischen Religionen übernommen wurden, die schon lange vor dem Christentum existierten.

„In der Tat kann die Beschäftigung mit der Geschichte Jesu sehr oft den Glauben stärken.“
 

Die Entstehung dieser Theorie geht zurück auf Wissenschaftler wie David Strauss (1808–1874), der davon ausging, das Neue Testament sei einfach eine Sammlung mythischer Nacherzählungen des Lebens Jesu. Bruno Bauer (1809–1882), ein weiterer Vertreter dieser Theorie, ging sogar davon aus, Jesus habe nie existiert. Bekanntheit erlangte die Christus-Mythos-Theorie im Kontext der religionsgeschichtlichen Schule an der Universität Göttingen, was sich aber während des 20. Jahrhunderts änderte, nachdem mehrere Wissenschaftler sie widerlegten. (Richard Carrier und Robert Price gehören zu der Gruppe, die auch heute noch diese Meinung vertritt, aber selbst nicht-christliche Wissenschaftler wie Bart Ehrman lehnen sie ab.)

Der allgemeine Konsens besteht heutzutage darin, dass die scheinbaren Parallelen zwischen dem Christentum und den heidnischen Religionen entweder gar nicht bestehen, zufällig oder anachronistischer Natur sind. Tatsächlich gibt es keine wirkliche Sicherheit darüber, ob im Israel des 1. Jahrhunderts heidnische Mysterienreligionen existierten. Vieles deutet darauf hin, dass solche Religionen erst nach dem Aufkommen des Christentums bekannt wurden. Es ist viel wahrscheinlicher, dass diese Religionen Elemente des christlichen Glaubens übernahmen.

2. Jesus, der gescheiterte Prophet

Diese Theorie, die unter kritischen Theologen viel bekannter ist, basiert auf einer ganz bestimmten Lesart der apokalyptischen Prophetien Jesu (z. B. Mt 16,28; 24,34), in denen er das Kommen des Reiches Gottes in Verbindung mit großen Himmelszeichen, noch zu Lebzeiten seiner Jünger verheißt. Die Vertreter dieser Theorie argumentieren, da die Welt zu Lebzeiten seiner Jünger nicht untergegangen sei, müsse er sich getäuscht haben und die gesamte christliche Religion beruhe auf einem Irrtum. Darüber hinaus geht eine Vielzahl der Vertreter dieser Annahme davon aus, Jesus habe nie den Anspruch formuliert, göttlich zu sein. Er hätte sich wohl als Prophet und König gesehen, aber nicht als der ewige Sohn Gottes. Das bedeutet, dass wir nur sehr wenig von dem, was uns das Neue Testament über Jesus erzählt, glauben können – es sei denn, es lässt ihn schlecht aussehen. (Diese Herangehensweise ist unter dem „Criterion of Embarrassment“ [dt. „Kriterium der Peinlichkeit“] bekannt geworden. Zu den Stärken und Schwächen dieses Kriteriums siehe das englische Buch Jesus, Criteria, and the Demise of Authenticity).

Die Theorie des gescheiterten Propheten wird meist mit dem Theologen Albert Schweitzer (1875–1965) verbunden. Obwohl Schweitzer zu recht auf den eschatologischen (endzeitlichen) Charakter der Botschaft Jesu hinwies, neigte er dazu, sich die Beweise herauszupicken, indem er einige prophetische Aussagen hervorhob, während er andere ignorierte – wie z. B. Jesu Behauptungen, dass das Reich Gottes eine gegenwärtige Realität ist (Lk 11,20; 17,20–21) oder sein eigenes Eingeständnis der Unwissenheit über den Zeitpunkt seiner Wiederkunft (Mt 24,36). Kritiker, die Schweitzer folgen, nehmen auch fälschlicherweise an, dass die jüdische apokalyptische Sprache des ersten Jahrhunderts (z. B. dass die Sonne verfinstert wird, Sterne vom Himmel fallen usw.) wörtlich gemeint sein muss. Ein Vergleich mit der Pfingstpredigt des Petrus (Apg 2,17–21) zeigt jedoch, dass dies nicht immer der Fall ist. Jesus erwartete wirklich, dass etwas Gravierendes zu Lebzeiten der Jünger passieren würde, aber es musste sich dabei nicht um Ende des Universums handeln. Das Reich Gottes, wie Jesus es verstand, war eine Herausforderung für die Erwartungen Anderer.

