Wie Jesus die Sicht auf Frauen revolutionierte

Buchauszug von Rebecca McLaughlin
14. April 2023 — 6 Min Lesedauer

Schon als Junge hörte der Historiker Tom Holland auf, an die Bibel zu glauben. Die Götter der Griechen und Römer erschienen ihm viel attraktiver als der gekreuzigte Held des christlichen Glaubens. Nach Jahren der Forschung kam Holland in seinem Buch Dominion jedoch zu dem Schluss, dass selbst der säkulare Mensch im Westen tiefgehend durch das Christentum geprägt ist. Insbesondere weist er nach, dass alle Seiten der heutigen Debatten über Geschlecht und Sexualität auf christliche Vorstellungen zurückgreifen:

„Dass jeder Mensch die gleiche Würde besaß, war auch nicht ansatzweise selbstverständlich. Ein Römer hätte darüber gelacht. Gegen Diskriminierung aufgrund von Gender oder Geschlecht zu Felde zu ziehen, ist nur möglich, wenn viele Menschen die Prämisse teilen, dass jede Person einen Wert hat. Die Ursprünge dieses Grundsatzes … liegen weder in der Französischen Revolution noch in der Unabhängigkeitserklärung noch in der Aufklärung, sondern in der Bibel.“

Im griechisch-römischen Denken waren Männer den Frauen überlegen. Sex war ein Mittel, um das zu beweisen. „Was eingenommene Städte für die Schwerter der Legionen waren, das waren die Körper derer, die man sexuell benutzte, für den römischen Mann“, schreibt Holland. „Ob für Männer oder Frauen – penetriert zu werden bedeutete, als minderwertig markiert zu sein.“ In Rom „benutzten Männer Sklaven und Prostituierte so selbstverständlich zur Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse wie den Straßenrand als Toilette.“ Die Vorstellung, dass jede Frau das Recht hat, über ihren Körper selbst zu bestimmen, hätte man als lachhaft empfunden.

„Das Christentum warf dieses Modell über den Haufen. Frauen galten nicht länger als weniger wert als Männer, denn sie waren ebenso im Bild Gottes erschaffen.“
 

Das Christentum warf dieses Modell über den Haufen. Frauen galten nicht länger als weniger wert als Männer, denn sie waren ebenso im Bild Gottes erschaffen. Männer waren nicht mehr frei, Sklaven und Prostituierte (beiderlei Geschlechts) zu benutzen, sondern sollten einer Frau treu sein oder aber als Ledige in Keuschheit leben.

Das Szenario, wie es im Report der Magd beschrieben wird – ein Mann, der mit einer versklavten Frau schläft –, ist genau eines der Dinge, die das Christentum zum Unrecht erklärte. Der christliche Ehemann sollte seine Frau lieben, wie Christus die Gemeinde geliebt hat (vgl. Eph 5,25). Er durfte sie nicht beherrschen, weil sie körperlich schwächer ist als er, sondern sollte ihr als Miterbin der Gnade des Lebens Ehre erweisen (vgl. 1Petr 3,7). Während römische Familien ihre Töchter oft schon vor der Pubertät verheirateten, war es christlichen Frauen erlaubt, später zu heiraten. Einer Frau, deren Mann verstorben war, wurde zugestanden, allein zu bleiben; sie war aber auch frei, einen Mann ihrer Wahl zu heiraten, solange er zum Herrn gehörte (vgl. 1Kor 7,39–40).

Kein Wunder, dass das Christentum auf Frauen so attraktiv wirkte. Jesus hatte ihre Situation völlig verändert.

Jesu schockierende Beziehung zu Frauen

Wenn wir die Evangelien durch die Brille des 1. Jahrhunderts lesen könnten, würde der Umgang Jesu mit Frauen uns schier umhauen. Das längste (aufgezeichnete) Gespräch, das er mit jemandem geführt hat, war das mit einer samaritanischen Frau von schlechtem Ruf (vgl. Joh 4,7–30). Und das war kein Einzelfall. Immer wieder hieß Jesus Frauen willkommen, die seine Zeitgenossen verachteten.

