Zehn Gründe, die Bibel in den Originalsprachen zu lesen

Artikel von Peter J. Williams
6. Februar 2023 — 7 Min Lesedauer

Jeder, der die Bibel in ihren Originalsprachen lesen kann, sollte das tun. Das bedeutet natürlich nicht, dass jeder Pastor ein Sprachexperte werden muss oder ein schlechtes Gewissen haben sollte, weil er seinem ohnehin schon vollen Terminkalender eigentlich noch eine weitere Aufgabe hinzufügen müsste. Vielmehr meine ich damit, dass Pastoren im Rahmen der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit und Möglichkeiten Bibeltexte in den Originalsprachen studieren sollten. Dafür gibt es meines Erachtens folgende Gründe:

1. Weil du Gott liebst

Jemand kann sich für die Originalsprachen der Bibel interessieren, aber Gott nicht lieben. Ein anderer mag Gott lieben, ist jedoch völlig untalentiert, was das Erlernen von Fremdsprachen angeht. Ein Dritter liebt Gott, doch seine Zeit ist so sehr mit anderen Aufgaben angefüllt, zu denen Gott ihn beruft, dass er die ihm zur Verfügung stehende Zeit nicht in das Erlernen der biblischen Sprachen investieren kann. Allerdings kann man Gott nicht lieben, ohne sich für das zu interessieren, was er sagt, denn wir leben „von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes hervorgeht“ (Mt 4,4). Gott wirklich zu lieben, bedeutet also, von jedem einzelnen seiner Worte fasziniert zu sein. Dabei handelt es sich um eine Faszination, die man nicht von den Originalsprachen trennen kann.

2. Weil wir dadurch mit gutem Beispiel vorangehen

Die meisten Menschen in deiner Herde sind nicht dazu berufen, Sprachwissenschaftler zu werden, aber sie sind alle dazu berufen, Gottes Wort in ihren Herzen zu bewahren. Ebenso wie du sind sie dazu berufen, sich mit einer solchen Leidenschaft dem Wort Gottes zu widmen, wie es in Matthäus 4,4 steht.

Wenn andere Menschen sehen, dass du dein persönliches Bibelstudium so ernst nimmst, dass du die Mühe nicht scheust, dich in die Bibeltexte in ihren Originalsprachen zu vertiefen, wird das auch sie zum Bibelstudium motivieren. Einige fangen dann vielleicht sogar selbst an, die Bibel in den Originalsprachen zu lesen.

3. Weil du über die Tiefe der Schrift staunen wirst

Schon wenn du die Bibel auf Deutsch liest, staunst du darüber, wie tief ihre Lehre und die in ihr enthaltenen gedanklichen Zusammenhänge sind. Die Schrift ist jedoch noch viel tiefer, als du es dir vorstellen kannst. Ihre gedankliche Tiefe ist so groß, dass niemand sie im Laufe seines Lebens ausschöpfen kann. In dem Maß, in dem du die Tiefe der Heiligen Schrift immer mehr zu schätzen lernst, wird auch die Wertschätzung deiner Gemeinde dafür wachsen.

4. Weil es noch nie so einfach war

Für den Großteil der Gläubigen in der Kirchengeschichte wäre das Erlernen biblischer Sprachen aus wirtschaftlichen, kulturellen oder politischen Gründen unmöglich gewesen. Wer es schaffte, sie zu erlernen, musste dafür oft beschwerliche Reisen auf sich nehmen. Heutzutage gibt es Programme und Apps, die einen auf allen wesentlichen Stufen des Spracherwerbs unterstützen. Man muss kein Sprachexperte sein, um diese Anwendungen zu nutzen. Zahlreiche Gläubige früherer Jahrhunderte hätten gerne unsere heutigen Möglichkeiten gehabt, biblische Sprachen zu lernen, und viele Christen in Entwicklungsländern wünschen sich auch heute noch die Möglichkeiten, die uns in den westlichen Industrieländern zur Verfügung stehen. Warum solltest du diese Hilfsmittel nicht verwenden, wenn du in einem Land lebst, wo sie verfügbar sind?

5. Weil es dir hilft, mit Überzeugung zu predigen

Wenn du dich direkt an die Originale hältst, bist du nicht mehr auf Übersetzungen angewiesen und kommst unmittelbar mit dem Wortlaut in Berührung, den Gott tatsächlich geäußert hat. Das kann dir hoffentlich die Gewissheit vermitteln, dass unsere Übersetzungen im Allgemeinen gut sind und dass das, was du lehrst, nicht deine persönliche Meinung ist oder einem Fehler in der Übersetzung entspringt, sondern das korrekte Verständnis des Wortlauts ist, den Gott eingegeben hat. So kannst du der Heiligen Schrift größeres Vertrauen entgegenbringen und musst dir nicht ständig Gedanken machen, ob deine Übersetzung vielleicht falsch ist oder du den Textabschnitt möglicherweise missverstanden hast.

6. Weil es dir helfen wird, Einzelheiten besser zu erkennen

Unsere deutschen Übersetzungen sind wie ein guter Fernseher, auf dem man tolle Sendungen ansehen und auf dessen Bildschirm man Einzelheiten gut erkennen kann. Die Originalsprachen gleichen jedoch einem Bildschirm mit einer noch höheren Auflösung, auf dem man alles entsprechend noch schärfer sehen kann.

