Bully Pulpit

Rezension von Boris Giesbrecht
13. April 2023 — 12 Min Lesedauer

Zugegeben, das Buch ist schwer zu lesen. Damit meine ich nicht, dass der Autor schwer verständlich schreibt. Im Gegenteil, das Buch ist übersichtlich aufgebaut und verwendet eine natürliche Sprache. Auch ist es in einem leichten Englisch geschrieben. Es ist vielmehr der Inhalt, der das Lesen schwer verdaulich macht. Manipulationen, Bedrohungen oder auch subtilere Formen von geistlichem Missbrauch innerhalb der Gemeinde werden darin behandelt. Gerade das macht das Buch aber auch so nützlich. In den vergangenen Jahren haben uns nämlich zunehmend Berichte über Pastoren und Leiter erreicht, die ihre Position zum Nachteil von anderen missbrauchen. Es sind bereits mehrere Bücher zu diesem Thema veröffentlicht worden.[1] Mit Bully Pulpit liegt nun auch ein Buch vor, das sich besonders an Verantwortungsträger in der Gemeinde sowie an Gemeinden richtet.

Fragwürdige Leiter

Michael J. Kruger ist ein Name, den man am Umschlag eines Buches zu praktischen Fragen des Gemeindelebens nicht erwarten würde. Er ist Professor für Neues Testament und Frühes Christentum am Reformed Theological Seminary in Charlotte (North Carolina, USA) und bekannt für seine herausragenden akademischen Beiträge auf dem Gebiet des biblischen Kanons. In seiner Rolle als Präsident einer theologischen Ausbildungsstätte ist er bereits seit Jahrzehnten in die Ausbildung von zukünftigen christlichen Leitern involviert und liefert eine wertvolle Perspektive zum Thema. Er stellt fest:

„Einige der Leiter, die wir hervorbringen – und, wenn wir ehrlich sind, einige der Leiter, die wir wollen – haben Eigenschaften, die entweder in der Liste der in der Heiligen Schrift genannten Qualifikationen fehlen oder ihr völlig entgegengesetzt sind.“ (S. XIV)

Dieses weitverbreitete Problem geht Kruger an, indem er es mit der verändernden Kraft des Evangeliums konfrontiert. In sieben klar strukturierten Kapiteln beleuchtet Kruger verschiedene Fragen zum Thema.

Begünstigende Faktoren

Im ersten Kapitel geht Kruger der Frage nach, wie es dazu kommen kann, dass die Kanzel (engl. „pulpit“) zum Ort für Tyrannen (engl. „bully“) wird. Oft sehen geistliche Leiter, die ihre Macht missbrauchen, nicht danach aus. Auf den ersten Blick scheinen sie eher Helden zu sein. Genau das ist es, was geistlichen Missbrauch so schwer erkennbar macht. Kruger macht ein wiederkehrendes Muster aus: Solche Leiter haben scheinbar einen fruchtbaren Dienst, hinterlassen jedoch über Jahre eine Spur von zerbrochenen Beziehungen. Sie zeigen herrschsüchtiges Verhalten gegenüber anderen, werden allerdings meist von Verantwortungsträgern verteidigt, sodass die Opfer als Unruhestifter angeklagt werden, welche die Arbeit eines treuen Leiters angreifen. Er identifiziert fünf Faktoren, die geistlichen Missbrauch begünstigen:

  1. die Verherrlichung von Personen;
  2. die größere Wertschätzung von Gaben oder theologischen Überzeugungen gegenüber dem Charakter;
  3. fehlende Rechenschaftsstrukturen;
  4. ein falsches Verständnis von Autorität und
  5. eine Haltung der Verteidigung.

Im zweiten Kapitel liefert Kruger eine Definition von geistlichem Missbrauch. Seinen Aussagen zufolge liegt geistlicher Missbrauch vor, wenn ein geistlicher Leiter (unabhängig davon, ob er sich dabei selbst ausdrücklich auf göttliche Autorität beruft oder nicht) seine Position mit sündigen Methoden (wie z.B. überkritisches, verletzendes, bedrohendes, nicht kritikfähiges oder manipulatives Verhalten) ausübt, um seine eigene Macht und Kontrolle aufrechtzuerhalten, auch wenn er davon überzeugt ist, damit Gottes Reich zu dienen, und der Erfolg seines Dienstes von anderen und sich selbst als Beweis seiner Unschuld angesehen wird. Kruger ist sich dessen bewusst, dass die Anwendung dieser Definition schwierig bleibt, denn geistlicher Missbrauch ist meist eine komplexe Angelegenheit. Das ist vermutlich auch der Grund, warum so wenige Pastoren zur Rechenschaft gezogen werden. Etwas als „geistlichen Missbrauch“ einzustufen, erfordert daher Sorgfalt.

