Jordan Peterson und die Nützlichkeit Gottes
Vor Kurzem war ich (eher spontan) beim letzten Abend von Jordan Petersons Australien-Tournee 2022 dabei. Im Lauf der Jahre habe ich mir das eine oder andere Podcast-Interview mit Peterson angehört und ein paar Artikel gelesen, die sich mit seinen Gedanken befassten. Aber als eine Verwandte mir ein übrig gebliebenes Ticket anbot, musste ich ihr gestehen, dass mein Wissen über diesen Mann und seine Arbeit wirklich sehr begrenzt ist.
In gewisser Hinsicht könnte meine mangelnde Vertrautheit mit Petersons Person und Gedankengut bedeuten, dass ich für die Abfassung dieses speziellen Artikels nicht gut geeignet bin. Sicher, ich habe bei seinem Vortrag genau aufgepasst und mir viele Notizen gemacht. Trotzdem war es nur ein Vortrag. Andererseits könnte meine mangelnde Vertrautheit aber auch bedeuten, dass ich für das Verfassen dieses speziellen Artikels bestens geeignet bin – denn ich bin weder ein engagierter Peterson-Apologet noch ein eifriger Peterson-Kritiker. Ich bin einfach nur ein Christ, der ihm bei einem Vortrag zugehört und sich darüber Gedanken gemacht hat. Und einige davon möchte ich gerne teilen.
Zunächst einmal möchte ich herausstellen, dass ich von Petersons Auftritt ziemlich beeindruckt war. Er sprach ohne Notizen über eine Stunde lang und hatte während der gesamten Zeit 9.000 Menschen unter Kontrolle. Es ist fast unmöglich zu glauben, dass er es schaffte, uns alle durch die vielen Wendungen seines Vortrags mitzunehmen. Aber er schaffte es – und es war eine besondere Sache, daran teilzuhaben.
Ebenfalls gut gefiel mir, dass Peterson ernste Themen ernsthaft behandelt. Er sprach ausgiebig über die Bedeutung von Beziehungen und Gemeinschaft für den Einzelnen; er betonte die Zentralität und Vitalität der Liebe für das Menschsein; und er ist eindeutig fasziniert von der Frage, was es für Menschen heißt, in ihrer Menschlichkeit zu wachsen. Peterson ist ein Mann, für den das menschliche Streben und Bemühen im Mittelpunkt steht.
Die menschliche Geschichte
Aber genau hier liegt das Problem: Für Peterson, das wurde mir klar, ist die menschliche Geschichte tatsächlich die menschliche Geschichte. Genauer gesagt ist es die Geschichte der „Optimierung“ eines jeden einzelnen Menschen in diesem Leben. Peterson argumentiert, dass die grundlegende menschliche Aufgabe darin besteht, unser Leben – unser eigenes Selbst – konsequent nach oben hin auszurichten. Das Ziel dieser Aufwärtsbewegung ist jedoch nicht Gott, sondern Selbstoptimierung und -verbesserung. Peterson unterstrich das visuell, indem er seinen Arm diagonal über seinen Körper legte, um eine bergauf gerichtete Reise darzustellen. Jeder von uns soll die Verantwortung dafür übernehmen mehr zu werden, als er derzeit ist. Die Aufgabe des Menschen besteht darin, sich sein Leben lang zu optimieren.
„Jeder von uns soll die Verantwortung dafür übernehmen mehr zu werden, als er derzeit ist. Die Aufgabe des Menschen besteht laut Peterson darin, sich sein Leben lang zu optimieren.“
Das kann jedoch sehr, sehr schwierig sein. Die Welt kann ein brutaler und schmerzhafter Ort sein. Sie verleitet uns eher dazu nachzugeben und den Niedergang hinzunehmen, anstatt uns für Verbesserung einzusetzen. Was, so fragte sich Peterson, bringt uns durch diese „Zeiten der Herausforderung, in denen wir an die Grenzen unserer Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit stoßen“?
