Widerspricht sich die Bibel in der Frage der Sexualität?

Artikel von Ian Paul
20. März 2023 — 20 Min Lesedauer

Ein kürzlich erschienener Aufsatz von Walter Brueggemann zum Thema Bibel und „Homosexualität“ hat weite Verbreitung gefunden. (Ich habe „Homosexualität“ in Anführungszeichen gesetzt, da sie zwar im Titel des Aufsatzes vorkommt, aber kein Begriff ist, den ich in dieser Diskussion verwende, da er schlecht definiert ist.) Brueggemann fasst seine Argumente in diesen letzten Absätzen zusammen:

„Das Evangelium darf nicht mit der Bibel verwechselt oder gleichgesetzt werden. Die Bibel enthält alle möglichen Stimmen, die der guten Nachricht von Gottes Liebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zuwiderlaufen. Darum ist der ‚Biblizismus‘ eine gefährliche Bedrohung für den Glauben der Kirche, weil er in unserem Denken Behauptungen zulässt, die im Widerspruch zur Botschaft des Evangeliums stehen. Im Evangelium geht es, anders als in der Bibel, eindeutig um die tiefe Liebe Gottes zu allen Menschen. Und da, wo die Bibel dieser Botschaft widerspricht, wie in den Texten der Strenge, sind diese Texte angesichts unserer Sorge für das Evangelium als völlig inakzeptabel zu betrachten.“
„Aufgrund [einer Reihe von Auslegungsfragen] ergeben alle diese Auslegungsperspektiven zusammengenommen ein Zeichen für LGBTQ-Personen: Willkommen!“
„Herzlich willkommen in der Nachbarschaft! Willkommen zu den Gaben der Gemeinschaft! Willkommen bei der Arbeit in der Gemeinschaft! Willkommen bei der Arbeit an einer kontinuierlichen emanzipatorischen Interpretation!“

Einige von Brueggemanns Beobachtungen sind wichtig und erhellend – aber er schmuggelt auch einige bedenkliche Annahmen darüber ein, was die Bibel ist und was sie nicht ist. Das offenbart Entscheidendes darüber, wie die Diskussion über die Bibel und Sexualität häufig abläuft.

Das vielleicht Interessanteste und Bedeutsamste, was Brueggemann im Zusammenhang der aktuellen Diskussionen über die Bibel und die Sexualität sagt, steht gleich am Anfang seines Beitrags. Er beginnt damit, dass er die verschmähten Texte in 3. Mose 18,22 und 20,13 zitiert und ihnen dann noch die Kommentare von Paulus in Römer 1,23–27 hinzufügt (wenn er auch aus irgendeinem Grund 1. Korinther 6,9 nicht zitiert, wo ein Begriff verwendet wird, den Paulus aus 3. Mose 20,13 übernommen hat). Dann kommentiert er:

„Paulus’ Absicht hier ist nicht ganz klar, aber er will den extremsten Affront der Heiden vor dem Schöpfergott benennen. Ungeordnete sexuelle Beziehungen betrachtet Paulus als den ultimativen Affront. Diese Anklage ist nicht so deutlich wie die in der Tradition von 3. Mose, aber sie fungiert als ein Echo dieser Texte. Es ist unmöglich, diese Texte wegzuerklären.“

Diese Aussage ist faszinierend und steht in genauem Widerspruch zu großen Teilen der aktuellen Debatte: „Es ist unmöglich, diese Texte wegzuerklären.“ Ohne die Notwendigkeit einer Erklärung zu verspüren, weist er die Versuche populärer Autoren wie Matthew Vines einfach zurück, die behaupten – und sich dabei auf die weitgehend diskreditierten Arbeiten von William Countryman und James Boswell stützen –, dass die anstößigen Texte nicht wirklich das bedeuten, was sie zu bedeuten scheinen. Indem er sie ernst und für bare Münze nimmt, stimmt Brueggemann mit der großen Mehrheit der Gelehrten überein, die sich mit diesen Texten beschäftigen.

