Wie man die Kultur anspricht, ohne das Evangelium zu verlieren
Sieben Fragen an Michael Horton
Was sind die größten Herausforderungen, vor denen die Kirche heute steht?
Die größte Herausforderung, vor der die Kirche immer steht, ist die Frage, ob sie das Evangelium verkündet oder nicht. Ich rede nicht davon, ob die Welt unsere Verkündigung zulässt – obwohl die Religionsfreiheit immer ein Thema ist und es viel Feindseligkeit in postchristlichen und islamischen Kulturen gibt –, sondern davon, ob wir glauben, dass das Evangelium immer noch Gottes Kraft zur Errettung ist (vgl. Röm 1,18). Auch meine ich damit nicht, was liberale Christen aus dem Evangelium machen, indem sie es im Grunde neu erfinden, sodass es Menschen bestätigt, die sich selbst für anständig und gut halten. Nein, diese Herausforderung betrifft auch evangelikale Gemeinden. Wir sind gelangweilt, und seien wir uns ehrlich: Größtenteils ist die Art und Weise, wie gepredigt und gelehrt wird, leider tatsächlich langweilig. So fangen wir an, das Evangelium für selbstverständlich zu halten. Wir sehen es als das ABC des Glaubens, das wir brauchten, um Christen zu werden. Jetzt müssen wir uns aber auf das Leben als Christen konzentrieren. Als ob das Evangelium uns die nötige Starthilfe gegeben hätte und wir jetzt wieder auf uns allein gestellt wären (vgl. Gal 3,3). Dadurch ordnen wir das Evangelium vermeintlich wichtigeren und interessanteren Dingen unter.
Auch können wir das Evangelium im Namen von Kontextualisierung und Mission (oder einfach nur dadurch, dass wir nicht achtgeben) langsam an kulturelle Denkgewohnheiten anpassen. Das geschieht langsam und unbemerkt – wie beim Frosch im kochenden Wasser. In einer stark therapeutisch geprägten Gesellschaft können wir zwar Worte wie „Sünde“ und „Erlösung“ benutzen. Wir meinen (oder unser Gegenüber hört) dabei jedoch „Störung“ und „Besserung“. In dieser Kultur ist es sehr schwierig, Menschen den Ernst ihrer Lage verständlich zu machen: Es gibt einen Gott außerhalb von uns, der uns eines Tages richten wird, und keinerlei Hoffnung, wenn wir nicht mit der Gerechtigkeit Christi bekleidet sind.
Viele Menschen denken, Religion sei dafür da, sie zum Erreichen ihrer eigenen Lebensziele anzufeuern. Das ist jedoch nicht das Evangelium, sondern das Gesetz, und zwar nicht einmal Gottes Gesetz. Was wir brauchen, ist das Gesetz Gottes – seine Sicht auf die Dinge und auf uns –, um uns die Wahrheit vorzuhalten. Heutzutage lassen viele Menschen Gott eine Nebenrolle in ihrem eigenen Lebensfilm einnehmen, aber sie ärgern sich, wenn wir ihnen sagen: „Nun, eigentlich stirbst du in dieser Szene und Gott erweckt dich in Christus als neue Figur in der großartigsten Geschichte, die je erzählt worden ist.“ Wer durch das Evangelium gerettet wurde, weiß, wie kraftvoll es ist, in Christus zu sein, in dem wir unsere Erwählung, Erlösung, Rechtfertigung, Adoption, Heiligung und Verherrlichung finden. Da die Kirche durch das Evangelium entsteht, wächst das Reich Christi in dem Maße, in dem das Evangelium treu gepredigt wird. So erkennen Menschen, dass dieser Tod in Wirklichkeit ihr Leben ist.
Viele Menschen treten gerade aus der Kirche aus. Warum sollten wir uns um ihre Probleme kümmern?
Viele Menschen verlassen zurzeit die Kirche, weil ihnen das, was die Welt zu bieten hat, besser gefällt. Nur selten treffe ich auf Menschen, die unsere heutige Kultur und die Rolle der Kirche darin wirklich verstehen. Im Großen und Ganzen schließt man sich entweder dem Lager der Kulturverächter an (zumindest den Verächtern der Hochkultur, während man doch in der Popkultur versinkt) oder dem anderen Lager, welches seine Seele verkauft, um nur akzeptiert und angenommen zu werden – und das zu Bedingungen, die einer Kapitulation gleichkommen.
