Ein Gebet in aussichtsloser Situation

Artikel von Andreas Münch
31. März 2023
Der E21-Podcast kann auch auf Spotify oder iTunes abonniert werden.

Manchmal überfordert uns das Leben dermaßen, dass wir einfach nur noch flüchten wollen – raus aus der Situation. Wir fühlen uns den Herausforderungen und Angriffen nicht mehr gewachsen und möchten nur noch weg, können es aber nicht, weil die Umstände es nicht erlauben. Das müssen nicht nur Extremsituationen sein. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die Herausforderungen als Eltern einen so fertigmachen können, dass man am liebsten die Koffer packen und abhauen würde (wenn es dir nie so erging, dann herzlichen Glückwunsch). Ich denke auch an Pastoren, Älteste oder Missionare, die geistlich müde und ausgelaugt sowie vielleicht noch persönlichen Angriffen in der Gemeinde ausgesetzt sind und am liebsten alles hinschmeißen würden. Einfach alles hinter sich lassen, den Koffer packen, sich ins Flugzeug nach Thailand setzen, um im Tropenparadies den Frust mit Caipirinhas zu ertränken.

Dieser Wunsch, so verständlich er auch ist, ist jedoch keine Lösung – und im Grunde wissen wir das auch. Was also tun, wenn wir vom Leben und unseren Umständen überfordert sind? Die biblische Antwort finden wir in Jesaja 50,10 formuliert:

„Wer unter euch fürchtet den Herrn? Wer gehorcht der Stimme seines Knechtes? Wenn er im Finstern wandelt und ihm kein Licht scheint, so vertraue er auf den Namen des Herrn und halte sich an seinen Gott!“

Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Wie können wir das praktisch umsetzen?

Eine Antwort liefert uns David in Psalm 55. Hier finden wir ein Mustergebet in fünf Schritten, das wir uns zu eigen machen dürfen, wenn wir uns hoffnungslos überfordert fühlen. Schauen wir uns diesen Psalm der Reihe nach an.

1. Sag, wie es ist!

David beginnt seinen Psalm mit einer Klage. Er bittet Gott darum, sein Flehen zu hören. Natürlich weiß David um die Allgegenwart Gottes, dass er immer da ist, alles hört und weiß. Dennoch schreit er zu Gott, öffnet sein Herz und legt ihm seine Situation dar:

„Höre auf mich und antworte mir! Ich bin unruhig in meiner Klage und stöhne vor dem Brüllen des Feindes, vor der Bedrückung des Gottlosen; denn sie wollen Unheil über mich bringen und befeinden mich grimmig! Mein Herz bebt in mir, und die Schrecken des Todes haben mich überfallen; Furcht und Zittern kommt mich an, und Schauder bedeckt mich.“ (Ps 55,3–6)

David ist vollkommen fertig. Er ist angefeindet, und es lastet enormer Druck auf ihm. Er steht Todesängste aus und droht vor Angst zu ersticken. David ist ein emotionales Wrack. Beachte, wie ehrlich David vor Gott ist. Er scheut sich nicht, Gott zu sagen, wie es ihm geht, und beschönigt nichts. Das ist etwas, was mir immer wieder auffällt, wenn ich die Psalmen lese. Die Psalmschreiber bekennen, wie es wirklich in ihnen aussieht.

Das ist die erste Lektion, die du aus Psalm 55 mitnehmen kannst: Sei radikal ehrlich vor Gott. Wir müssen unsere Gebete nicht aus einer falschen Geistlichkeit heraus beschönigen. Wenn wir uns hoffnungslos überfordert fühlen, dürfen wir Gott das auch so sagen.

2. Sei ehrlich zu dir selbst

David befindet sich offensichtlich in einer schwierigen Lage. Daher ist es nicht verwunderlich, dass er der Situation am liebsten entfliehen möchte:

„Und ich sprach: O daß ich Flügel hätte wie die Taube; ich würde davonfliegen, bis ich Ruhe fände! Siehe, ich wollte weit weg fliehen, mich in der Wüste aufhalten; (Sela.) ich wollte zu meinem Zufluchtsort eilen vor dem brausenden Wind, vor dem Sturm.“ (Ps 55,7–9)

Wenn uns Gefahr droht, möchten wir fliehen und uns in Sicherheit bringen. Daher ist Davids Wunsch legitim. Interessant ist das Bild, das er gebraucht. Er zieht das Bild eines Vogels heran, aber nicht irgendeines Vogels. Er wünscht sich, wie eine Taube zu sein und wegfliegen zu können. Ich vermute, dass David bewusst die Taube wählt und nicht etwa einen Adler, weil er sich so verletzlich wie eine Taube fühlt. Eine Taube ist ein schreckhaftes Tier, das davonfliegt, sobald ein Zweijähriger auf es zuläuft. Das Motto lautet: Flucht statt Angriff.