Seine Antwort? Eine Geschichte. Aber nicht irgendeine Geschichte. Was wir brauchen, ist die Geschichte (oder auch das Muster bzw. den Archetyp), die Verbesserung inmitten von Komplexität und Leid ermöglicht. Die grundlegende Frage, die wir uns stellen müssen, lautet also: „Was ist die richtige oder beste Geschichte?“
An dieser Stelle begann sich Petersons Vortrag mit dem Inhalt seines nächsten Buches zu überschneiden – einem Buch, das sich mit dem „spirituellen und theologischen Bestreben“ der Menschheit beschäftigt. Die große Schatzsuche der Religion, so Peterson, war immer schon die nach der besten Geschichte. In seinen eigenen Worten: „Das der menschlichen Optimierung zugrundeliegende Muster ist die fundamentale Aufgabe des religiösen Unterfangens.“ Alle Religionen, alle religiösen Texte, alle religiösen Lehrer und alle religiösen Praktiken haben sich schon immer mit der aufwärts führenden Reise der Selbstverbesserung befasst. Das Ziel von Religion besteht jedoch nicht nur darin, der Menschheit eine Geschichte zu vermitteln, die ein Muster für Optimierung aufzeigt, sondern auch die notwendigen Mittel bereitzustellen, damit wir dieses Potenzial ausschöpfen können.
Das veranlasste Peterson dazu, von der Bibel als einer Meta-Geschichte zu sprechen, die sich auf eine ganz bestimmte Art und Weise zusammensetzt, um so ihr spezifisches Narrativ zu vermitteln. Die biblische Erzählung, die Peterson präsentierte, war mir jedoch im Großen und Ganzen völlig fremd. Ich möchte das anhand eines Beispiels aus dem Vortrag erklären – nämlich der biblischen Geschichte von Abraham.
Das Abenteuer Abrahams
Für Christen offenbart die Erzählung von Abraham Gottes Bundesliebe zur gefallenen Menschheit (vgl. 1Mose 12,1–3; 15,1–6). Es ist die Geschichte von Gottes proaktiver Zusage, Abrahams Nachkommen zu einer großen Nation zu machen – einem Volk, das ihm gehört – und durch sie die ganze Erde zu segnen. Als Christen wissen wir also, dass nicht Abraham im Mittelpunkt der Geschichte steht; vielmehr ist es eine Geschichte über Gott. Es geht um seine göttlichen Pläne und Absichten. Es geht darum, was er in dieser Welt und für diese Welt tun wollte. Den Höhepunkt dessen sehen wir in der Person von Jesus Christus (vgl. Röm 4).
„Die biblische Erzählung, die Peterson präsentierte, war mir jedoch im Großen und Ganzen völlig fremd.“
Peterson hingegen liest die Geschichte von Abraham als die Geschichte eines Mannes, der sich „auf ein Abenteuer“ einlässt, um sich selbst zu optimieren. Es ist die Geschichte eines Mannes, der alles hatte, was er für ein bequemes und zufriedenes Leben brauchte. Das aber bedeutete, dass er nicht alles hatte, was er brauchte; denn was Abraham wirklich brauchte, war nicht dort zu bleiben, wo er war. Abraham musste sich auf die Reise nach oben begeben. Nach Peterson ist dies also eine Geschichte der menschlichen Optimierung durch Abenteuer. Wir haben es mit einem Archetypen zu tun, der von der Notwendigkeit spricht, das Bekannte und Bequeme zu verlassen, um mehr zu werden, als man derzeit ist. Welchen Platz nimmt Gott in dieser Geschichte ein? Er war ganz einfach das notwendige Werkzeug, durch das Abraham den Ruf des Abenteuers erhielt.
Ein anderes Beispiel ist Petersons Verweis auf das Schätzesammeln im Himmel und nicht auf der Erde (vgl. Mt 6,19–21). Als Christen lesen wir diese Passage im Kontext der Bergpredigt – der umfangreichen Lehre Jesu über das Leben im Reich Gottes hier auf der Erde. Wir verstehen Jesus so, dass er uns dazu auffordert, uns in das kommende Reich Gottes zu investieren. Unser Schatz und unsere Herzen gehören zu Jesus, der schon jetzt über dieses himmlische Reich herrscht.
