Der Siegeszug des modernen Selbst

Rezension von Daniel Singer
2. März 2023 — 8 Min Lesedauer

Die Aussage „Ich bin ein Mann, gefangen im Körper einer Frau“ mag in vielerlei Hinsicht zu dem geworden sein, was die blaue Blume für die Literaturgattung der Romantik war: Ein Symbol, das charakteristisch auf die Denkweise einer Zeit hindeutet, deren verwurzeltes Netz tiefergehender Ursachen und Zusammenhänge erst ergründet werden muss.

„Die Idee einer Befreiung von der Religion wurde schon im 19. Jahrhundert durch die sehr beliebte Rhetorik der Poesie salonfähig.“
 

Der Siegeszug des modernen Selbst ist das Buch, welches mich im vergangenen Jahr am meisten beschäftigt hat. Carl R. Trueman zeigt darin auf ausgesprochen mitreißende und augenöffnende Art und Weise, wie es dazu gekommen ist, dass wir in einer hypersexualisierten Welt leben, in der Sexualität – und vordergründig deren innere, gefühlsmäßige Ebene – Norm und Politik geworden ist. Sein Anspruch ist, „die fruchtlose Natur und extrem polarisierende Rhetorik mancher großen moralischen Debatten unserer Zeit zu verstehen“ (S. 32) und die Fragen von Sex und Identität in die größeren Pathologien des gesellschaftlichen Denkens einzuordnen.

Die Architektur der Revolution

Sein Gedankengang ist dabei klar strukturiert. Zunächst weist er darauf hin, dass der Begriff „sexuelle Revolution“ in seinem Verständnis nicht einfach nur jene Sexualpraktiken umfasst, die wir besitzen und die in vorangegangenen Generationen eben noch keine Rolle spielten. Vielmehr beinhaltet sexuelle Revolution in der Definition von Trueman eine völlig umgekehrte Welt, die jegliche vormals gezogenen Grenzlinien nicht mehr nur immer weiter nach außen verschiebt, sondern die Grundlage, auf denen diese errichtet wurden, völlig über Bord geworfen hat. Um zu verstehen, warum Sexualität im Laufe der Zeit immer mehr zur Grundlage der Identität des Menschen geworden ist, studiert Trueman die Philosophen Charles Taylor und Alasdair MacIntyre sowie den Soziologen Philip Rieff. Sie haben Frameworks wie das „soziale Vorstellungsschema“ geprägt, in welchem beschrieben werden kann, wie sich der Einzelne in Beziehung zu seiner Umwelt sieht. Sie haben Wandlungen skizziert, wie den stufenweisen Übergang vom politischen zum psychologischen Menschen. Sie sprachen von einem Übergang von der ersten, transzendent denkenden Welt zur dritten, in der absolute Ethik zur relativen Meinung verkommt.

Die Grundlagen der Revolution

Darauf aufbauend analysiert der Autor die Schriften und Gedanken zahlreicher Menschen, die es über Jahrhunderte geschafft haben, eine Denkweise zu prägen, die bis heute Bestand hat. Er beginnt dabei beim bedeutenden Denker der Französischen Revolution, Jean-Jacques Rousseau, der der Menschheit fehlende Authentizität attestierte. Während der Römerbrief in Kapitel 3,10–12 klar beschreibt, dass im Menschen nichts Gutes zu finden ist, war Rousseau der Auffassung, dass er im Grunde gut ist. Erst durch die Gesellschaft, in der er lebt, werde er verdorben und von sich selbst entfremdet. So plädierte der Aufklärer dafür, dass sich der Mensch von den unterdrückenden äußeren Banden lösen und nach innen wenden sollte. Spätere Poeten der Romantik, wie Percy Bysshe Shelley oder William Blake, griffen dieses Gedankengut auf und die Religion an: Diese sei nichts als Manipulation, um den Menschen von seinen inneren Begierden und damit seiner Identität zu entfremden und ihn sowohl politisch als auch sexuell zu unterdrücken. Die Idee einer Befreiung von der Religion wurde somit schon im 19. Jahrhundert durch die sehr beliebte Rhetorik der Poesie salonfähig.