„Geistlicher Missbrauch liegt vor, wenn ein geistlicher Leiter seine Position mit sündigen Methoden ausübt, um seine eigene Macht und Kontrolle aufrechtzuerhalten, auch wenn er davon überzeugt ist, damit Gottes Reich zu dienen, und der Erfolg seines Dienstes von anderen und sich selbst als Beweis seiner Unschuld angesehen wird.“
 

Das dritte Kapitel bietet einen Überblick darüber, was die Bibel zum Thema sagt. Wie Kruger betont, „beseitigt die Bibel missbräuchliche Autoritäten nicht, indem sie alle Autoritäten eliminiert“ (S. 50). Der Gang durch das Alte Testament untersucht geistlichen Missbrauch sowohl in familiären (Adam und Eva nach dem Sündenfall in 1Mose 3) und politischen (Gottes Urteil über die falschen Leiter in Hes 34) als auch priesterlichen Strukturen (Elis Familie in 1Sam 2–3). Dann geht der Autor auf die Lehre von Jesus über dienende Leiterschaft (vgl. Mk 19,43–44) und die Ausführungen der Apostel Paulus und Petrus über die Qualifikationen von Leitern (vgl. 1Tim 3,3; Tit 1,7; 2Tim 2,24; 1Petr 5,2–3) im Neuen Testament ein. Das Ergebnis ist ein biblisches Verständnis für die richtige Anwendung von geistlicher Autorität und gleichzeitig auch eine Warnung, dass Gott nicht nur die anstößigen Hirten, sondern auch diejenigen, die sie beschützen und ihr widerwärtiges Verhalten ermöglichen, zur Rechenschaft ziehen wird.

Versteckte Taktiken

Das vierte Kapitel beantwortet die Frage, warum Gemeinden geistlichen Missbrauch nicht aufdecken und beenden. Warum wird die Spur von Leichen nicht gesehen, die ein missbräuchlicher Leiter hinterlässt? Kruger zeigt neben einer fehlenden oder umgangenen Rechenschaftspflicht drei theologische Irrtümer auf, die von Verantwortlichen beim Kampf gegen geistlichen Missbrauch verstanden werden sollten:

  • Ein unzureichendes Verständnis unserer Sündhaftigkeit traut einem angesehenen Leiter nicht zu, dass dieser seine Position, seine Macht und seinen Einfluss ausnutzen könnte. Dabei wird übersehen: Ein missbräuchlicher Leiter schikaniert natürlich nicht jeden Menschen. Er ist in der Lage, Menschen, denen er zur Rechenschaft verpflichtet ist, freundlich und zuvorkommend zu behandeln. Dies tut er oft außerordentlich geschickt, sodass man leicht davon ausgeht, dass diejenigen, die Vorwürfe und Kritik äußern, überempfindlich seien.
  • Ein falsches Verständnis von Gnade benutzt Aussagen wie „Wir sind alle Sünder“ oder „Alle Sünden sind gleich“ dazu, einen missbräuchlichen Leiter zu verteidigen oder zu meinen, dass die Schuld auf beiden Seiten zu suchen sei.
  • Ein mangelhaftes Verständnis von Versöhnung geht lediglich von einem Konflikt anstelle eines Missbrauchs aus. Weil Spaltungen in der Gemeinde verhindert und Streitigkeiten schnell beigelegt werden sollten, wird auf schnelle Versöhnung gedrängt, ohne sich auf Gerechtigkeit und Rechenschaft zu konzentrieren.

Das fünfte Kapitel konzentriert sich auf das taktische Handeln eines missbräuchlichen Leiters. Über Jahre bauen sich solche Leiter Koalitionen von Verbündeten auf, die sie im Fall von Kritik und Anklagen verteidigen oder sogar gegen die Opfer aussagen. Im Falle einer Anklage verwenden missbräuchliche Leiter oft mehrere Strategien, um das Drehbuch umzudrehen und die Rollen von Opfer und Täter zu vertauschen. Dabei wird die Aufmerksamkeit von den eigenen widerwärtigen Taten auf Nebenschauplätze gelenkt, ein Angriff auf den Charakter des Anklägers gestartet oder die Behauptung aufgestellt, Opfer einer Verleumdung zu sein. Ausgeklügelt versuchen jene Leiter, die eigene Person positiv hervorzuheben, indem sie auf eigene Stärken und Leistungen verweisen, oder die Sympathie-Karte ausspielen, indem der Schmerz beschrieben wird, den diese Anklage bei ihnen und ihren Familien ausgelöst hat.

