Warum beten, wenn Gott souverän ist?

Artikel von R.C. Sproul
6. April 2023 — 7 Min Lesedauer

Gott entgeht nichts, und nichts liegt außerhalb seines Machtbereichs. Gott ist in allen Dingen die maßgebende und verbindliche Autorität. Würde ich denken, dass auch nur ein einzelnes Molekül im Universum außerhalb der Kontrolle und des Herrschaftsbereichs des allmächtigen Gottes einfach so frei herumschwirrt, könnte ich heute Nacht nicht schlafen. Mein Vertrauen in die Zukunft beruht auf meinem Vertrauen in den Gott, der die Geschichte lenkt. Doch auf welche Weise übt Gott seine Herrschaft aus, und wie zeigt er seine Macht? Wie setzt Gott die Dinge, die er souverän anordnet, in die Tat um?

Augustinus sagte, dass in diesem Universum nichts ohne den Willen Gottes geschieht und dass Gott in einem gewissen Sinne alles bestimmt, was geschieht. Mit dieser Lehre wollte Augustinus die Menschen nicht von der Verantwortung für ihr Handeln freisprechen. Allerdings könnte man sich fragen: Wenn Gott souverän über die Handlungen und Absichten der Menschen waltet, warum sollte man dann überhaupt beten? Zudem stellt sich die Frage: Ändert Gebet überhaupt etwas? Die erste Frage möchte ich mit der Feststellung beantworten, dass der souveräne Gott uns durch sein heiliges Wort befiehlt zu beten. Das Gebet ist für den Christen keine Kür, sondern Pflicht.

Man könnte nun fragen: Ja, aber was ist, wenn es nichts bewirkt? Um diesen Punkt geht es jedoch nicht. Unabhängig davon, ob das Gebet etwas nützt, müssen wir beten, weil Gott uns befiehlt zu beten. Der Grund, dass der Herr, der Gott des Universums, der Schöpfer und Erhalter aller Dinge, es befiehlt, ist ausreichend. Allerdings gebietet er uns nicht nur zu beten, sondern er lädt uns auch ein, unsere Bitten kundzutun. Jakobus erklärt, dass wir nicht haben, weil wir nicht bitten (vgl. Jak 4,2). Er sagt uns auch, dass das Gebet eines Gerechten viel bewirkt (vgl. 5,16). In der Bibel steht wiederholt, dass das Gebet ein wirksames Mittel ist. Es ist nützlich; es funktioniert.

Johannes Calvin macht in der Institutio einige tiefgründige Beobachtungen zum Gebet:

„Es könnte aber jemand einwenden: Weiß denn Gott nicht auch ohne Mahner, was uns bedrückt und was uns nützlich ist? Es könnte auf diese Weise geradezu überflüssig erscheinen, ihn mit unseren Bitten zu bemühen – gerade als ob er nichts merken wollte oder gar schliefe, bis ihn unsere Stimme aufweckte! Aber wer solche Schlußfolgerungen anstellt, der beachtet nicht, zu welchem Zweck der Herr die Seinen zum Beten angewiesen hat. Er hat das doch nicht so sehr um seinetwillen so geordnet, als vielmehr um unsertwillen! Er will zwar, wie es billig ist, daß ihm sein Recht werde, indem die Menschen alles, was sie von ihm erbitten und was nach ihrer Erfahrung zu ihrem Nutzen dient, wirklich als von ihm kommend anerkennen und das auch in ihren Gebeten bezeugen. Aber auch die Frucht dieses Opfers, mit dem er verehrt wird, kommt wiederum uns zugute! Je zuversichtlicher deswegen die heiligen Väter Gottes Wohltaten an sich und anderen rühmten, desto kräftiger wurden sie auch zum Bitten angetrieben … es liegt … für uns viel daran, daß er unablässig von uns angerufen wird! Wir gewöhnen uns so daran, in aller Not zu ihm als zu dem heiligen Anker unsere Zuflucht zu nehmen – und darüber soll unser Herz von dem ernstlichen, glühenden Verlangen erfüllt werden, ihn allezeit zu suchen, ihn zu lieben und ihm zu dienen! Weiter lernen wir auch, ihm alle unsere Wünsche vor Augen zu stellen, ja, vor ihm unser ganzes Herz auszuschütten – und darüber soll es dazu kommen, daß in unserem Herzen kein Begehren, ja überhaupt kein Wunsch sich regt, bei dem wir Scheu hätten, ihn zum Zeugen zu machen. Dann sollen wir auch dahin gelangen, seine Wohltaten mit rechter, herzlicher Dankbarkeit und auch mit Danksagung anzunehmen; gerade unser Bitten erinnert uns ja daran, daß all diese Gaben aus seiner Hand zu uns kommen!“ (Institutio, III, 20.3)

Das Gebet dient, wie alles andere im christlichen Leben, zu Gottes Ehre und zu unserem Nutzen, und zwar in dieser Reihenfolge. Alles, was Gott tut, und alles, was er zulässt und anordnet, dient letztlich seiner Ehre. Gleichzeitig gilt, dass Gott zwar vorrangig seine eigene Ehre sucht, der Mensch aber davon profitiert, dass Gott verherrlicht wird. Wir beten, um Gott zu verherrlichen, aber wir beten auch, um die Segnungen des Gebets aus seiner Hand zu empfangen. Beten kommt uns zugute, gerade auch vor dem Hintergrund, dass Gott von Anfang an den Ausgang kennt. Es ist unser Vorrecht, unsere ganze endliche Existenz in die Herrlichkeit seiner unendlichen Gegenwart zu bringen.