„Es ist sehr gut möglich, dass Paulus von Ansichten wusste, die behaupteten, einige Menschen hätten das, was wir eine homosexuelle Orientierung nennen würden – auch wenn wir das nicht mit Sicherheit wissen können und unsere modernen Theorien gewiss nicht in seine Welt hineinlesen sollten. Wenn er solche Menschen kannte, ist es wahrscheinlicher, dass er sie, wie andere Juden auch, rundweg abgelehnt hätte. ... Er hätte stärker unter dem Einfluss der jüdischen Schöpfungstradition gestanden, die den Menschen als männlich und weiblich deklariert, worauf vielleicht sogar in Römer 1,26–27 angespielt wird, und daher gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen von Menschen (die er in unseren Begriffen alle als heterosexuell betrachtete) als Missachtung der göttlichen Ordnung angesehen.“[1]
„Professor Gagnon und ich sind uns weitgehend einig, dass die biblischen Texte, die sich speziell mit homosexuellen Praktiken befassen, diese bedingungslos verurteilen. In der Frage, was die Kirche davon halten könnte oder sollte, gehen wir jedoch weit auseinander.“[2]
„Wo die Bibel homosexuelles Verhalten überhaupt erwähnt, verurteilt sie es eindeutig. Das gebe ich gerne zu. Die Frage ist nur, ob dieses biblische Urteil richtig ist.“[3]
„Das ist eine Frage biblischer Autorität. Trotz vieler gut gemeinter theologischer Spitzfindigkeiten, die das Gegenteil behaupten, ist es schwierig, in der Bibel etwas anderes als die Missbilligung homosexueller Aktivität zu sehen.“[4]
„Homosexuelle Handlungen waren ein Thema, bei dem die griechisch-römische und die jüdische Sichtweise hart aufeinanderprallten. Das Christentum, das viele Aspekte der griechisch-römischen Kultur akzeptierte, übernahm in diesem Fall die jüdische Sichtweise so allumfassend, dass die Art und Weise, wie die meisten Menschen im Römischen Reich über Homosexualität dachten, ausgelöscht wurde, auch wenn sie nun von Althistorikern wiederentdeckt worden ist ... Die Juden der Diaspora hatten sexuelle Unmoral und insbesondere homosexuelle Handlungen zu einem wichtigen Unterscheidungsmerkmal zwischen sich und den Heiden gemacht, und Paulus wiederholte die Lasterlisten der Diasporajuden. Ich sehe keinen Grund, sich auf homosexuelle Handlungen als den einen Punkt von Paulus’ Lasterlisten [in 1Kor 6,9] zu konzentrieren, der heute beibehalten werden müsste. … Bei der Lektüre der Schlussfolgerung des Kapitels möchte ich die Leser an Paulus’ eigene Sicht auf die homosexuellen Handlungen in Römer 1 erinnern, wo sowohl Männer als auch Frauen, die homosexuellen Verkehr haben, verurteilt werden: ‚[W]elche so etwas verüben‘ (die Liste der Laster ist lang, aber die Betonung liegt auf Götzendienst und homosexuellem Verhalten), sind ‚des Todes würdig‘ (1,32). Diese Passage hängt nicht von dem Begriff ‚weich‘ ab, sondern steht in völliger Übereinstimmung mit Philo und anderen Diasporajuden.“[5]
„Diese Aufgabe erfordert intellektuelle Ehrlichkeit. Ich habe wenig Geduld mit Versuchen, die klare Aussage der Schrift mit der Berufung auf sprachliche oder kulturelle Feinheiten zu verändern. Die exegetische Situation ist klar: Wir wissen, was der Text sagt. Aber was sollen wir mit dem tun, was der Text sagt? Ich halte es für wichtig, klar zu sagen, dass wir die eindeutigen Gebote der Heiligen Schrift ablehnen und uns stattdessen auf eine andere Autorität berufen, wenn wir erklären, dass gleichgeschlechtliche Partnerschaften heilig und gut sein können.“[6]

Es mag etwas übertrieben erscheinen, hier eine so lange Liste aufzuführen – aber sie ist notwendig, weil viele weiterhin behaupten, dass die Texte nicht wirklich ein Verbot gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen ausdrücken. Die überwiegende Mehrheit der Theologen (ich könnte noch weitere zitieren!) ist sich darin einig, dass sie das tatsächlich tun und dass wir das ernst nehmen müssen.