Ich bin nicht der Meinung, dass jeder ein Kulturanalytiker sein muss. Ein Pastor hat Wichtigeres zu tun, wie etwa sich um seine Schafe zu kümmern. Ein wichtiger Teil dieser Fürsorge ist es jedoch, einige der Gründe zu verstehen, warum viele Menschen die christliche Botschaft nicht mehr überzeugend, dafür aber andere Botschaften bedeutsam finden. Immer weniger Kirchen betrachten das Evangelium als den Weg, um Menschen zu gewinnen und sie auch im Glauben zu festigen.
Ich glaube nicht, dass die Leute uns die Türen einrennen werden, wenn wir einfach nur das Evangelium predigen. Das ist nicht immer der Fall. Wenn wir das Evangelium jedoch nicht als die Botschaft betrachten, welche die Kirche entstehen und wachsen lässt, können wir uns sicher sein, dass eine solche Kirche – ob groß oder klein – nicht zum Herrschaftsbereich Christi gehört, sondern zu dem eines anderen.
Was ist das Evangelium?
Das Evangelium lautet wie folgt: Jesus, der menschgewordene Gott, wurde gekreuzigt und begraben und ist wieder auferstanden. Danach erschien er Petrus, den anderen Jüngern und einer großen Zahl von Menschen (vgl. 1Kor 15,1–5). Er ist „um unserer Übertretungen willen dahingegeben und um unserer Rechtfertigung willen auferweckt worden“ (Röm 4,25). Wenn ich sage, dass sich alles am Evangelium ausrichten muss, meine ich damit nicht, dass man immer und immer wieder Johannes 3,16 wiederholen soll. Ich meine damit, dass man die große Geschichte der Erlösung von 1. Mose bis zur Offenbarung erzählt: Christus als der wahre Tempel, das Lamm Gottes, der Hohepriester, Prophet und König, der größere Sohn Abrahams und Davids.
Durch die ganze Schrift hinweg ist der dreieinige Gott der wahre Held der Geschichte. Was bedeutet es, Teil dieser neuen Schöpfung zu werden, die mit der Auferstehung Christi angebrochen ist? Evangelium bedeutet „Gute Nachricht“ und bezog sich in der antiken Welt auf die Verkündigung des Sieges auf dem Schlachtfeld, die ein Läufer zur Hauptstadt tragen würde. Das Evangelium ist dementsprechend alles, was in der Schrift unter die Kategorie von Gottes Verheißungen fällt, die sich um den kommenden Messias drehen. Das Gesetz ist alles in der Schrift, was die gerechten Gebote Gottes offenbart. Es zeigt uns unsere Sünde und unsere Hilflosigkeit, Gottes Wohlwollen durch unsere eigenen Taten zu erreichen. Außerdem leitet es auch alle, die durch den Geist in Christus sind. Aber einzig und allein das Evangelium zeigt uns, dass der Vater seinen Sohn für uns gegeben hat. Halte den Menschen das immer wieder vor Augen, und sie werden sich als solche verstehen, die durch den Geist selbst als Figuren in dieses sich entfaltende Drama hineingeworfen werden. Zeig ihnen auch das Gesetz und wie Gottes Güte, Wahrheit und Schönheit sich in seiner Rechtschaffenheit, Heiligkeit und Gerechtigkeit zeigt. Das in Kombination mit dem Evangelium der Liebe und Gnade Gottes ist absolut überwältigend.
Wie ruft uns das Evangelium dazu auf, auf unsere Nächsten zuzugehen, ohne dabei offensiv oder gleichgültig zu sein?
Es fasziniert mich, wie sowohl Martin Luther als auch Johannes Calvin in der Schrift nicht nur die Wahrheit über die Errettung, sondern auch über die Schöpfung fanden. Ich würde nicht sagen, dass uns das Evangelium dazu „aufruft“, auf unseren Nächsten zuzugehen. Der Kern des moralischen Gesetzes ist Liebe, was aber unmöglich ist, wenn wir „unter dem Gesetz“ sind und das bedeutet, dass wir das Gesetz vollkommen perfekt halten müssen. Paradoxerweise sind wir erst dann dazu befreit, unseren Nächsten das erste Mal wirklich aus den richtigen Motiven zu lieben, wenn Christus uns erfüllt, unser Gericht für unsere Übertretungen trägt und den Heiligen Geist sendet, um uns durch diese Gute Nachricht zu erneuern. Unsere Nächsten sind nicht dazu da, um Punkte bei Gott zu sammeln. Gott benötigt unsere guten Werke nicht. Für wen sollen wir dann gute Werke tun? Für unseren Nächsten, der sie benötigt! Das war die Antwort der Reformatoren auf der Grundlage der Schrift. Calvin sagte, dass das sechste Gebot, welches Mord verbietet, auf der Erschaffung des Menschen im Ebenbild Gottes beruht. Das bedeutet, dass wir unseren Nächsten um der Tatsache willen lieben, dass wir als Gottes Stellvertreter die Menschlichkeit gemeinsam haben – sogar, wenn unser Gegenüber lieblos oder uns feindlich gesinnt ist.