„Das Gebet ist ein Gespräch mit dem persönlichen Gott selbst, ein aktiver und dynamischer Dialog. Beim Beten unterstelle ich mein ganzes Leben seinem Blick.“
 

Ein zentrales Thema der Reformation war die Überzeugung, dass der Mensch sein ganzes Leben unter der Herrschaft Gottes, zur Ehre Gottes und in der Gegenwart Gottes leben soll. Das Gebet ist kein bloßer Monolog, nicht lediglich eine Übung der therapeutischen Selbstanalyse oder eine fromme Darbietung. Das Gebet ist ein Gespräch mit dem persönlichen Gott selbst, ein aktiver und dynamischer Dialog. Beim Beten unterstelle ich mein ganzes Leben seinem Blick. Ja, er weiß, was in mir vorgeht, aber ich habe dennoch das Privileg, ihm sagen zu dürfen, was mich beschäftigt. Er sagt: „Komm. Rede mit mir. Lass deine Anliegen vor mir kundwerden.“ Wir kommen also zu ihm, um ihn zu erkennen und von ihm erkannt zu werden.

Die Frage „Warum beten, wenn Gott alles weiß?“ weist auf ein Missverständnis hin, denn sie geht von der Annahme aus, dass das Gebet eindimensional ist. Nach diesem Verständnis ist Gebet nicht mehr als ein Bitten für sich selbst oder andere Menschen. In Wirklichkeit ist Gebet jedoch mehrdimensional. Gottes Souveränität steht nicht im Widerspruch zu einem Gebet der Anbetung. Seine Vorhersehung und sein fester Ratschluss lassen sich durchaus mit einem Gebet des Lobens und Preisens in Einklang bringen. Im Gegenteil: Sie sind sogar ein Grund, um Gott für sein Wesen noch mehr die Ehre zu geben. Wenn Gott weiß, was ich sagen werde, noch bevor ich es ausspreche, schränkt dies mein Gebet nicht ein, sondern intensiviert die Schönheit meines Lobpreises.

Meine Frau und ich sind uns so nah, wie zwei Menschen sich nur sein können. Noch bevor sie ihren Mund öffnet, weiß ich oft ziemlich genau, was sie gleich sagen wird. Das gilt ebenso andersherum. Aber ich höre ihr trotzdem gerne zu, wenn sie sagt, was sie denkt. Wenn das schon auf Menschen zutrifft, wie viel mehr gilt es für Gott?! Wir haben das unvergleichliche Vorrecht, unsere innersten Gedanken mit ihm teilen zu dürfen. Natürlich könnten wir einfach in unser Kämmerlein gehen, Gott unsere Gedanken lesen lassen und das dann Gebet nennen. Aber das wäre keine Gemeinschaft und erst recht keine Kommunikation.

Wir sind Wesen, die hauptsächlich mithilfe von Sprache kommunizieren. Das gesprochene Gebet ist für uns offensichtlich eine Form, die uns hilft, mit Gott Gemeinschaft zu haben und mit ihm zu kommunizieren. In einem gewissen Sinne sollte sich die Tatsache, dass Gott souverän ist, auf unsere Einstellung zum Beten auswirken, zumindest was die Anbetung anbelangt. Wenn wir begreifen, dass Gott souverän ist, sollte uns das zu einem intensiven, von Dankbarkeit geprägten Gebetsleben anspornen. Das Wissen um die Souveränität Gottes sollte uns erkennen lassen, dass jede Wohltat, jede gute und vollkommene Gabe, ein Ausdruck der Fülle seiner Gnade ist. Je mehr wir Gottes Souveränität verstehen, desto mehr werden unsere Gebete von Dank erfüllt sein.

Inwiefern könnte Gottes Souveränität sich möglicherweise nachteilig auf das Gebet der Reue und des Sündenbekenntnisses auswirken? Vielleicht könnten wir meinen, dass für unsere Sünde letztlich Gott verantwortlich ist und dass wir mit unserem Schuldbekenntnis ihn selbst anklagen. Doch jeder wahre Christ weiß, dass er Gott nicht die Schuld für seine Sünde geben kann. Auch wenn ich das Verhältnis zwischen göttlicher Souveränität und menschlicher Verantwortung nicht begreifen mag, erkenne ich, dass ich das, was seinen Ursprung in der Bosheit meines eigenen Herzens hat, nicht dem Willen Gottes zuschreiben kann. Wir müssen also beten, weil wir schuldig sind, und den Heiligen, gegen den wir schuldig geworden sind, um Begnadigung bitten.