Wie reagiert Brueggemann auf diese Realität? Er stellt eine wichtige Behauptung über das Wesen der Bibel auf: „Die Bibel spricht zu keinem Thema mit einer einzigen Stimme“ und veranschaulicht das mit der Gegenüberstellung von „Texten der Strenge“ und „Texten des Willkommens“. Das konkrete Beispiel, das er hier verwendet, ist der Kontrast zwischen der Vorschrift, die die Zulassung von Kastraten zur Versammlung in 5. Mose 23,1 verbietet, und der Einbeziehung von Eunuchen in Jesaja 56,3–4.

„Dieser Text heißt die Ausgeschlossenen herzlich willkommen, sodass alle von diesem großzügigen, sammelnden Gott aufgenommen werden. Der Tempel ist für ‚alle Völker‘, nicht nur für diejenigen, die die Reinheitsvorschriften eingehalten haben.“

Das erweitert er dann, indem er Jesu Aufforderung „kommet zu mir“ in Matthäus 11,28–30 zitiert; dies seien Beispiele für „Texte, die darauf ausgerichtet sind, alle Menschen einzubeziehen, ohne danach zu fragen, ob sie qualifiziert sind oder den Standards entsprechen, die von den Machthabenden artikuliert wurden … Keine Qualifikation, kein Ausschluss.“

Aber ist das eine sinnvolle Lesart dieser Texte? Es ist überraschend, diese Frage stellen zu müssen, da Brueggemann als jemand bekannt ist, der Texte aufmerksam liest, weshalb sein Kommentar hochgeschätzt ist. Doch der Text von Jesaja 56,4–6 sagt ganz klar:

„Den Verschnittenen, die meine Sabbate halten und erwählen, was mir gefällt, und an meinem Bund festhalten, denen will ich in meinem Haus und in meinen Mauern einen Platz und einen Namen geben …“

(Nebenbei bemerkt: Die Formulierung „einen Platz und einen Namen“ bedeutet wörtlich „eine Hand und einen Namen“, auf Hebräisch Yad VaShem, was der Name des Holocaust-Mahnmals in Jerusalem ist.)

Der Willkommensgruß richtet sich hier nicht an diejenigen, die die Reinheitsvorschriften nicht eingehalten haben, sondern ist eine Einladung an alle, die den Bundesgehorsam mit Gott bewahren. Brueggemann übergeht den Kontrast zwischen dem Verbot gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehrs in 3. Mose 18,22 und 20,13 und dem Ausschluss der Kastrierten in 5. Mose 23,1: Das eine ist ein Verbot einer Handlung, das andere der Ausschluss einer Art von Person. Letzteres scheint Jesaja zu revidieren, ersteres aber weiterhin zu bekräftigen.

„Brueggemanns Bejahung gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen hängt davon ab, dass man sich auf eine höhere Autorität als die Bibel beruft – das Urteil des modernen Lesers.“
 

Außerdem ist es recht seltsam, Matthäus 11,28 als Indiz dafür zu betrachten, dass Jesus keine Forderungen an seine Nachfolger stellt. Die Evangelien sind voll von Kommentaren Jesu darüber, wie schwierig und anspruchsvoll es ist, ihm zu folgen. Unsere Gerechtigkeit muss die der Pharisäer übertreffen (vgl. Mt 5,20); wenn wir in das Reich Gottes kommen wollen, müssen wir einen harten und schmalen Weg gehen (vgl. Mt 7,14); für diejenigen, die an ihrem Reichtum hängen, ist es unmöglich, in das Reich Gottes zu kommen (vgl. Mk 10,27); in der Tat müssen alle, die Jesus nachfolgen, radikal auf ihre eigenen Interessen verzichten – im Prinzip auf ihr eigenes Leben –, um ihm Tag für Tag zu folgen (vgl. Mk 8,34). Man könnte hier noch weitermachen!

