Mit Spannung leben

Artikel von Will Anderson
9. Januar 2023 — 6 Min Lesedauer

Zurzeit leite ich in meiner Gemeinde eine Diskussionsgruppe für Männer, die mit sexueller Sünde und Pornosucht kämpfen. Letzte Woche stellte jemand aus der Gruppe folgende heikle Frage: „Ist es realistisch zu erwarten, dass wir jemals völlig frei von Lust und Verlangen sein werden?“ In seiner Frage schwingt eine Spannung mit, die wir alle spüren: Die Spannung zwischen Gottes Macht, uns zu verändern, und unserem hartnäckigen Widerwillen, uns verändern zu lassen. Heiligung und Versuchung schließen sich nicht gegenseitig aus – es sind zwei Wahrheiten, die uns ausharren lassen und demütig machen.

„Heiligung und Versuchung schließen sich nicht gegenseitig aus – es sind zwei Wahrheiten, die uns ausharren lassen und demütig machen.“
 

Das Christentum ist voller Spannungen wie dieser – Wahrheiten, die sich gleichzeitig anziehen und abstoßen. Zum Beispiel sind wir dazu aufgerufen

  • uns zu unserer eigenen Sünde zu bekennen (vgl. Mt 7,1–5; 1Joh 1,8–9) und die Sünde anderer anzusprechen (vgl. Mt 18,15–20; Gal 2,11–14).
  • mit anderen in schweren Situationen mitzuleiden (vgl. Röm 12,15) und in allen Umständen dankbar zu sein (vgl. 1Thess 5,18).
  • unsere finanzielle Zukunft weise zu planen (vgl. Spr 30,25) und finanzielle Risiken für den Dienst an Gottes Werk einzugehen (vgl. Apg 2,45; 1Joh 3,16–18).
  • unserer leiblichen Familie zu dienen (vgl. Mt 15,4–9; Kol 3,18–21) und unserer Gemeinde zu dienen (vgl. Joh 13,34; Gal 5,13).
  • materielle Dinge als Gaben Gottes zu genießen (vgl. Pred 9,7) und uns vor trügerischem Reichtum und Geldgier zu hüten (vgl. Mt 13,22; 1Tim 6,10).

Spannung kann richtig sein, auch wenn sie sich falsch anfühlt

Ein Leben unter Spannung ist unangenehm. Das Wort selbst ist für uns negativ behaftet. Ein angespanntes Gespräch ist eins, aus dem man schnell heraus möchte. Spannungen mit jemandem zu haben bedeutet, dass in der Beziehung etwas nicht in Ordnung ist. Aber Spannung ist nicht immer ein Warnsignal dafür, dass etwas schiefläuft. Sie kann auch nützlich und sogar schön sein. Stromleitungen müssen stark gespannt sein, um sicher über Fußgängern zu schweben. Passend gespannte Cellosaiten erzeugen atemberaubende Musik. Und je mehr wir unter geistlicher Spannung stehen, desto mehr kann uns Gott gebrauchen. Hier sind vier Gründe, warum Christen sich darauf einlassen sollten:

1. Spannung macht uns widerstandsfähig

Gleichmäßige Spannung macht stark – diese Maxime entdeckte ich auf der weiterführenden Schule, als ich lernte, ein neues Schlagzeugfell zu stimmen. Wenn man die Zugstangen sternförmig (also immer auf den gegenüberliegenden Seiten) anzieht, kann man die Trommel voll belasten, ohne sie zu beschädigen. Wenn wir bereit sind, unser Leben auf die volle Wahrheit Gottes auszurichten, brechen die Schicksalsschläge des Lebens unseren Glauben nicht, sondern sie offenbaren ihn. Denk an die Frau, die ernsthaft für die Heilung ihres Mannes betet und Gott auch nach seinem Tod noch für gut erklärt. Die Spannung zwischen ihrem Glauben an Gottes Macht und ihrer totalen Hingabe an Gottes Plan ist eine Kombination, die sie außerordentlich stark macht. Spannung verhilft uns, schwere Schläge des Lebens in einen Rhythmus zu verwandeln, der selbst Zyniker mit den Füßen wippen lässt.

2. Spannung lässt uns besonnener werden

Wir sind alle eigennützig und neigen dazu, manche Aspekte des Gehorsams zu bevorzugen und andere zu vernachlässigen. Es ist einfacher, einseitig zu handeln. Ohne Spannung, die unsere losen Enden festzurrt, machen wir, was unseren Vorlieben entspricht, unser Gewissen beruhigt oder in unserem Freundeskreis auf Zustimmung trifft. Übrig bleiben Halbwahrheiten und konträre Meinungen, die wir annehmen ohne zu wissen, dass beide Seiten theologisch leer sind:

  • Alle armen Menschen sind a) faul oder b) Opfer eines ausbeuterischen Systems.
  • Medien mit christlichem Stempel sind a) es immer wert, konsumiert zu werden, unabhängig von Quelle und Qualität oder b) seicht und besserwisserisch.
  • Schöne Dinge zu kaufen ist a) Gottes Wille, solange man regelmäßig finanzielle Gaben gibt oder b) immer egoistischer Materialismus.