3. Jesus, der Moralphilosoph

Während die Theorie des gescheiterten Propheten dahin tendiert, die apokalyptischen Erwartungen Jesu zu übertreiben, zeichnet sich die Moralphilosoph-Theorie dadurch aus, diese komplett zu ignorieren. Hier geht man davon aus, Jesus sei ein Lehrer der Weisheit gewesen, der zeitlose, moralische Wahrheiten verbreitete. Tatsächlich denken viele Menschen, die sich Christen nennen, in dieser Weise über Jesus. Unter Wissenschaftlern wurde dieses Bild noch etwas weiter ausgearbeitet. Jesus wird so an einigen Stellen als „kynischer Philosoph“ gesehen. Der Begriff „kynisch“ beschrieb in der griechisch-römischen Welt nicht einen allgemein pessimistischen und misstrauischen Menschen (wie wir ihn heute üblicherweise verwenden), sondern eher jemanden, der sich weltlicher Güter und sozialer Konventionen entsagte. Kyniker sahen den Materialismus und die Gesellschaft sehr kritisch und weigerten sich oft, sich zu pflegen oder zu baden, und verrichteten sogar Körperfunktionen in der Öffentlichkeit, was ihnen den Spitznamen „Hundemenschen“ einbrachte (die Bedeutung von Kyniker im Griechischen).

Die Theorie, die Jesus als Kyniker sah, wird meist mit den Mitgliedern des Jesus-Seminars in Verbindung gebracht, das vor allem im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts an Bekanntheit erlangte. Einige dieser Wissenschaftler, wie z. B. Burton Mack und John D. Crossan, versuchten Parallelen zwischen Jesus und der kynischen Philosophie aufzuzeigen. Es gibt allerdings zwei gravierende Mängel, wenn man versucht, Jesus als Kyniker zu verstehen. Zunächst gibt es keine historischen Belege dafür, dass die kynische Philosophie zur Zeit Jesu im Raum Galiläa Wurzeln geschlagen haben könnte. Vielmehr gibt es viele Hinweise auf Versuche der Juden, jedem heidnischen Einfluss in Galiläa zu wehren. Außerdem stehen den Parallelen zwischen Jesus und der Philosophie der Kyniker eine viel größere Anzahl an Unterschieden gegenüber. Es gibt deshalb heutzutage nur wenige Wissenschaftler, die diese Theorie vertreten.

4. Jesus, der gewalttätige Revolutionär

Hierbei handelt es sich um eine alte Theorie, die zwar immer wieder vertreten wird, aber nie wirklich viel Anklang gefunden hat. Die Wurzeln dieser Theorie gehen zurück auf den Mann, dem zugesprochen wird, als Erster die Frage nach dem historischen Jesus gestellt zu haben. Es handelt sich dabei um den Deisten Hermann Reimarus (1694–1768). Reimarus ging davon aus, Jesus habe niemals geplant, eine neue Religion zu gründen oder für die Sünde der Menschheit zu sterben. Vielmehr sei der Kern seiner Botschaft der Aufruf zur nationalen Befreiung von der römischen Unterdrückung. Dieser Aufruf sei gescheitert und habe zur Kreuzigung Jesu geführt. Diese Theorie wurde im 20. Jahrhundert von S. G. F. Brandon (1907–1971) aufgenommen, der die Meinung vertrat, Jesus sei von der Bewegung der Zeloten beeinflusst gewesen. Und mit Reza Aslans 2013 erschienenem Bestseller Zealot: The Life and Times of Jesus of Nazareth (Rezension) ist sie erneut in die Schlagzeilen geraten.

„Jesus griff nicht die Römer an, sondern die geistlichen Mächte, die die Welt in Gefangenschaft hielten.“
 

Wie auch bei anderen Theorien über Jesus, besteht diese darin, dass man bestimmte Elemente herauspickt und überbetont. In diesem Fall wird der sozio-politische Aspekt der Verkündigung des Königreichs überbetont, während die geistlichen Aspekte übergangen werden. Der Neutestamentler Darrell Block weist darauf hin, dass Jesus das Kommen des Reiches nicht durch die Ankunft einer Armee einläutete, sondern durch das Austreiben von Dämonen und die Heilung von Kranken (Lk 11,20). Jesus griff nicht die Römer an, sondern die geistlichen Mächte, die die Welt in Gefangenschaft hielten. In der Tat gilt Jesu strengste Kritik nicht den Römern, sondern den jüdischen Vorstehern, die erwarteten, Gott würde sie wegen ihres nationalen Eifers und ihres rigorosen Festhaltens am Gesetz befreien (Mt 23,1–36). Es ist außerdem wichtig, sich vor Augen zu halten, dass einer der Jünger Jesu von Beruf Zöllner war, was man wohl kaum innerhalb einer anti-römischen Revolutionsbewegung tolerieren würde.

