„Deine Gerechtigkeit ist im Himmel“

Buchauszug von Ray Ortlund
7. März 2023 — 6 Min Lesedauer
Als ich aber sah, dass sie nicht den geraden Weg nach der Wahrheit des Evangeliums wandelten, sprach ich zu Kephas vor allen: ‚Wenn du, der du ein Jude bist, wie die Nationen lebst und nicht wie die Juden, wie zwingst du denn die Nationen, jüdisch zu leben?‘ (Gal 2,14)

Dem Evangelium zu glauben, ist nicht leicht. Es besagt, dass ein durch und durch heiliger Gott Sünder wie uns liebt. Es besagt, dass er seinen einzigen Sohn sandte, um für uns zu sterben. Es besagt, dass er seinen Heiligen Geist ausgießt, damit er uns Leben gibt und uns bewahrt. Es besagt, dass nichts uns je von der Liebe Gottes in Jesus Christus, unserem Herrn, trennen wird. Es besagt sogar, dass dieser Erlöser Gottes Plan für die Verwandlung des Universums ist. Erscheinen uns derart gute Nachrichten nicht unmöglich? In unserem Stolz glauben wir entweder, dass wir zu gut sind, um gerichtet zu werden, oder dass wir zu schlecht sind, um gerettet zu werden. Somit ist das Evangelium eine ständige Überraschung, und wir müssen es immer wieder hören.

„Eines der größten Hindernisse für das Wirken des Evangeliums in unseren Gemeinden ist Unglaube unter uns Gemeindemitgliedern.“
 

Eines der größten Hindernisse für das Wirken des Evangeliums in unseren Gemeinden ist Unglaube unter uns Gemeindemitgliedern. Unser Unglaube beeinträchtigt das Evangelium, ohne dass wir es erkennen, selbst wenn wir eigentlich das Evangelium voranbringen wollen. Unseren Unglauben zu überwinden, ist nicht leicht, doch es ist möglich.

Martin Luther sagt es deutlich: „Das Evangelium kann nicht genug oder zu viel in unsere Ohren hineingehämmert werden. Ja, obwohl wir es gut lernen und verstehen, gibt es dennoch niemanden, der es vollkommen begreift oder mit seinem ganzen Herzen liebt; ein so schwaches Ding ist unser Fleisch und so ungehorsam gegen den Geist.“[1] Es erfordert eine neue Art des Denkens, zu glauben, dass Gott nur aufgrund dessen, was Jesus verdient hat, für uns ist. Es bedeutet, unseren Blick ständig neu zu justieren, um die Tatsache anzunehmen, dass unser Leben von etwas abhängt, das außerhalb von uns liegt.

Aber so hatte Gott es bereits vor langer Zeit festgelegt. Im Garten Eden – noch bevor die Verwicklungen der Sünde in die Welt gekommen waren – ordnete Gott unser Dasein so, dass wir nur gedeihen konnten, wenn uns von außen Leben zugeführt wurde. Er gab Adam und Eva den Baum des Lebens, um sie ständig zu erfrischen (vgl. 1Mose 2,9.16–17). In gleicher Weise kam auch unsere Vitalität niemals „von innen“, sondern immer von „dort draußen“. Wir können Leben nur mit leeren Händen des Glaubens empfangen. Gott sprach sinngemäß zu Adam:

„Hör zu, mein Sohn, wenn du mir gehorchst, wirst du aufblühen und dich entfalten. Doch wenn du mir nicht gehorchst, wird dieser Ungehorsam in dir etwas erschaffen, das sich ‚das Böse‘ nennt. Das wiederum wird zu etwas führen, das sich ‚Tod‘ nennt. Du weißt nicht, was das für Dinge sind, und du willst es auch nicht wissen. Aber wenn du mir vertraust, wird es dir gut gehen. Der ganze Reichtum und die Fülle des Lebens werden dein sein.“

Adam musste nur Gottes Wort annehmen und Augenblick für Augenblick die Hand nach Gott ausstrecken und von ihm das Leben nehmen.

Die Versuchung des Teufels war (und ist): „Lass dich auf kein Risiko mit Gott ein. Vertrau deinen Instinkten. Lebe aus dem, was in dir ist. Du musst das Ruder selbst in die Hand nehmen, denn auf Gott kannst du dich nicht verlassen.“ Adam fiel dieser Versuchung zum Opfer. Infolgedessen werden wir alle mit dieser Neigung geboren, uns auf uns selbst zu verlassen. Es ist für uns normal, unsere Hoffnung auf uns selbst zu setzen. Wir erschaffen ganze Kulturen, um unsere idealisierten Theorien über uns selbst zu untermauern.