Für Peterson dagegen ist die Ermahnung Jesu eine „Abstraktion dessen, wo deine Basis ist ... [W]as oder wen du in den Leiden und im Unglück des Lebens an deiner Seite haben wirst“.
In Petersons Auslegung gibt es keine Ausrichtung auf das Reich Gottes. Vielmehr geben uns die Worte Jesu einfach den notwendigen Plan, um in die Art von „Schätzen“ zu investieren, die uns die besten Chancen auf eine Optimierung in diesem Leben geben.
Für Peterson ist die Bibel eine „Manifestation des höchsten transzendenten Musters“ – der notwendige Rahmen für die menschliche Optimierung. Liebe ist dafür absolut unerlässlich, aber nicht, weil Gott Liebe ist und uns nach seinem Bild geschaffen hat. Vielmehr ist es so, dass wir ohne Liebe keine Chance hätten, uns erfolgreich zu optimieren.
„Für Peterson ist Liebe letztlich eigennützig. Wir lieben unsere Nächsten nicht um ihrer selbst willen. Wir lieben sie für uns selbst.“
Auf ähnliche Weise hält Peterson die Optimierung anderer Menschen für wesentlich. Jedoch nicht deshalb, weil uns ihre Optimierung wirklich genauso wichtig ist wie unsere eigene; vielmehr geht es darum, dass sie es merken, wenn wir nicht in ihre Optimierung investieren. Dies wiederum mindert ihr Interesse daran, sich mit uns abzugeben, was dann unsere Optimierung gefährdet. Für Peterson ist Liebe letztlich eigennützig. Wir lieben unsere Nächsten nicht um ihrer selbst willen. Wir lieben sie für uns selbst.
Petersons Haltung Gott gegenüber ist ähnlich pragmatisch. Gott ist der (notwendige) Protagonist, der in die Geschichte hineingeschrieben wird, um das Ziel der menschlichen Optimierung zu strukturieren und voranzutreiben. Gott ist das Medium, durch das wir dazu aufgerufen werden, uns nach oben ins Unbekannte aufzumachen oder in die „Schätze“ zu investieren, die unserer Optimierung am meisten nützen. Gott ist das Konstrukt, das notwendig ist, um die Erschaffung Evas als „nützliche Gegenspielerin“ zu erklären, die Adam auf Trab hält und ihn so nach mehr streben lässt. Gott ist das Mittel, mit dem wir einen Blick auf das Gelobte Land werfen können (das metaphorische Ziel unserer Reise nach oben).
Diese Gottheit entspricht nicht dem heiligen, gerechten, liebenden und persönlichen Wesen der Heiligen Schrift, dessen tatsächliche Existenz für die Wahrhaftigkeit der Geschichte, die es sowohl in der Heiligen Schrift als auch in der menschlichen Geschichte erzählt hat, von grundlegender Bedeutung ist.
„Und was da vermittelt wurde, war ein mir fremdes biblisches Narrativ, ein mir fremdes Bild des Menschseins und ein mir fremder Gott.“
Ich bin mir bewusst, dass viele Christen Aspekte von Petersons umfassenderem Werk wichtig und aufschlussreich finden – und vielleicht tun sie das zu Recht. Ich bin nicht in der Lage, das zu beurteilen. Was ich aber beurteilen kann, ist das, was ich in dieser einen Vorlesung, an diesem einen Abend von ihm gehört habe. Und was da vermittelt wurde, war ein mir fremdes biblisches Narrativ, ein mir fremdes Bild des Menschseins und ein mir fremder Gott.
Anders als Peterson behauptet, handelt es sich bei der Geschichte der Bibel nicht um philosophisch-abstrakte Metaphorik – es geht um reale Menschen in Raum und Zeit. Es geht letztlich nicht um die irdische „Optimierung“ des geschaffenen Menschen, sondern um die ewige Verherrlichung des Menschensohns.
Peterson hat recht: Geschichten sind wichtig. Deshalb müssen wir als Jünger Christi dafür sorgen, dass Gottes Geschichte auch weiterhin als Gottes Geschichte von Bedeutung ist, nicht als eine von uns selbst erdachte.