Brueggemann scheint zu behaupten, es gebe einen absoluten Gegensatz zwischen den Forderungen Jesu und den Forderungen der Tora:

Da Jesus von seinem „Joch“ spricht, stellt er seine einfachen Forderungen den schweren Anforderungen gegenüber, die der Gemeinschaft von strengen Lehrern auferlegt werden. Jesus hat kein Problem mit der Tora, sondern mit der Auslegung der Tora, die zu seiner Zeit übermäßig anspruchsvoll und restriktiv geworden war. Im Gegensatz zu den strengeren Lehren einiger seiner Zeitgenossen ist für Jesus die Last der Nachfolge leicht. Tatsächlich hatten jene die Tora zu seiner Zeit zu einer Bürde gemacht, indem sie sich auf Nebensächlichkeiten spezialisierten und die Akzente der Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue gegenüber dem Nächsten vernachlässigten (vgl. Mt 23,23).

Ich gestehe, dass ich beim Lesen der Evangelien die Forderungen Jesu nicht als „einfach“ bezeichnen kann! Und Brueggemann scheint seinen eigenen Punkt zu verfehlen: „Jesus hat kein Problem mit der Tora“. Seine ersten Anhänger sahen die Logik seiner Lehre nicht darin, die Notwendigkeit des Gehorsams gegenüber der Tora aufzugeben und an Jesus gläubig gewordene Juden verfolgen diesen Ansatz bis heute.

Brueggemann schließt seinen Fokus auf „Willkommenstexte“ mit den Worten von Petrus aus Apostelgeschichte 10,34 ab, wo dieser als Antwort auf die Vision und Begegnung mit Kornelius erklärt:

„Nun erfahre ich in Wahrheit, dass Gott die Person nicht ansieht, sondern dass in jedem Volk derjenige ihm angenehm ist, der ihn fürchtet und Gerechtigkeit übt!“

Doch Brueggemann, der sich auf Gottes Unparteilichkeit konzentriert (die meines Erachtens den Kern des Evangeliums ausmacht), ignoriert seltsamerweise die Forderung, dass wir „Gerechtigkeit üben“ müssen. Immer und überall in der Heiligen Schrift ist der Gehorsam die wesentliche Antwort auf die Gnade.

Das führt uns nun dazu, Brueggemanns Annahmen über das Wesen der Bibel zu verstehen. Er fasst die Spannung, die er in der Bibel in Bezug auf „Texte der Strenge“ und „Texte des Willkommens“ findet, folgendermaßen zusammen:

„Ich gehe davon aus, dass die von mir zitierten Texte eine angemessene Darstellung der sehr unterschiedlichen Stimmen sind, die in der Schrift erklingen. Es ist unmöglich, die Ausgrenzungsgebote in 3. Mose 18,22 und 20,13 sowie in 5. Mose 23,1 mit der Willkommenshaltung von Jesaja 56, Matthäus 11,28–30, Galater 3,28 und Apostelgeschichte 10 in Einklang zu bringen. … Es könnten auch andere Texte angeführt werden, aber diese sind typisch und repräsentativ. Wie so oft in der Heiligen Schrift haben wir es mit Texten zu tun, die in tiefer Spannung, wenn nicht gar im Widerspruch zueinander stehen. Die Aufgabe, die Bibel verantwortungsbewusst zu lesen, besteht darin, diese Texte, die nicht zusammenpassen, angemessen zu beurteilen.“

