Widerstand und Versuchung
Ein Freund berichtete mir vor etlichen Jahren von einem Besuch bei Renate Bethge. Renate Bethge, die im Juli 2019 verstorben ist, war die Ehefrau von Eberhard Bethge (1909–2000), dem engsten Freund und bedeutenden Biographen Dietrich Bonhoeffers.[1] Sie soll damals im Gespräch darauf verwiesen haben, dass die theologische Entwicklung Bonhoeffers in seinen letzten Lebensjahren die Erwartungen vieler seiner Leser enttäuscht hätte.
Widerstand und Ergebung als Versuchungsgeschichte
Das jetzt erschienene Buch Widerstand und Versuchung geht dieser Spur nach. Der Autor Ralf Frisch liest Widerstand und Ergebung, die gesammelten Fragmente aus der Haft, nicht als wegweisenden Aufbruch, sondern als weitreichende Versuchung. Um Bonhoeffers Spättheologie transparent zu machen, wählt Frisch in drei Kapiteln die Fiktion als Stilmittel. Er hofft, dass durch die Kombination von Imaginationen und reflektierenden Abschnitten, die sorgfältig voneinander unterschieden werden, erhellende Funken auf seine Leser überspringen (vgl. S. 22). Er will herausfinden, was mit Dietrich Bonhoeffer während seiner Zeit in Tegel passiert ist. Um das zu schaffen, hat er die Notizen, Briefe und Gedichte aus der Haftzeit wiederholt studiert. Er ist dabei zu der Auffassung gelangt, dass Bonhoeffers Theologie 1944 ihre Fassung verloren hat, und erzählt seine Entwicklung in den letzten Lebensjahren als eine „Versuchungsgeschichte“ (S. 13).
Religionsloses Christentum als Offenbarungskritik
Es geht vor allem um das Programm, biblische Begriffe nicht-religiös zu interpretieren. Bonhoeffer ist bekanntlich dabei weit über die Religionskritik, die Karl Barth eingefordert hat, hinausgegangen. Er wollte in einer Weise von Gott sprechen, die „die Gottlosigkeit der Welt … nicht irgendwie verdeckt, sondern vielmehr gerade aufgedeckt“.[2] Er führte Formeln ein wie „religionsloses Christentum“, „nicht-religiöse Interpretation“ und „Arkandisziplin“ und dachte an eine „mündige Welt“, die durch ihre Autonomie „vielleicht gerade Gott-näher“ ist „als die unmündige Welt“.[3]
Für Ralf Frisch ging es Bonhoeffer nicht nur um Religionskritik, sondern um Offenbarungskritik. „Denn wer darauf verzichten will, von Gott ‚religiös‘ und ‚metaphysisch‘ zu reden, läutet nicht nur den Anfang vom Ende der Religion, sondern auch den Anfang vom Ende der Theologie und letztlich auch den Anfang vom Ende des christlichen Glaubens ein“ (S. 59). Frisch im O-Ton: „Man kann nicht dem metaphysischen Gott den Laufpass geben und sich zugleich von guten Mächten wunderbar geborgen in diesem Gott wiederfinden“ (ebd.).
Friedrich Nietzsche als Mentor
Der große Versucher war für Bonhoeffer laut Frisch übrigens Friedrich Nietzsche. Er habe sich von der metaphysikkritischen Logik des Philosophen vereinnahmen lassen. Nur so ließe sich verstehen, dass bei Bonhoeffer an die Stelle Gottes mitten im Leben das Leben ohne Gott getreten sei (vgl. S. 120–121).
Dass diese Versuchung bis heute als großes theologisches Verdienst und richtungsweisender Entwurf angepriesen wird, ist nach Frisch fatal. Die Geister, die Bonhoeffer aus der Flasche gelassen habe, beflügelten die Probleme des Gegenwartsprotestantismus. Sein Programm der Entgrenzung der Kirche sei identisch mit dem Programm der Selbstabschaffung der sichtbaren Kirche (vgl. S. 74). „Drei Generationen nach Bonhoeffers Tod scheint die Zeit gekommen, sich Bonhoeffers Theologie neu und anders anzunähern – nicht mehr mit verklärendem Augenaufschlag oder dem anderen Extrem, der allzu liberalen Indifferenz gegenüber einem seltsamen Heiligen“ (S. 20).
Fazit
Das Buch liest sich kurzweilig und manche Betrachtungen und Skizzen klingen plausibel. Hin und wieder tauchen freilich steile Mutmaßungen auf. Frisch berücksichtigt meines Erachtens zu wenig, dass Bonhoeffer nur „laut gedacht“ hat und sich selbst darüber im Klaren war, dass seine Gedanken nicht ausgereift sind. Wenn Frisch etwa vorsichtig andeutet, dass Bonhoeffer sich selbst „nicht nur für erwählt hielt, sondern sich als eine Art Stellvertreter in einem soteriologischen, heilsgeschichtlichen Zusammenhang“ sah, dann erwarte ich als Leser handfeste Belege, nicht Andeutungen. Frisch fragt lediglich: „Schrieb er am 5. Oktober 1944 vielleicht deshalb das Gedicht ‚Jona‘, weil er sich mit dem Propheten identifizierte und als stellvertretendes Opfer begriff?“ (S. 10). Nichtsdestotrotz war die Lektüre anregend und lohnend. Und irgendwie ist es tröstlich, dass der Autor es für möglich hält, dass Bonhoeffer am Ende seine Fassung wiedergefunden hat.
Buch
Ralf Frisch, Widerstand und Versuchung: Als Bonhoeffers Theologie die Fassung verlor, Theologischer Verlag Zürich, 2022, 172 S., 19,90 Euro.
[1] Vgl. Dietrich Bonhoeffer: Eine Biographie: Theologe – Christ – Zeitgenosse, 9., korrigierte Aufl. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2005 (1968).
[2] Widerstand und Ergebung. Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 8, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2015, S. 537.
[3] Ebd.