„Während wir für eine Veränderung der Situation beten dürfen, sollten wir ebenfalls dafür beten, dass Gott uns und unsere Sichtweise verändert.“
 

Auch der Wunsch, in die Wüste fliehen zu können, ist interessant. In der Regel ist die Wüste ein Ort, aus dem man herauskommen möchte – nicht einer, den man bewusst aufsucht. Die Wüste ist normalerweise ein menschenfeindlicher Ort (vgl. 4Mose 21,5; 5Mose 32,10; Jes 13,20–22), doch in seiner Misere kommt David die Wüste recht attraktiv vor.

Es ist völlig normal, dass wir uns wünschen, aus einer Situation herauszukommen, die uns überfordert und fertigmacht. In manchen Fällen können wir auch die Notbremse ziehen und aussteigen – und sollten dies sogar tun! David floh vor Saul und später vor seinem Sohn Absalom. Selbst die Apostel entschieden sich gelegentlich zum Rückzug, wenn dies möglich war (vgl. Apg 9,24–25). Diese Option haben wir jedoch nicht immer – oder zumindest nicht in diesem Moment. Die Mutter, der alles zu viel wird, kann nicht einfach aus ihrer Rolle aussteigen, genauso wenig wie der überforderte Pastor seine Gemeinde von heute auf morgen wechseln kann.

Zumindest ist der Wunsch nach besseren Umständen verständlich und legitim. Wir dürfen dazu stehen, wenn bestimmte Situation uns fertigmachen und dürfen dies auch vor Gott deutlich zum Ausdruck bringen – auch wenn andere Christen vielleicht kein Verständnis für unsere Situation haben.

3. Bitte Gott, die Situation zu verändern!

Jetzt endlich kommt David auf das eigentliche Problem zu sprechen: die Feinde, die ihm das Leben schwer machen.

„Vertilge sie, Herr, entzweie sie in ihren Absprachen, denn ich sehe Gewalttat und Streit in der Stadt! Tag und Nacht gehen sie umher auf ihren Mauern, und in ihrem Inneren ist Unheil und Verderben. Bosheit herrscht in ihrer Mitte, und von ihrem Markt weichen nicht Bedrückung und Betrug.“ (Ps 55,10–12)

David befindet sich in einer Stadt (vermutlich in Jerusalem, vgl. Vers 15), doch anstatt Gottesfurcht herrschen Korruption und Gewalt. Damit nicht genug: Weitaus schlimmer ist der Verrat eines ehemaligen Freundes, mit dem er einst gute geistliche Gemeinschaft genoss (vgl. Vers 13–15).

Zu den äußeren Bedrängnissen kommt noch der emotionale Schmerz über den Verrat hinzu. David ist hier zutiefst von einem Menschen enttäuscht worden, auf dessen Hilfe und Beistand er eigentlich gezählt hat. Das schmerzt. Mit starken, ehrlichen Worten bittet er Gott also, etwas an der Situation zu ändern: „Der Tod überfalle sie! Sie sollen lebendig ins Totenreich fahren, denn Bosheit ist in ihren Wohnungen, in ihrem Inneren“ (Vers 16). Diese Worte mögen uns hart vorkommen, aber im Kontext dieses Psalms sind sie angemessen. Beachten wir, dass David Gott die Situation anvertraut und es ihm überlässt, wie er darauf reagieren wird, anstatt selbst Rache zu üben.

Was wir für uns mitnehmen können, ist, dass wir Gott darum bitten dürfen, unsere Situation zu verändern. Wir müssen nicht alles stoisch ertragen, sondern dürfen da, wo unsere Situation nicht mit Gottes offenbartem Willen übereinstimmt, um Veränderung bitten. Davids Reaktion war jedenfalls anhaltendes Gebet.

4. Bete, dass Gott dich verändert!

David kann seine Situation nicht ändern, aber Gott kann sowohl die Situation als auch ihn selbst verändern. Daher wendet David sich immer wieder an ihn:

„Ich aber rufe zu Gott, und der HERR wird mir helfen. Abends, morgens und mittags will ich beten und ringen, so wird er meine Stimme hören. Er hat meine Seele erlöst und ihr Frieden verschafft vor denen, die mich bekriegten; denn viele sind gegen mich gewesen.“ (Ps 55,17–19)

David spricht hier nicht nur ein einziges Gebet, sondern kommt mehrmals täglich zu Gott, und zwar so lange, bis Gott sein Gebet erhört. Am Anfang hat David Gott noch darum gebeten, auf seine Klage zu hören. Jetzt bekennt er, dass Gott ihn erhören wird. Er ist zuversichtlich, dass sein Gebet nicht umsonst gewesen ist. Beachte, dass die Situation sich noch nicht verändert hat. Die Feinde sind immer noch da, aber seine Seele hat Frieden gefunden. Er ist innerlich ruhig geworden und sieht die Situation jetzt aus Gottes Perspektive.