Wenn uns die Spannung in unserem Leben bewusst ist, gehen wir auch bedachter mit anderen um. Wir können jeden armen Menschen mit Respekt behandeln (ohne Hals über Kopf alles zu spenden, was wir besitzen), gute christliche Filme genießen und schlechte ablehnen und unter Gebet in diesem Monat eine große Anschaffung tätigen, aber im nächsten Monat keine Ausgaben tätigen. Spannung hilft uns, besonnener zu leben.

3. Spannung stärkt unser Vertrauen auf Gott

Spannung macht uns den großen Unterschied zwischen unserer menschlichen Begrenztheit und Gottes unendlichem Wissen deutlich. Kritiker des Christentums betonen oft dessen angebliche „intellektuelle Inkonsistenz“. Sie vergleichen den christlichen Glauben mit einem Puzzle voll inkompatibler Teile, das Christen naiv und mit Gewalt zusammensetzen, um dann so zu tun, als ob das Bild Sinn ergäbe. Diese Kritiker übersehen, dass Lücken und Geheimnisse keine Bedrohung für das Christentum darstellen. Sie sind Teil unserer Theologie, wie John Frame aufschlussreich darlegt:

„Obwohl ich 50 Jahre lang Gründe für den Glauben dargelegt habe, hatte ich immer ein tiefes Gefühl für die ,Unbegreiflichkeit Gottes’. Ganz gleich, wie klar unsere Konzepte und überzeugend unsere Argumente sind, Gott ist letztlich ein transzendentes Wesen, das über uns steht und das wir weder mit körperlicher Kraft noch mit geistigem Geschick beherrschen können ... Ganz gleich, wie viel wir wissen, es wird immer etwas geben, das über uns hinausgeht. Wir können Gott nicht so kennen, wie er sich selbst kennt. Ebenso wenig können wir irgendetwas in der Schöpfung so kennen, wie Gott es kennt. Wir können nicht einmal uns selbst so kennen, wie Gott uns kennt. Unser Wissen ist ausreichend, um Gott so zu dienen, wie er es will, und unsere Unwissenheit ist niemals eine Entschuldigung für Ungehorsam. Aber unser Wissenstank ist niemals voll.“
„Spannung erinnert uns daran, wie viel wir noch lernen müssen. Aber sie ist auch eine Einladung, dem Gott zu vertrauen, den wir schon kennengelernt haben.“
 

Jedes Mal wenn wir uns schwer damit tun, biblische Gebote auszubalancieren oder biblische Konzepte zu verstehen, ist das eine Gelegenheit zu sagen: „Herr, ich weiß nicht, wie ich mich in dieser Situation verhalten soll. Hilf mir, lehre mich, stärke mich!“

Eltern kennen das Spannungsfeld zwischen dem Schutz und dem Loslassen ihrer Kinder. Theologen ringen damit, wie Gottes Souveränität und die menschliche Verantwortung zusammenhängen. Spannung erinnert uns daran, wie viel wir noch lernen müssen. Aber sie ist auch eine Einladung, dem Gott zu vertrauen, den wir schon kennengelernt haben.

4. Spannung richtet uns auf den Himmel aus

Unter Spannung zu stehen ist ermüdend. Gläubige, die sich auf das Leben unter Spannung einlassen, bekommen dies ständig zu spüren. Aus dieser zermürbenden Position zwischen zwei Polen sehnen wir uns nach einem besseren Land, in dem es keine Trauer, kein Geschrei, keinen Tod und keinen Schmerz gibt (vgl. Hebr 11,16; Offb 21,4). Die wunderbare Nachricht ist: Es kommt!

Im Moment schwanken wir zwischen „jetzt“ und „noch nicht“ – eine Spannung, die sich manchmal anfühlt, als würde sie uns zerreißen. Tage, die uns verwirren und erschöpfen, erinnern uns daran, dass diese Welt (trotz ihrer Versprechungen) die Spannung in uns niemals lösen kann. Während wir sehnsüchtig auf den Himmel und die endgültige Lösung warten, die er uns bietet, lasst uns lernen, uns am gespannten Seil der biblischen Weisheit festzuhalten, deren breites Fangnetz uns schützt. Jon Foreman bringt unsere angespannte Situation gut zum Ausdruck: „Ich hasse Spannung. Aber der einzige, der sie lösen wird ... ist der Tod. Also lasst uns auf den gespannten Saiten unseres Lebens Musik machen, solange wir sie haben.“