Grammatik und Vokabular im Original zu betrachten ist wie auf ein Bild mit einer größeren Pixelzahl zu schauen. Wenn du die Wahl hättest, welche Art von Bildschirm würdest du vorziehen?

7. Weil du dadurch Themen und Zusammenhänge in der Bibel verfolgen kannst

In der Bibel gibt es viele Themen, die sich wie ein roter Faden durch ein Buch oder über mehrere Bücher hinweg ziehen. Oft lassen sich diese Themen an einzelnen Wörtern festmachen. Benachbarte Psalmen und Sprüche sind zudem häufig durch Schlüsselwörter miteinander verbunden. Die Texte der Bibel sind viel öfter durch solche Wörter und Formulierungen verknüpft als moderne Texte. Wenn man mit einer Übersetzung arbeitet, besteht die Gefahr, dass man diese Zusammenhänge übersieht. Wenn man umgekehrt in einer deutschen Bibel sprachliche Zusammenhänge entdeckt, kann man sich nicht sicher sein, ob sie nicht erst durch die Übersetzung entstanden sind.

8. Weil du so falschen Vorstellungen entgegenwirken kannst

Als Pastor trifft man oft auf Menschen, die sich mit Fehlinformationen und unzutreffenden Konzepten befasst haben. Manche dieser falschen Vorstellungen lassen sich normalerweise darauf zurückführen, dass sich die Betreffenden auf ein fragwürdiges Verständnis der Originalsprachen berufen. Teilweise wird in solchen Zusammenhängen auch Vertuschung oder Verschwörung unterstellt. Wenn du die Bibel in ihren Originalsprachen liest, kann dir das helfen, irrige Vorstellungen zu widerlegen.

9. Weil es deine Predigtvorbereitung erleichtern wird

Bibelkommentare liefern oft ausführliche Erklärungen zu Einzelheiten, die für jeden, der die Bibel in den Originalsprachen liest, offensichtlich sind. Wenn du den Bibeltext in der ursprünglichen Sprache liest, kannst du diese Kommentare überspringen und dich direkt auf tiefgründigere Kommentare und Erörterungen konzentrieren. Du brauchst dann weniger Kommentare zu lesen als sonst und kannst trotzdem mehr Erkenntnisse gewinnen. Außerdem kannst du auf viele der besten Fachkommentare zugreifen, die ohne Kenntnisse der biblischen Sprachen nur schwer zu verwenden wären. Manchmal sind die wertvollsten Perlen gerade in diesen Kommentaren versteckt.

10. Weil du nicht weißt, was du nicht weißt

Wenn man die Heilige Schrift nicht in der Originalsprache liest, entgehen einem möglicherweise wichtige Aspekte und man merkt noch nicht einmal, dass sie einem entgehen. Wusstest du beispielsweise, dass du dich in einer guten Tradition mit der Bibel befindest, wenn du in deinen Predigten Alliterationen (ein literarisches Stilmittel, bei dem Wörter dieselben Anfangslaute haben, Anm. d. Übers.) verwendest? In den deutschen Übersetzungen kommt das nicht zum Ausdruck, doch Jesus begann die ersten vier Seligpreisungen in Matthäus 5,3–6 tatsächlich mit demselben Buchstaben. Es gibt Tausende von Sachverhalten, die im Original eigentlich klar sind, die aber jemand, der die Texte in einer Übersetzung liest, schlichtweg nicht erkennen kann.

Ist Halbwissen nicht eine gefährliche Sache?

Einige Pastoren schrecken vielleicht davor zurück, Texte in den biblischen Sprachen zu verwenden, weil sie wissen, dass sie keine Chance haben, darin jemals Experten zu werden. Sie meinen, sie sollten sich daher lieber auf das konzentrieren, was sie besser können. Aber für die Originalsprachen der Bibel gilt das Gleiche wie für die Zutatenlisten und Nährwerttabellen von Lebensmitteln: Sie betreffen uns alle.

Dass die meisten von uns nie professionelle Köche werden, hat das allgemeine Interesse am Nährstoffgehalt von Lebensmitteln nicht gebremst. Warum also sollte die Tatsache, dass die meisten von uns keine Bibelgelehrten werden, verhindern, dass wir uns zunehmend für einzelne Details der biblischen Sprachen interessieren?

„Halbwissen ist eine gefährliche Sache“, sagte Alexander Pope. Das stimmt – vor allem aber dann, wenn man glaubt, viel zu wissen, und auf dem Hintergrund dieses vermeintlichen Wissens neue Ideen entwickelt oder ungeprüft übernimmt. Wenn die Heilige Schrift allerdings wie ein Lebensmittel ist, können wir nicht alles den Fachwissenschaftlern überlassen. So wie Eltern ab und an ein Zutatenverzeichnis studieren müssen, um zu entscheiden, was sie ihren Kindern zu essen geben, so können auch Pastoren nicht auf die biblischen Sprachen verzichten, wenn es darum geht zu entscheiden, was sie ihrer Herde zu essen geben.

Es geht nicht um Expertenwissen. Es geht um den Auftrag.