Die Sexualisierung der Revolution

Weiter untersucht Trueman Friedrich Nietzsche, der für die Aussage bekannt ist: „Wir haben Gott getötet.“ Ihm zufolge sei der größte Fehler des Menschen der, dass er in größeren Kategorien denke. Ultimativ sei einzig und allein die persönliche Zufriedenheit. Auch Sigmund Freud ist hier von entscheidender Bedeutung: Der Arzt beschrieb die menschliche Psyche vorwiegend in sexuellen Kategorien und ordnete sogar bereits frühkindlichen Lebensphasen wie der Zeit des Stillens sexualisierte Fantasien des Menschen zu. Immer wieder weist Trueman darauf hin, dass die Methoden von Freud wissenschaftlich bereits seit einiger Zeit diskreditiert sind. Ungeachtet dessen lässt sich aufgrund unterschiedlicher Einflüsse beobachten, dass die breite Gesellschaft seine Denkweise in Bezug auf Sexualität und Identität im Großen und Ganzen übernommen hat. So arbeitet das Buch einen roten Faden heraus: Durch Rousseau und die romantischen Poeten wurde das Ich psychologisiert; durch Freud wurde die Psyche dann sexualisiert. Im letzten Teil skizziert der Autor die Architektur dessen, wie es dazu kam, dass Sex so stark politisiert ist.

„Durch Rousseau und die romantischen Poeten wurde das Ich psychologisiert; durch Freud wurde die Psyche dann sexualisiert.“
 

Hierzu zieht er vornehmlich den Arzt Wilhelm Reich und den Philosophen Herbert Marcuse heran, die beide der politischen Sphäre der Neuen Linken zugeordnet werden. Beide waren – aufbauend auf der Arbeit der vorher Genannten – überzeugt, dass Religion und Transzendenz der persönlichen Freiheit feindlich gegenüberstehen. Beide entwickelten ein Modell, in dem der Kern der Familie aufgelöst und die Erziehung von Kindern – entsprechend dem Gedankengut der Oppressionstheorie – zur Sache des Staates wird.

So schafft es Trueman, die Verheiratung der scheinbar unmöglich zu vereinenden Ideen von Freud und Nietzsche (für die Gesellschaft schädlich ist) mit denen von Karl Marx und der Neuen Linken (die Gesellschaft für grundsätzlich positiv, aber einer grundlegenden Neugestaltung bedürftig erachten) nachvollziehbar darzustellen. Es wird ersichtlich, dass sich beide Ideen sehr wohl miteinander vereinbaren lassen. Deutlich wird das am Beispiel einer Person, die sich gegen Homosexualität ausspricht: Freud würde ihm antworten, dass dies eine irrationale, sozial begründete Meinung sei. Die Neue Linke würde dem hinzufügen, dass diese irrationale, sozial begründete Meinung ein Zeichen dafür sei, dass die Bourgeoisie die Arbeiterklasse unterdrücke. Hier schließt der Autor den Kreis zu dem Konzept, das er zu Beginn eingeführt hat und als das Selbst-Bewusstsein vom Menschen in Beziehung zu seiner Umwelt beschreibt. Es wird deutlich, dass bloße Toleranz dann nicht mehr genug ist: Wer sexuell befreit ist, lebt frei; wer dabei bekräftigt wird, der ist glücklich. Die Frage ist jedoch: Wohin führt sexuelle Befreiung, wenn niemand ihre Grenzen festlegt, da diese Grenzen ja stets als Repression zurückgewiesen würden? Hier hat man eine Büchse der Pandora geöffnet.

Die Siege der Revolution

So sind die aktuellsten Ausdrücke dieser Entwicklung nur wenig überraschend: vereinfachter Zugang zur gesellschaftlich nicht länger geächteten Pornographie, Gerichtsurteile zur Aufhebung der traditionellen Ehe allein zwischen Mann und Frau und der Triumph des Transgenderismus. Trueman weist immer wieder darauf hin, was dem Leser durch die Analyse der Wurzeln der sexuellen Revolution alarmierend klar wird, vielen Menschen heute jedoch keine Sorgen zu bereiten scheint: Wenn jeder absolute Rahmen für das Zusammenleben über Bord geworfen und allein das persönliche Glück zum Maßstab eines jeden Handelns wird, wer wird dann Zoophilie, Pädophilie und postnatale Abtreibung verbieten? Letzteres beschreibt der berühmt-berüchtigte Philosoph Peter Singer schockierend, aber konsequent.