Aber obwohl er behauptet, dass es diverse Stimmen von verschiedenen Menschen in verschiedenen Kontexten und an unterschiedlichen Stellen innerhalb des Kanons sind, die im Widerspruch zueinander stehen, ist dies nicht der Fall. Es sind die Schriften einzelner Personen, in denen diese Spannung auftaucht – und Brueggemann behauptet, dass ihre eigenen Überzeugungen in unauflösbarem Widerspruch zueinander stehen und er als moderner Leser daher zwischen den widersprüchlichen Ansichten dieser Menschen entscheiden muss. Der Paulus, der den „Text des Willkommens“ in Galater 3,28 geschrieben hat, ist derselbe Paulus, der auch den „Text der Strenge“ in 1. Korinther 6,9 verfasst hat, in dem der Begriff arsenokoites (der vor Paulus sonst unbekannt war) tatsächlich ein Zitat aus dem Griechischen von 3. Mose 20,13 ist. Derselbe Jesus, der sagt: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid“, sagt auch: „Denn die Pforte ist eng und der Weg ist schmal, der zum Leben führt; und wenige sind es, die ihn finden.“ Und das setzt sich fort bis hin zu den letzten Worten der Bibel: Die Worte der radikal inklusiven Einladung in Offenbarung 22,17 („Und wen da dürstet, der komme”) folgen unmittelbar auf die Worte der radikalen Ausgrenzung in Offenbarung 22,15 („Draußen aber sind die Hunde und die Zauberer und die Unzüchtigen“).

Brueggemans Ansatz wird in den letzten Absätzen zusammengefasst, wenn er das Evangelium der Bibel gegenüberstellt: „Das Evangelium ist nicht mit der Bibel zu verwechseln oder zu identifizieren.“ Dieser Ansatz, den es schon lange gibt, wurde zuerst von der deutschen kritischen Wissenschaft unter dem Namen Sachkritik praktiziert, was so viel wie „Substanzkritik“ bedeutet, wobei „Substanz“ den angenommenen Kern der Botschaft des Evangeliums meint. (Für eine Darstellung dieses Ansatzes in den letzten 100 Jahren siehe den Artikel von Robert Morgan im JSNT.) Die verschiedenen biblischen Texte seien nicht alle durchgängig dem „Evangelium“ der guten Nachricht, die Gott für die Menschheit hat, treu; unsere Aufgabe sei es daher zu erkennen, was dieses „Evangelium“ ist, es aus den richtigen biblischen Texten herauszuarbeiten und dieses dann zu nutzen, um gegenteilige biblische Texte zu kritisieren und ihnen möglicherweise zu widersprechen und sie dann zu verwerfen. Diesen Ansatz verfolgt Douglas Campbell bei Paulus’ Texten zur Sexualität:

„Wenn Paulus in diesem Punkt inkonsequent war, was wahrscheinlich ist, indem er seine Soteriologie nicht mit völliger ethischer Konsequenz verfolgte (und wer von uns kann hier den ersten Stein werfen?!), dann schlage ich vor, dass wir, nachdem wir das festgestellt haben, diese Inkonsistenzen im Namen seiner zentralen Überzeugungen einfach außer Kraft setzen sollten. Paulus’ soteriologisches Zentrum mit seinen konsistenten ethischen Konsequenzen sollte seine inkonsistenten ethischen Ermahnungen übertrumpfen; seine Position zur Erlösung sollte seine inkonsistenten Aussagen über die Schöpfung außer Kraft setzen ... Das Ergebnis dieser Entscheidung ist, dass wir Paulus’ Bekenntnis zu einer binären und im Wesentlichen hellenistischen Theologie der Schöpfung fallenlassen sollten.“[7]

Wir müssen hier die Annahmen erkennen, die der Anwendung dieses sachkritischen Ansatzes zugrunde liegen:

  • Erstens sind nicht nur die verschiedenen Stimmen in den unterschiedlichen Kontexten der Bibel widersprüchlich, inkonsistent und letztlich inkohärent, sondern auch die einzelnen Autoren und Sprecher innerhalb der Heiligen Schrift sind widersprüchlich.
  • Zweitens sind wir als moderne Leser in der Lage, die „wahre“ Bedeutung des Evangeliums zu erkennen, indem wir aus diesen widersprüchlichen Elementen auswählen.
  • Schließlich sind wir dann in der Lage, die Fehler in den Texten zu korrigieren, indem wir das, was nach unserem Urteil falsch ist, „außer Kraft setzen“ und die Elemente, die wir für richtig halten, in den Vordergrund stellen.