„Wenn Gott uns in Christus rechtfertigt, richtet er sich direkt gegen unsere gesamte, auf uns selbst fixierte Lebensstrategie.“
 

Das Evangelium verändert uns ganz tief auf dieser intuitiven Ebene. Wenn Gott uns in Christus rechtfertigt, richtet er sich direkt gegen unsere gesamte, auf uns selbst fixierte Lebensstrategie. Er rechnet uns eine Gerechtigkeit an, die von einem anderen abhängt. Damit stellt er die Beziehung zu ihm aus dem Garten Eden wieder her und zieht uns aus unserem Selbst heraus in seine Fülle (vgl. Joh 1,16). Wir Gläubigen leben jetzt in Christus, dem neuen, besseren Adam. Zuweilen haben wir allerdings in unserem Herzen noch immer das Gefühl, dass unsere Stellung vor Gott heikel und ungewiss ist. Wir haben Angst, dass er uns enttäuschen wird. Und so fallen wir wieder in unser altes Verhalten zurück und hasten umher, um unsere innere Leere mit eigenen Mitteln auszufüllen. Doch Gott lässt es in seiner Gnade zu, dass wir dabei völlig auslaugen und dass diese Bemühungen vergeblich sind. Leben existiert nicht in uns, sondern in Christus allein, und zwar in ganzer Fülle. Wir leben in ihm.[2]

Was an diesem Evangelium so überraschend ist: Jegliches wahre Leben ist außerhalb von uns, extern. Doch gerade das ist befreiend. John Bunyan veranschaulicht diese Freiheit anhand seiner eigenen Geschichte:

„Eines Tages, als ich durch die Felder spazierte, und zwar mit einigen Flecken auf meinem Gewissen und fürchtend, dass noch nicht alles in Ordnung war, fiel plötzlich dieser Satz in meine Seele: Deine Gerechtigkeit ist im Himmel. Und in meinen Gedanken sah ich, mit den Augen meiner Seele, Jesus Christus zur Rechten Gottes. Dort, so wurde mir klar, ist meine Gerechtigkeit, sodass Gott, wo immer ich war und was immer ich tat, nicht von mir sagen konnte: ‚Dem John fehlt meine Gerechtigkeit‘, denn die war direkt vor ihm. Ich sah auch, dass weder meine gute Herzenshaltung meine Gerechtigkeit besser noch meine schlechte Herzenshaltung meine Gerechtigkeit schlechter machen konnte. Denn meine Gerechtigkeit war Jesus Christus selbst, derselbe gestern, heute und in Ewigkeit. Nun fielen wahrlich die Fesseln von meinen Füßen … nun ging ich heim voll Freude über die Gnade und Liebe Gottes … Hier wohnte ich eine Zeitlang in lieblichem Frieden mit Gott durch Christus. O, dachte ich, Christus! Christus! Vor meinen Augen war nichts als Christus allein.“[3]

Das ist der Sinn der Evangeliumslehre: schwachen und unwürdigen Leuten wie uns ein Bild Christi in seiner Gnade und Herrlichkeit zu zeigen. Wir verlieren ihn schnell wieder aus den Augen, nicht wahr? Wir alle müssen uns häufig seiner guten Nachricht aussetzen, die alle Anklagen gegen uns aufhebt.

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Dieser Auszug stammt aus Das Evangelium. Wie die Gemeinde die Schönheit Christi darstellt von Ray Ortlund (S. 75–78).
Das Buch kann hier bestellt werden.


[1] Martin Luther, A Commentary on St. Paul’s Epistle to the Galatians, London: James Clarke & Co., 1953, S. 40.

[2] Ich danke meinem Sohn Dr. Eric Ortlund dafür, dass er mir geholfen hat, dies so zu formulieren.

[3] John Bunyan, Grace Abounding, Cambridge: The University Press, 1907, S. 71-72 (Hervorhebung hinzugefügt).
Verschiedene deutsche Ausgaben dieser Autobiographie, z.B. Überreiche Gnade, Waldems: 3L Verlag, 2011.