Das Geschehen am Kreuz – göttlicher Kindesmissbrauch?

Artikel von Donald Macleod
4. April 2023 — 5 Min Lesedauer

Wir brauchen eine Lehre vom Kreuz, die sich ernsthaft mit der Tatsache auseinandersetzt, dass der Vater am Geschehen auf Golgatha beteiligt war. Warum tat Gott seinem Sohn das an? Warum musste er es tun?

Wie gehen wir mit der eigentümlichen Behauptung um, das Kreuz sei ein Beispiel für „Kindesmissbrauch“? (Das Adjektiv „kosmisch“ ist hier ziemlich überflüssig, da nicht der Kosmos, sondern Gott, der Vater, sich des Missbrauchs schuldig gemacht haben soll.) Dieser Vorwurf ist als völlig unangebracht abzuweisen, weil er die Geschichte der Kreuzigung vom gesamten neutestamentlichen Zeugnis über Jesus isoliert.

Er ignoriert zum Beispiel die Tatsache, dass Jesus die meiste Zeit seines Lebens die Liebe, den Schutz und die Ermutigung seines himmlischen Vaters genoss. Jesus konnte so ein angstfreies Leben führen in der Gewissheit, nie allein zu sein (vgl. Joh 8,16) und dass Gott immer in seiner Nähe war. Deshalb konnte er auch sagen, dass es seine Speise war, den Willen dessen zu tun, der ihn gesandt hatte (vgl. Joh 4,34). Ein missbrauchtes und geschädigtes Kind war er also nicht.

Ebenso ignoriert der Vorwurf vorsätzlich die offensichtliche Tatsache, dass Jesus zum Zeitpunkt des angeblichen „Missbrauchs“ kein Kind mehr war, sondern ein reifer Erwachsener, der seine eigenen freien Entscheidungen treffen konnte und bereit war, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Unter diesem Gesichtspunkt handelt es sich beim Kreuzesgeschehen genauso wenig um Kindesmissbrauch wie im Fall der britischen Regierung, die während des Zweiten Weltkriegs erwachsene Männer und Frauen als Agenten einer Spezialeinsatztruppe hinter den feindlichen Linien absetzte. Wie diese war auch Jesus ein Freiwilliger. Während seiner Zeit in der Welt wählte er aus freien Stücken den Weg, der nach Golgatha führte (vgl. Phil 2,8), und genauso freiwillig hatte er sich entschlossen, sein Leben für seine Freunde hinzugeben (vgl. Joh 15,13). Im Einklang mit dieser Entscheidung unternahm er keinen Versuch zu fliehen, als die Soldaten sich näherten, um ihn zu verhaften, obwohl er seinen Feinden schon oft entkommen war. Stattdessen sagte er: „Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir der Vater gegeben hat?“ (Joh 18,11).

„In Jesus richtet und verurteilt Gott sich selbst und lässt sich missbrauchen.“
 

Noch eklatanter ist, dass der Vorwurf des Kindesmissbrauchs das klare neutestamentliche Zeugnis von der einzigartigen Identität Jesu ignoriert. Er war nicht nur kein Kind, er war auch nicht bloß ein Mensch. Er war Gott – der ewige Logos, der göttliche Sohn, der Herr, vor dem sich eines Tages jedes Knie beugen wird (vgl. Phil 2,10). Er ist kein hilfloses Opfer. Er ist dem Vater ebenbürtig. Er ist im tiefsten Sinne eins mit Gott; in ihm richtet und verurteilt Gott sich selbst und lässt sich missbrauchen. Die Kritiker dürfen es sich nicht herausnehmen, das Neue Testament selektiv zu verwenden. Dieselben Schriften stellen das Kreuz als eine Tat von Gott, dem Vater, dar. Gleichzeitig führen sie uns den Leidenden als Gott, den Sohn, vor Augen. Die daraus resultierende Doktrin kann nicht von der christlichen Trinitätslehre getrennt werden. Das „missbrauchte Kind“ ist „wahrer Gott vom wahren Gott“. Göttliches Blut wurde auf Golgatha vergossen (vgl. Apg 20,28), als Gott sich dem Schlimmsten, wozu Menschen fähig sind, hingab und die gesamten Kosten für die Rettung der Welt trug.

Doch Jesus ist nie, nicht einmal für einen Augenblick, das hilflose Opfer der Menschen. In seiner geisterfüllten Menschlichkeit ist er unbezwingbar. Als er seinen Geist aufgibt und damit seinen Auftrag erfüllt, erhebt Gott – der angeblich „missbräuchliche“ Vater – ihn über alle Maßen und ordnet an, dass sich in seinem Namen jedes Knie beugen soll. Er befiehlt dem gesamten Universum, ihn als Herrn aller Herren zu bekennen (vgl. Phil 2,9–11).

Aber was können wir über die Rolle des Vaters auf Golgatha sagen? Die Antwort des Neuen Testaments ist erstaunlich. Er handelte in der Rolle eines Priesters. So wie Jesus sein Leben als Lösegeld für viele „gab“ (Mk 10,45), so „gab“ Gott, der Vater, seinen einzigen Sohn. Und so wie Christus sich selbst als wohlriechendes Opfer „gab“ (Eph 5,2), so „gab“ Gott, der Vater, seinen eigenen Sohn „dahin“ (Röm 8,32). Es ist also klar, dass dem Priestertum des sich selbst hingebenden Sohnes das Priestertum von Gott, dem Vater, entspricht. Unter diesem Gesichtspunkt wird Golgatha zu seinem Tempel, in dem er – weit davon entfernt, ein Kind zu missbrauchen oder sadistische Grausamkeiten zu begehen – die feierlichste Handlung verrichtet, die es auf Erden gibt. Er bringt ein Opfer dar. Das Kreuz ist sein Altar und sein eigener Sohn ist das Opfer.

„Das Verständnis von Jesu Tod als Opfer geht auf keine menschliche Übereinkunft zurück – es ist eine göttliche Offenbarung.“
 

Die Beweise dafür, dass Jesus und seine Apostel das Kreuz im Sinne eines Opfers verstanden, sind offensichtlich. Es geht hier jedoch um etwas Tieferes als um das Ringen der verwirrten Jünger um Begriffe, mit denen sie die Tragödie, die ihren Meister ereilt hatte, erklären konnten.

Es war nicht menschlicher Erfindungsreichtum, der in den alttestamentlichen Opfern einen Interpretationsrahmen für das Kreuz entdeckte. Im Gegenteil, Gott selbst hatte diesen Rahmen vorgegeben. In der Reihenfolge des Wissens kamen die levitischen Opfer vor dem Opfer von Golgatha, aber in der Reihenfolge des Seins kam das Opfer Christi zuerst. Er war das Lamm, das vor Grundlegung der Welt bestimmt war, während das levitische System nur sein Schatten war. Wir müssen hier vorsichtig sein: Christus war nicht nur im metaphorischen Sinne ein Priester. Er war der wahre Priester und sein Opfer war das wahre Opfer. Das Aaronitische Priestertum hingegen hatte eine symbolische Bedeutung und seine Opfer waren metaphorisch. So wie Jesus „die Wurzel Davids“ war (Offb 5,5), so war er die Wurzel des Passahs, des Sündopfers und des Sündenbocks, die alle auf göttliche Weise auf ihn hindeuteten. Das Verständnis von Jesu Tod als Opfer geht auf keine menschliche Übereinkunft zurück – es ist eine göttliche Offenbarung.