5. Jesus, der geschichtslose Existentialist

Zuletzt sind noch die Wissenschaftler zu nennen, die die Frage nach dem historischen Jesus nicht mehr stellen. Was Jesus wirklich gesagt und getan hat, ist für sie nicht nur schwer festzustellen, sondern auch unwichtig. Sie behaupten, der Sinn des Neuen Testaments bestehe darin, uns in ein persönliches Gespräch mit Gott zu führen und nicht darin, uns geschichtliche Fakten zu übermitteln.

„Wer entscheidet, was das Zentrum des Evangeliums ist, wenn nicht Jesus selbst diese Entscheidung trifft?“
 

Diese Theorie geht auf den Theologen Rudolf Bultmann (1884–1976) zurück, der die „Entmythologisierung“ der Heiligen Schrift forderte. Dabei ging es darum, all die bildhaften und irrelevanten Details der Evangelien zu überwinden und zu den, wie er behauptet, zentralen Wahrheiten des Christentums, dem Kerygma (griechisch für „Verkündigung“), zu gelangen. Das Kerygma wurde dabei existentialistisch definiert und betont eine individuelle Erfahrung mit Gott und dem persönlichen Ruf zur Entscheidung. Wie andere Theologen vor ihm, akzeptierte auch Bultmann die Unterscheidung zwischen dem historischen Jesus und dem geglaubten Christus. Aber dort, wo andere die Geschichte gebrauchten, um den Glauben zu entkräften, versuchte Bultmann den Glauben komplett von der Geschichte zu trennen. Man könnte sagen, dass er das Neue Testament in etwa so sah wie eine Kornähre: die Geschichte war die Schale, das Kerygma der Kern.

Das Problem mit diesem Ansatz ist natürlich, dass er völlig subjektivistisch ist. Wenn wir den Evangelien darin nicht trauen können, was sie über Jesu Worte und Taten erzählen, können wir ihn einfach so definieren, wie wir es uns wünschen. Wer entscheidet, was das Zentrum des Evangeliums ist, wenn nicht Jesus selbst diese Entscheidung trifft?

Der verständliche, gekreuzigte und folgenreiche Jesus

Christliche Theologen haben verschiedene Wege gefunden, um auf diese Theorien zu antworten (siehe z. B. How God Became Jesus [Rezension] und The Challenge of Jesus). Wenn wir Jesus in seinem historischen Kontext und im Lichte der Fakten betrachten, die selbst nicht-christliche Wissenschaftler akzeptieren, können wir gewisse Schlüsse darüber ziehen, wie er gewesen sein muss. Hier sind drei Tests, die jedes Porträt von Jesus bestehen muss, um als historisch plausibel zu gelten (in Anlehnung an N. T. Wrights Jesus and the Victory of God, S. 131–133). Der echte Jesus muss gewesen sein:

  • Verständlich. Jesus war ein Jude des ersten Jahrhunderts in Galiläa und so sollten wir auch davon ausgehen, dass seine Worte und Taten in den historischen und geographischen Kontext passen. Seine Botschaft muss für die Juden dieser Zeit verständlich und im gewissen Sinne plausibel gewesen sein, damit sie ihm überhaupt zuhören. Deshalb ist es auch so schwer, Jesus als einen heidnischen Mythos oder einen kynischen Philosophen zu sehen. Diese Theorien machen in dem jüdischen Kontext Jesu einfach keinen Sinn.
  • Gekreuzigt. Jesus muss auch Dinge gesagt und getan haben, die dafür ausreichten, dass ihn die jüdischen Vorsteher töten wollten. Wenn er sich nur als moralischer Lehrer ausgegeben oder lediglich gegen die römische Unterdrückung gewettert hätte, fällt es schwer nachzuvollziehen, warum gerade die Juden seine Kreuzigung forderten. Jesus musste etwas gesagt oder getan haben, das für die Juden eine Gotteslästerung darstellte.
  • Folgenreich. Jesus hinterließ einen so großen Einfluss auf die ersten Christen, dass sie willig waren, für das Zeugnis seiner Auferstehung zu leiden und zu sterben. Ein gescheiterter Prophet oder Revolutionär könnte natürlich auch Eindruck hinterlassen, aber was war passiert, dass plötzlich monotheistische Juden diesen Mann nach seinem Tod anbeteten?

Obwohl es wirklich keinen Mangel an Theorien über Jesus gibt, brauchen wir uns als Christen nicht vor ihnen zu fürchten. Unsere Auseinandersetzung mit diesen Kritikern kann sogar unseren Glauben stärken und unsere Beziehung zu unserem HERRN festigen, der tatsächlich auf dieser Erde wandelte und lebte.