„Wenn jeder absolute Rahmen für das Zusammenleben über Bord geworfen und allein das persönliche Glück zum Maßstab eines jeden Handelns wird, wer wird dann Zoophilie, Pädophilie und postnatale Abtreibung verbieten?“
 

Im unwissenschaftlichen Prolog zum Ausgang wendet sich Carl Trueman an die Gemeinden. Er weist darauf hin, dass wir zwar nicht von dieser Welt sind, aber doch in ihr leben. Daher ist es unsere Aufgabe, uns mit den Pathologien unserer Zeit auseinanderzusetzen, um adäquat, schriftgemäß und in einer Einheit zusammenstehend darauf antworten zu können. Weiter sollten wir uns laut dem Autor eine biblisch geprägte Ansicht der Bedeutung des physischen, von Gott geschaffenen Körpers erarbeiten und uns bewusst machen, dass wir uns im gleichen Umfeld befinden wie die Christen des 2. Jahrhunderts: als verachtete, zurückgebliebene und unmoralisch aufgefasste Truppe hilfloser Leute. Dass das Christentum im 3. und 4. Jahrhundert so weitreichende Erfolge (vgl. etwa die Konzile) feiern konnte, ist auf die Bibeltreue und Einheit der Gläubigen im 2. Jahrhundert zurückzuführen. Das sollte uns heute Mut machen und charakterisieren.

Leseempfehlung

Der Siegeszug des modernen Selbst ist eine tiefgründige Analyse unseres Zeitgeistes und des komplexen Wurzelgeflechts aus Denkern und Kategorien, die für dessen Formierung verantwortlich sind. Die Lektüre fordert den Leser durchaus, überfordert ihn dabei jedoch nie. Carl Trueman ist wohl einer der wenigen Evangelikalen, die auch von Nichtchristen gelesen und geschätzt werden – was sicher auch daran liegt, dass er es schafft, sachlich und unpolemisch zu bleiben. Er ist weder streitsüchtig noch schreibt er gehässig, sondern setzt alles daran, zum Verständnis der Sachverhalte beizutragen. Er vermeidet das, wozu Christen oft versucht sind: alles vereinfachend mit der Sünde zu begründen, die uns allen anhaftet. Trueman begründet bereits zu Beginn des Buches, warum er das vermeidet. Diese bloße Aussage ist „zu simpel, um die Besonderheiten der Ereignisse zu erklären“. Sie deckt „etwa nicht auf, warum die sexuelle Revolution bisher Homosexualität legitimiert hat, nicht aber Inzest, oder warum die Arbeiterrevolution in Russland Erfolg hatte, aber in Deutschland nicht. Um diese Fragen zu beantworten, muss man sich mit dem konkreten Kontext befassen“ (S. 30). Nicht zuletzt deswegen ist Der Siegeszug des modernen Selbst ein äußerst wertvoller Beitrag zur Diskussion um aktuelle Themen der kulturellen Amnesie, des expressiven Individualismus und der sexuellen Revolution.

Ich hätte mir nur einen etwas umfangreicheren Appell an die Gemeinden mit mehr konkreten Handlungsempfehlungen gewünscht. Hier ist jedoch anzumerken, dass Trueman genau das in seinem Anschlusswerk Strange New World: How Thinkers and Activists Redefined Identity and Sparked the Sexual Revolution liefert, dessen Schwerpunkt etwas weniger auf der Analyse und stattdessen mehr auf der Anwendung liegt. Dieses soll 2024 ebenso auf Deutsch erscheinen.

Buch

Carl R. Trueman, Der Siegeszug des modernen Selbst, Bad Oeynhausen: Verbum Medien, 528 Seiten, 26,90 Euro.
Das Buch kann auch direkt beim Verlag bestellt werden.