Das ist der Ansatz, den Brueggemann verfolgt, indem er die Texte hervorhebt, die er als Willkommenstexte ansieht, und sich über die Texte hinwegsetzt, die er als „Texte der Strenge“ betrachtet. Dieser Ansatz erhebt sehr hohe theologische, philosophische und intellektuelle Ansprüche. Er lehnt die traditionellen Vorstellungen von der Autorität, Kohärenz und Inspiration der Heiligen Schrift ab. Aber es wird auch behauptet, dass wir als moderne Leser 2.000 Jahre (oder mehr) nach dem Ereignis und in einem ganz anderen kulturellen Kontext besser als Paulus selbst wissen, was er hätte sagen sollen. Wir erheben hier den Anspruch, das Evangelium besser zu verstehen als Paulus. Und weil die Spannung zwischen „Willkommen“ und „Strenge“ in der Lehre Jesu in den Evangelien besteht, behaupten wir implizit auch, dass wir das Evangelium besser verstehen als Jesus. Deshalb hat Luke Timothy Johnson recht: Die Bejahung gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen, die Brueggemann als Teil seines „Willkommens“ verstanden wissen will, hängt davon ab, dass er sich auf eine höhere Autorität als die Bibel beruft – das Urteil des modernen Lesers gegenüber dem, was der Text der Heiligen Schrift sagt.

In der zweiten Hälfte seines Artikels macht Brueggemann wichtige Beobachtungen über die Aufgabe der Bibelauslegung, insbesondere über die Notwendigkeit des Bewusstseins der Ausleger und die Wichtigkeit des Kontextes.

Jede Auslegung erfolgt in der Tat in einem bestimmten Kontext, das können wir nicht ignorieren. Aber Brueggemann scheint zu glauben, dass es unmöglich ist, unserem Kontext zu entkommen – was wiederum bedeutet, dass seine eigene Sichtweise möglicherweise nichts anderes ist als eine Projektion seiner eigenen Anliegen. Er lässt nicht die Möglichkeit zu, dass ein Ausleger es der Schrift erlauben könnte, seine eigenen Annahmen zu hinterfragen und zu reformieren.

Wir können in der Tat nicht interpretieren, ohne Fragen des Kontextes zu berücksichtigen. Das ist von entscheidender Bedeutung, eine der vier Grundvoraussetzungen für eine gute Schriftauslegung, wie ich finde. Aber die Vorstellung, dass unser Verständnis von Sexualität in der modernen Welt ohne Präzedenzfall ist, widerspricht den Belegen (dass gleichgeschlechtliche Anziehung und treue gleichgeschlechtliche Beziehungen in der Antike bekannt waren) und der Behauptung von Queer-Theoretikern, dass es schon immer homosexuelle Menschen in der Gesellschaft gegeben hat.

„Die Vorstellung, dass unser Verständnis von Sexualität in der modernen Welt ohne Präzedenzfall ist, widerspricht den Belegen.“
 

Und es lässt sich nicht leugnen, dass verschiedene biblische Texte beim ersten Lesen in Bezug auf zentrale Themen wie Gewalt, Sklaverei, die Rolle der Frau – und natürlich den Gehorsam gegenüber der Tora – in Spannung zueinander zu stehen scheinen. Die Frage ist: Worin besteht diese Spannung? Hat das mit unterschiedlichen kulturellen und kontextuellen Aspekten zu tun, oder sind diese Spannungen auf unüberbrückbare Widersprüche zurückzuführen? Bei jedem dieser strittigen Themen scheinen verschiedene Texte zunächst in ihrem direkten Bezug auf das jeweilige Thema in Spannung zueinander zu stehen. Wir sollten nicht zu Texten greifen, die nichts miteinander zu tun haben, um das Gesamtbild, das die Heilige Schrift bietet, zu widerlegen.