„Da wir vom Gesetz als der Bedingung für unsere Gerechtigkeit vor Gott befreit sind, können wir endlich andere lieben und ihnen dienen.“
Das Evangelium ruft uns strenggenommen zu nichts anderem auf, als auf Christus zu vertrauen, der schon alles für uns getan hat. Die aber, die Christus durch den Geist und das Geschenk des Glaubens rechtfertigt, die heiligt er auch. Heiligung hat mehr mit unserem Nächsten zu tun als mit uns selbst. Anders ausgedrückt: Biblische Religiosität dreht sich einzig und allein um Liebe. Das klingt ziemlich einfach, nicht wahr? Aber genauso ist es. Es ist so einfach zu glauben, aber so schwer zu leben. Jetzt, da wir vom Gesetz als der Bedingung für unsere Gerechtigkeit vor Gott befreit sind, können wir endlich andere lieben und ihnen dienen. Nun aber aus Dankbarkeit für die Gnade Gottes und aus Wertschätzung darüber, dass Gott mir diesen anderen Sünder vor meine Füße stellt, um seine Füße zu waschen.
Im Mittelalter riefen die Ritter: „Christus ist der Herr“, während sie bei den Kreuzzügen die Schädel der Ungläubigen spalteten. Für die Kirche reicht es nicht, die richtige Botschaft zu haben. Bei den Vertretern des Königreiches Christi muss ein Nichtchrist sagen können: „Das, wovon sie reden – zum Beispiel die Barmherzigkeit, Gnade und Liebe Gottes in Christus – passt tatsächlich zu der Art und Weise, wie diese Menschen leben.“ Wenn wir aber hinter dem Rücken über andere reden und lästern, ist es egal, was wir mit „aus Gnade gerettet“ meinen, denn dann ist es nicht das, was das Neue Testament darunter versteht. Wenn wir anderen Sündern (und sogar anderen Christen) gegenüber arrogant sind, weil wir wissen, dass wir völlig verdorben sind und keinerlei Grund für geistlichen Stolz haben, ist das seltsam – und ironisch. Außerdem ist es Sünde, von der Buße getan werden muss. Lasst uns auf Nichtchristen zugehen als Sünder, denen vergeben ist, als der verlorene Sohn im Gleichnis von Jesus, und nicht wie sein herablassender älterer Bruder.
Wie sollen Christen die Kultur ansprechen, ohne dabei das Evangelium zu verlieren?
Wir sprechen nicht wirklich Kulturen an, sondern Menschen: den eigenen Ehepartner, die Familie, den Nachbarn, einen Mitarbeiter und so weiter. Wie ich bereits erwähnt habe, gibt es spezifische kulturelle Kontexte. Aber in den meisten Fällen haben wir es mit Menschen zu tun, die sich um die ziemlich allgemeinen Aspekte des menschlichen Daseins drehen: die Freude einer Geburt, die Sorgen des Lebens, und die Schmerzen und Ängste des Alters. „Die Kultur ansprechen“ kann zur Abstraktion werden, zu einem Vorwand, durch den ich meinen Nächsten, der direkt vor meiner Nase ist, ignoriere, obwohl er gerade meine Hilfe braucht. Vielleicht ist es meine Frau, um die ich mich in letzter Zeit zu wenig gekümmert habe; oder der Nachbar, dessen Auto auf dem Weg zur Arbeit kaputtgegangen ist, und du weißt, wie man es reparieren kann.
„Lasst uns auf Nichtchristen zugehen als Sünder, denen vergeben ist, als der verlorene Sohn im Gleichnis von Jesus, und nicht wie sein herablassender älterer Bruder.“
Und ja, manche sind dazu berufen, ihre Zeit damit zu verbringen, sich mit den Umständen zu beschäftigen, die uns zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten lenken. Sie können uns enormen Einblick darüber verschaffen, wie wir in diesem bösen Zeitalter leben, welches immer noch von Gottes allgemeiner Gnade durchdrungen ist. So können auch Nichtchristen uns helfen zu verstehen, was gerade vor sich geht: sozial, ökonomisch, politisch, in der Bildung, der Kunst, der Unterhaltung und in anderen wichtigen Bereichen der Kultur. Aber das ist nur eine Berufung unter vielen. Wenn wir einfach nur Salz und Licht an den Orten wären, an die Gott uns gestellt hat, würden wir weniger darüber reden, „unsere Kultur anzusprechen“.