Während wir für eine Veränderung der Situation beten dürfen, sollten wir ebenfalls dafür beten, dass Gott uns und unsere Sichtweise verändert. Womöglich wird Gott unser erstes Gebet nicht erhören, aber an vielen Stellen in der Bibel erklärt Gott seine Absicht, uns zu verändern (vgl. Eph 3,14–21; 1Thess 5,23-24). Das geschieht in der Regel aber nicht sofort. Wie David müssen wir immer wieder zu Gott kommen und die Gemeinschaft mit ihm suchen. In der Praxis muss das nicht jeweils eine ausgiebige Stille Zeit mit Bibellesen und allem Drum und Dran sein – gerade das ist ja in vielen herausfordernden Situationen gar nicht möglich. Vielleicht ist es ein Anfang, sich täglich bewusst an Gott zu richten – und wenn es nur ein kurzes, aber ehrliches Gebet ist.

5. Bedenke, dass Gott besorgt um dich ist

Erneut kommt David auf die Feinde zu sprechen, aber dieses Mal klingen die Worte ganz anders als noch in den Versen 10–16:

„Gott wird hören und sie demütigen, er, der auf dem Thron sitzt von Urzeit her. (Sela.) Denn sie ändern sich nicht, und sie fürchten Gott nicht.“ (Ps 55,20)

Davids Sichtweise hat sich radikal verändert. Gott ist immer noch der Herr der Lage! Es ist nicht so, dass David vorher daran gezweifelt hätte, aber jetzt kann er diese Wahrheit tatsächlich sehen und das beeinflusst die Art und Weise, wie er ab jetzt mit der Situation umgeht. Er vertraut darauf, dass Gott eingreifen wird. Interessant ist Vers 23:

„Wirf dein Anliegen auf den HERRN, und er wird für dich sorgen; er wird den Gerechten in Ewigkeit nicht wanken lassen!“

Sagt er das zu sich selbst oder ermutigt er andere damit, die ebenso leiden? Wir wissen es nicht. An wen auch immer diese Aufforderung gerichtet ist – sie macht deutlich, dass sein Gottvertrauen wieder da ist. Deshalb schließt er seinen Psalm auch mit der Aussage: „Ich aber vertraue auf dich!“ (Vers 24).

„Davids anhaltendes Gebet bleibt nicht ohne Wirkung. Die anfängliche Klage weicht dem zuversichtlichen Gottvertrauen.“
 

Davids anhaltendes Gebet bleibt nicht ohne Wirkung. Die anfängliche Klage weicht dem zuversichtlichen Gottvertrauen. Diese Zuversicht dürfen und sollen wir auch haben. Vielleicht hatte Petrus ja Psalm 55,23 im Sinn, als er den Christen in der Verfolgung schrieb:

„So demütigt euch nun unter die gewaltige Hand Gottes, damit er euch erhöhe zu seiner Zeit! Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch.“ (1Petr 5,6–7)

Gerade dieser letzte Satz ist so wichtig: Gott ist um dich und mich besorgt. Wir sind ihm nicht egal. Woher können wir das wissen? Weil er Jesus, seinen einzigen Sohn, für uns in diese Welt geschickt hat, damit er für unsere Schuld stirbt, sodass wir durch ihn wieder mit Gott versöhnt sein können. Paulus argumentiert im Römerbrief, dass er uns nichts Gutes mehr vorenthalten wird, wo er doch so weit gegangen ist (vgl. Röm 8,32).

Vielleicht sind dir die Parallelen zu Jesus bereits aufgefallen.

  • Als Jesus im Garten Gethsemane war, befielen ihn ebenfalls Todesängste, sodass er zu Gott betete (vgl. Mt 26,38).
  • Auch er wünschte, aus der Situation herauszukommen, doch er wusste, dass es keine Option war (vgl. Mt 26,39).
  • Auch Jesus sah sich den Feinden in der Stadt gegenüber und wurde von einem Freund verraten (vgl. Mt 26,47–56).
  • Doch auch Jesus vertraute sich ganz Gott, dem Vater an (vgl. Lk 23,46) und wurde schließlich zu neuem Leben auferweckt (vgl. Apg 2,32–36).

Weil Jesus Christus heute tatsächlich lebt und ihm alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist, dürfen wir Psalm 55 beten, wenn uns alles hoffnungslos erscheint. Ihm ist nichts unmöglich, und du und deine Umstände sind ihm nicht egal.