Aber hier liegt die Ironie: Während Brueggemann behauptet, dass „die Bibel zu keinem Thema mit einer einzigen Stimme spricht“, ist die gleichgeschlechtliche sexuelle Aktivität das eine Thema, zu dem die Bibel tatsächlich „mit einer einzigen Stimme“ zu sprechen scheint. Die Menschheit ist nach dem Bilde Gottes erschaffen als Mann und Frau und die sexuelle Vereinigung von Mann und Frau wird als Ausdruck dieses Schöpfungsmusters dargestellt. Die levitische Ablehnung gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen scheint sich auf diesen Bericht zu stützen und sowohl Paulus als auch Jesus beziehen sich ausdrücklich darauf: Jesus in seinem Verständnis der Ehe und Paulus speziell in seiner Ablehnung gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehrs, wobei er sich in Römer 1 auf die Schöpfung und in 1. Korinther 6,9 und 1. Timotheus 1,9 auf den levitischen Kodex beruft.

Das vielleicht Hilfreichste, was Brueggemann in seinem Artikel für uns tut, ist hervorzuheben, dass die heutige Debatte über Sexualität in der Kirche im Kern eine Debatte über die Bibel ist. Können wir der Schrift vertrauen, dass sie die Wahrheit Gottes zu uns spricht? Ist die Schrift „Gottes geschriebenes Wort“, das eine wesentliche theologische Kohärenz aufweist (vgl. Artikel XX in den XXXIX Articles of Religion), oder ist sie ein Gemisch aus Gottes guter Nachricht an uns, in das sich sündige und sogar abstoßende menschliche Ideen gemischt haben und wir somit das eine vom anderen trennen müssen, um das Gold des Evangeliums aus der biblischen Schlacke zu retten?

Wolfhart Pannenberg hat folgendes gesagt:

An dieser Stelle liegt die Grenze für eine christliche Kirche, die sich an die Autorität der Schrift gebunden weiß. Wer die Kirche dazu drängt, die Norm ihrer Lehre in dieser Frage zu ändern, muss wissen, dass er die Spaltung der Kirche betreibt. Denn eine Kirche, die sich dazu drängen ließe, homosexuelle Betätigung nicht mehr als Abweichung von der biblischen Norm zu behandeln und homosexuelle Lebensgemeinschaften als eine Form persönlicher Liebesgemeinschaft neben der Ehe anzuerkennen, eine solche Kirche stünde nicht mehr auf dem Boden der Schrift, sondern im Gegensatz zu deren einmütigem Zeugnis. Eine Kirche, die einen solchen Schritt tut, hätte darum aufgehört, evangelische Kirche in der Nachfolge der lutherischen Reformation zu sein.“[8]

Wir müssen in der Tat ein großes Zeichen des „Willkommens“ für alle setzen, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Sexualität oder Lebenslage. Aber es ist ein Willkommen, dem anspruchsvollen Lebensweg zu folgen, zu dem Jesus uns aufruft.


[1] William Loader, The New Testament on Sexuality, Grand Rapids (MI): Eerdmans Publishing, 2012, S. 323-324.

[2] Dan O. Via, Homosexuality and the Bible: Two Views, Minneapolis: Augsburg Fortress, 2003 S. 93.

[3] Walter Wink, Homosexuality and the Bible, Ramapo Graphics, 1996.

[4] Diarmaid MacCulloch, Reformation: Europe's House Divided 1490–1700, London: Penguin, 2004, S. 705.

[5] E.P. Sanders, Paul: The Apostle's Life, Letters and Thought, Minneapolis: Fortress Press, 2015, S. 344, 373.

[6] Luke Timothy Johnson, Homosexuality & the Church, https://www.commonwealmagazine.org/homosexuality-church-0 2005 (Stand 19.03.2023).

[7] Douglas A. Campbell, The Quest For Paul's Gospel: A Suggested Strategy, London: T & T Clark International, 2005, S. 127.

[8] Wolfhart Pannenberg, Beiträge zur Ethik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004, S. 99.