Langfristige Auswirkungen

Im sechsten Kapitel wechselt Kruger die Perspektive und beschreibt die vielfältigen Auswirkungen, die geistlicher Missbrauch auf die Opfer haben kann. Emotionale Auswirkungen wie Angst, Wut, Schande oder Depressionen können sogar langfristige körperliche Folgen nach sich ziehen. Opfer von Machtmissbrauch stehen auch in der Gefahr, ihre langjährigen Dienste und Beziehungsnetzwerke zu verlieren. Enge Bekannte wenden sich oft gegen sie und betrachten sie als spalterisch, lästig oder verleumderisch. Diese und weitere Auswirkungen betreffen nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Familien (den Ehepartner und die Kinder). Nicht zu unterschätzen sind auch die geistlichen Auswirkungen. Menschen, die über eine lange Zeit Machtmissbrauch erlebt haben, haben aufgrund dieser Erfahrungen nicht nur Zweifel an der (Orts-)Gemeinde oder dem christlichen Glauben, sondern auch an Gottes gutem Charakter und nicht zuletzt an sich selbst. Sie stellen die eigene Urteilsfähigkeit infrage, und ihre Fähigkeit, anderen Menschen zu vertrauen, erleidet Schaden. Das birgt das Risiko, in Isolation zu rutschen. Dieses Kapitel wird gerade Opfern von Machtmissbrauch dabei helfen, sich verstanden zu fühlen.

Das siebte Kapitel bietet einen biblischen Rahmen, um der Gefahr des Machtmissbrauchs zu begegnen. Die vorherrschende Frage lautet, wie eine Kultur ohne Machtmissbrauch aufgebaut und gelebt werden kann. Kruger schlägt eine dreifache Strategie vor:

  • Missbrauch vorbeugen: „Der beste Weg, missbräuchliche Leiter und Pastoren zu stoppen, besteht darin, sie erst gar keine Machtpositionen erreichen zu lassen“, schreibt er (S. 113). Wenn Gemeinden und Werke nach Leitern suchen, sollten sie deutlich machen, dass sie Charakter vor Begabung, Teamarbeit vor Hierarchie und Verantwortlichkeit vor Geheimhaltung setzten. Das kann potentiell gefährliche Leiter aussortieren.
  • Missbrauch erschweren: Gemeinde und Werke sollten Gremien einrichten, die die Macht von Leitern einschränken und echte Rechenschaft ermöglichen. Außerdem empfiehlt Kruger allen Leitern, sich jährlich ein ausführliches Feedback (auch von Frauen) einzuholen, kritische Nachfrager in Aufsichtsgremien zu schätzen und echte Transparenz zu praktizieren.
  • Missbrauch aufarbeiten: Für Opfer von Machtmissbrauch darf es nicht schwierig sein, Verdacht von geistlichem Missbrauch zu äußern. Es braucht daher einen klaren Plan, wie mit Missbrauchsanklagen umgegangen und wie der Schutz der Opfer bei diesem Prozess gewährleistet wird.

Der Anhang bietet Leitern diagnostische Fragen zur Prüfung, wann Leitung zu geistlichem Missbrauch werden kann – etwa dann, wenn der eigene Dienst als einzigartig angesehen wird oder die kleinste Kritik als Angriff wahrgenommen wird.

Ausgewogene Betrachtungen

Die große inhaltliche Stärke des Buches liegt darin, dass Kruger sich bei der Bewertung von geistlichem Missbrauch nicht auf psychologische Konzepte stützt, sondern auf Gottes Wort. Seine Untersuchungen haben einen Fuß in der Bibel und einen in der Praxis. Er verbindet biblische Klarheit und pastorale Weisheit. Als Betroffener wird man beim Lesen eigene Erfahrungen dargestellt finden.

„Wenn Gemeinden und Werke nach Leitern suchen, sollten sie deutlich machen, dass sie Charakter vor Begabung, Teamarbeit vor Hierarchie und Verantwortlichkeit vor Geheimhaltung setzten.“
 

Kruger gelingt es auch, ausgewogen an das Thema heranzugehen und geistlichen Missbrauch gegen falsche Extreme abzugrenzen. Er erkennt etwa an, dass es manchmal andersherum ist und Gemeinden ihre Pastoren „missbrauchen“. Er räumt ein, dass Pastoren schwierige Jobs haben und oft ungerechtfertigte Angriffe erleben. Manche Menschen scheinen heutzutage begierig danach zu sein, falsche Verhaltensweisen aufzudecken. Deshalb schränkt Kruger „geistlichen Missbrauch“ ein, um falsche Anschuldigungen abzuwehren: Wenn geistliche Leiter unfreundlich, einschüchternd, herausfordernd oder verletzend sind, dann können sie (aber müssen nicht zwangsläufig) missbräuchlich sein. Wenn ein Leiter einen Fehler begeht oder mit jemandem keine gute Beziehung hat, muss nicht zwingend Missbrauch vorliegen. Auch die Konfrontation mit dem sündigen Verhalten eines Mitglieds oder Mitarbeiters durch den Leiter ist nicht automatisch Missbrauch. Kruger wird damit nicht zum Opfer einer hypersensiblen Gesellschaft, aber er zeigt gleichzeitig, dass geistlicher Missbrauch ein echtes Problem darstellt und dass es wichtig ist, Behauptungen zu untersuchen, anstatt vorschnell Entschuldigungen für einen Leiter zu finden. Er fordert, dass diese Vergehen gerade aus Liebe zur Gemeinde nicht unter den Teppich gekehrt werden sollen: „Dass die Gemeinde die geliebte Braut Christi ist, ist kein Grund, sich weniger um ihre Schwächen zu kümmern, sondern sich mehr um ihre Schwächen zu kümmern“ (S. 18). Die Gemeinde zu lieben bedeutet, sie geheiligt sehen zu wollen.