Was können Christen tun, um den Glauben an die nächste Generation weiterzugeben?
Auch hier fängt es im kleinsten Kreis an: unsere eigenen Kinder und Enkelkinder, dann die Familie Gottes in unserer Ortsgemeinde. Es wird gesagt, dass die meisten jungen Erwachsenen dem Glauben noch vor dem dritten Studienjahr den Rücken zukehren. Das ist ein Skandal. Warum finden sie diese anderen Geschichten so fesselnd, dass sie die „in Christus“-Geschichte, in die sie durch Katechese und Predigt hineingetauft und hineingewachsen sind, für eine andere „in Adam“-Geschichte dieses vergehenden Zeitalters aufgeben wollen? Tauchen wir sie wirklich in diese Geschichte ein? Wird der Dienst des Wortes und des Sakramentes treu ausgeführt? Und zwar nicht nur von der Kanzel, dem Taufbecken und dem Abendmahlstisch, sondern auch in unseren Jugendgruppen, auf Familienfreizeiten und bei regelmäßigen Interaktionen unter der Woche?
Wir müssen aufhören, die jungen Menschen in unserer Gemeinde als selbstverständlich zu betrachten. Sie sind nicht „die Kirche von morgen“, sondern Teil der heutigen Kirche, die Schafe, zu denen Christus uns beruft, sie zu weiden und zu pflegen. Sie brauchen mehr Apologetik als Pizza, mehr Möglichkeiten, aufrichtig Fragen zu stellen und diese auch beantwortet zu bekommen, als Rock-Konzerte. Sie brauchen aber auch eine glaubwürdige Gemeinde, die die Wahrheit des Evangeliums widerspiegelt. Das heißt nicht, dass es eine Gemeinde aus perfekten Menschen oder Besserwissern sein soll (was sowieso nur zu Enttäuschung, Verzweiflung und Zynismus führt), sondern aus Sündern, die sich jede Woche zusammenfinden, um Buße zu tun und an das Evangelium zu glauben und gemeinsam in einer Gemeinschaft von Pilgern verbunden zu sein.
Was ist deine Hoffnung für die Zukunft der Kirche in Anbetracht all dieser Herausforderungen?
Jesus hat versprochen, seine Gemeinde zu bauen „und die Pforten des Totenreiches sollen sie nicht überwältigen“ (Mt 16,18). Weil er als Erstling der neuen Schöpfung schon von den Toten auferstanden ist, ist seine Verheißung besser als Gold. Daher habe ich völliges Vertrauen darauf, dass die Zukunft sehr gut aussieht. Das heißt nicht, dass der Weg zu diesem Ziel immer fröhlich und siegreich ist. Das ist er nie gewesen. Was mich jedoch beruhigt, sind diese Worte von Jesus: „die Pforten des Totenreiches sollen sie nicht überwältigen“. Die Welt ist schon immer feindselig gesonnen gewesen, aber Christus siegt weiterhin durch sein Wort und seinen Geist. Das Königreich Christi wird nicht zurückgedrängt. Es gibt keinerlei Rückzug, wenn Jesus verspricht, dass trotz allem ein kleiner Überrest übrig bleibt. Nein, das Totenreich wird seine Tore nicht davor bewahren können, vom Evangelium vernichtet zu werden.
Ich sehe auch viel Ermutigendes um mich herum, das mir zeigt, dass Jesus sein Versprechen einlöst: Ich hatte die Freude, auf verschiedenen Konferenzen zu sprechen – primär im globalen Süden. Da kamen tausende Menschen unter großen persönlichen Opfern (manchmal sogar unter Lebensgefahr), weil sie hungrig nach den Lehren der Gnade waren. Die meisten von ihnen sind unter 30 Jahre alt. Auch im Westen finden zehntausende von jungen Pastoren und Laien zu einem tieferen, biblischen Glauben. Trotz der Herausforderungen, denen wir in dieser, aber auch in jeder anderen Generation begegnen, ist es wie Rückenwind, solche Dinge zu sehen.