Einmal war er zum Essen im Haus eines Pharisäers eingeladen, als eine „Sünderin“ dort hereinkam. Sie weinte über den Füßen Jesu, trocknete sie mit ihren Haaren ab und küsste sie. Der Pharisäer war entsetzt: „Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er doch, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt, dass sie eine Sünderin ist!“ (Lk 7,39). Jesus drehte den Spieß jedoch um und erklärte diese Frau zu einem Vorbild der Liebe (vgl. Lk 7,36–50). Er nahm Frauen an, die andere als sexuelle Sünderinnen verachteten. Ebenso waren ihm Frauen willkommen, die als unrein angesehen wurden.

Eines Tages war Jesus auf dem Weg zu einem zwölfjährigen Mädchen, um es zu heilen. Eine Frau, die 12 Jahre an Unterleibsblutungen gelitten hatte, war zu dem Schluss gekommen, dass sie geheilt werden würde, wenn sie nur den Saum seines Gewandes berühren könnte. Sie hatte recht, aber Jesus ging danach nicht einfach weiter. Er ließ sie aus der Menge heraustreten und lobte ihren Glauben (vgl. Lk 8,43–48).

„Kein Wunder, dass das Christentum auf Frauen so attraktiv wirkte. Jesus hatte ihre Situation völlig verändert.“
 

Als Jesus schließlich bei dem kranken zwölfjährigen Mädchen ankam, war sie gestorben, aber es war nicht zu spät. Auf Aramäisch, ihrer gemeinsamen Muttersprache, sagte er zu ihr: „Mädchen, ich sage dir, steh auf!“, und sie stand auf (Mk 5,41). Ob es nun kleine Mädchen waren oder Prostituierte, ob verachtete Ausländerinnen oder Frauen, die durch Blutungen unrein waren, ob verheiratet oder alleinstehend, krank (vgl. Mt 8,14–16) oder behindert (vgl. Lk 13,10–16), Jesus nahm sich Zeit für Frauen und begegnete ihnen mit Zuwendung und Respekt.

Im Lukasevangelium werden Frauen oft mit Männern verglichen, und in den Fällen, in denen es einen Unterschied gibt, kommen die Frauen besser weg. In allen vier Evangelien sind Frauen die ersten Zeugen der Auferstehung Jesu – und das, obwohl zur damaligen Zeit das Zeugnis einer Frau vor Gericht nichts galt.

Die Freundschaft Jesu mit zwei Schwestern gewährt uns einen tieferen Einblick in seine Beziehung zu Frauen. Maria und Martha begegnen uns zuerst im Lukasevangelium, als Jesus in ihrem Haus zu Gast ist. Martha ist mit Dienen beschäftigt. Maria sitzt zu den Füßen Jesu und lernt zusammen mit seinen Jüngern. Martha beschwert sich und verlangt, dass Jesus ihrer Schwester sagt, dass sie ebenfalls bedienen soll.

Aber Jesus antwortet: „Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden“ (Lk 10,42). In einer Kultur, wo man von Frauen erwartete, dass sie dienten und nicht lernten, bestätigt Jesus Maria darin, von ihm zu lernen. Aber Jesus schreibt Martha keinesfalls ab. Johannes erzählt eine andere Geschichte, in der Jesus nach dem Tod ihres Bruders Lazarus ein bemerkenswertes Gespräch mit ihr führt.

Tatsächlich sieht es so aus, als ob Jesus Lazarus unter anderem deshalb sterben ließ, um dieses Gespräch mit Martha – die er liebte (vgl. Joh 11,5) – zu haben. Dabei sprach er jene weltbewegenden Worte:

„Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt; und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben. Glaubst du das?“ (Joh 11,25–26)

Martha glaubte. So wie seither unzählige Frauen.

Buchhinweis

Rebecca McLaughlin, Kreuzverhör: 12 harte Fragen an den christlichen Glauben, cvmd: München 2022, 336 Seiten, ca. 14,90 Euro.