Geschätzt habe ich auch Krugers breite und nuancierte Untersuchung des Problems. Er konzentriert sich nicht nur auf die Person des Leiters, sondern behandelt auch sein Umfeld. Manchmal ist nicht nur derjenige, der Missbrauch begeht, das Problem, sondern auch der größere Kontext, der es erlaubt, unangefochten weiterzumachen. Viel zu oft neigen wir dazu, „uns auf den faulen Apfel zu konzentrieren und was daran falsch ist, anstatt auf das Fass zu schauen, in dem er aufbewahrt wird“ (S. 61). Kruger schränkt die Person des Missbrauchstäters auch nicht auf einen harten, unnahbaren Leiter ein. Es gibt subtilere Wege, Menschen zu missbrauchen: „Während einige missbräuchliche Pastoren ‚Feuer‘ verwenden, um ihre Opfer zu verletzen, verwenden andere ‚Eis‘“ (S. 29). Menschen werden dann ignoriert, die Nähe wird ihnen entzogen, bis sie dann stillschweigend aus dem christlichen Dienst entlassen werden.

Ergänzende Literatur

Einige wenige Einschränkungen sollen noch genannt werden: Da das Buch sich an Leiter richtet, erhalten Opfer von Missbrauch darin keinen Leitfaden für den Heilungsprozess, wenngleich es für die Verarbeitung ihrer Erfahrungen hilfreich sein kann. Gerade weil es Gemeindeleiter adressiert, hätte ich mir die Behandlung der Frage gewünscht, ob und wie Umkehr und Wiederherstellung möglich sind. Gibt es Hoffnung für den Täter oder muss ein bestätigter Missbrauchsvorwurf mit der Entfernung aus dem Amt enden?

Diese Begrenzungen schmälern jedoch keinesfalls den wertvollen Beitrag dieses Buches. So überrascht es nicht, dass das Buch Gewinner des Book Awards 2022 der Gospel Coalition in der Kategorie Ministry ist. Es eignet sich als allgemeine Einführung in die Thematik, um sensibel für geistlichen Missbrauch zu werden. Um das Buch nicht als Rechtfertigung misszuverstehen, um von der eigenen Verantwortung als Gemeindeglied abzulenken, kann ergänzend auch Was ist ein gesundes Gemeindemitglied? von Thabiti M. Anyabwile gelesen werden. Als Pastor einer Gemeinde oder als Leiter einer christlichen Organisation bietet dir das Buch Anleitungen zur Selbstreflexion. Das kann schmerzlich, aber hilfreich sein. Auch hier empfiehlt sich eine begleitende Lektüre, um Kritik am eigenen Dienst ausgewogen zu betrachten (z.B. Pastors and their Critics: A Guide to Coping with Criticism in the Ministry von Joel R. Beeke und Nick Thompson). Besonders zu empfehlen ist dieses Buch für dich, wenn du in der Gemeinde oder christlichen Werken Verantwortung als Ältester oder Mitglied in einem Gremium hast. Denn dann stehst du möglicherweise in der Gefahr, einen geistlich missbräuchlichen Pastor oder Leiter zu unterstützen. Dieses Buch wird dir dabei helfen, genauer hinzusehen.

Buch

Michael J. Kruger, Bully Pulpit: Confronting the Problem of Spiritual Abuse in the Church, Grand Rapids: Zondervan: 2022, 177 Seiten, ca. 20 EUR.


[1] Vgl. im deutschsprachigen, evangelikalen Raum: David Johnson & Jeff VanVonderen, Die zerstörerische Kraft des geistlichen Missbrauchs; Inge Tempelmann, Geistlicher Missbrauch: Auswege aus frommer Gewalt; Martina Kessler (Hrsg.), Religiösen Machtmissbrauch verhindern; Markus Liebelt, Was Macht mit Menschen macht.