Biblical Critical Theory

Rezension von Jochen Klautke
2. Juni 2023 — 11 Min Lesedauer

Vor ziemlich genau zehn Jahren übersetzte ich für meine Abschlussprüfung an der Universität einige Bücher aus dem Werk Vom Gottesstaat des Kirchenvaters Augustinus (354–430). Ich war begeistert von seiner Kulturanalyse und vor allem davon, wie er die heidnisch-römische Kultur seiner Zeit der biblischen Heilsgeschichte kritisch gegenüberstellt.

Während sich die Heilsgeschichte mit den Jahrhunderten nicht ändert, ändern sich Kultur und Gesellschaft: Königreiche kamen und gingen seit den Tagen des Augustinus, Ideologien wurden erdacht und gingen unter. Inspiriert durch Vom Gottesstaat hat der australische Literaturwissenschaftler Christopher Watkin in Biblical Critical Theory Augustinus’ Ansatz für unsere heutige Zeit aufgegriffen, die gegenwärtige Kultur vor dem Hintergrund der christlichen Heilsgeschichte zu analysieren und zu kritisieren. Das Ergebnis ist eine Mischung aus einer Biblischen Theologie, einem Überblick über Weltanschauungen, einer Apologetik und einer Einführung in die christliche Ethik.[1]

Zielsetzung und Aufbau

Für Watkin stellt sich nicht nur die Frage nach Wahrheit, sondern auch die Frage, welchen Unterschied die Wahrheit macht. Das Ziel des Buches ist, nicht nur zu zeigen, dass das Christentum wahr ist, sondern den Leser dahin zu bringen, dass er will, dass das Christentum wahr ist.

Der Autor beginnt mit einer ausführlichen Einleitung (S. 1–32), in der er seine Methodik darlegt. Anschließend geht er in 28 Kapiteln weitgehend chronologisch die biblische Heilsgeschichte durch, bis er abschließend ein kurzes Fazit zieht. Die einzelnen Kapitel beginnen bei Gottes Dreieinigkeit. Weiter geht es mit der Schöpfung, dem Menschen, der Sünde und ihren Folgen. Über Lamech, Noah, die Sintflut und den Turmbau zu Babel kommt Watkin auf den Bund mit Abraham zu sprechen. Von da an behandelt das Buch Themen aus dem Rest des Alten Testaments (Mose, Propheten, Weisheit), um schließlich mit dem Kommen von Jesus, seinem Leben, Sterben und Auferstehen und der Wiederherstellung aller Dinge zu enden.

Die Methodik von Biblical Critical Theory

Laut Watkin helfen uns sechs Dinge dabei, die Kultur zu verstehen: Sprache; Ideen und Geschichte; Zeit und Raum; die Struktur der Realität; Verhalten; Beziehungen und Objekte. Diese Figuren sind auf das Engste mit uns verbunden; wir können uns ihnen nicht entziehen. Die verschiedenen Figuren stehen in Beziehung zueinander und keine kontrolliert alle anderen.

Das konkrete Zusammenspiel der Figuren in einer bestimmten Zeit ist das, was man oft Weltanschauung nennt – die Welt, wie wir sie wahrnehmen. Menschen nehmen zwar dieselben Figuren wahr, je nach ihrer Weltsicht interpretieren sie aber diese Figuren und deren Beziehung zueinander völlig unterschiedlich.

Watkins Ziel ist es, die gegenwärtige Welt (das Zusammenspiel der gegenwärtigen kulturellen Figuren) in Beziehung zu den Figuren zu bringen, wie sie uns die Bibel offenbart. Ausgehend von den Wahrheiten der Heiligen Schrift möchte er die gegenwärtige Weltanschauung angesichts dessen kritisieren.

Setzt unsere heutige säkulare Kultur Figuren in Beziehung zueinander, beobachtet Watkin eine Einseitigkeit in der Betonung. Zudem wird die Realität oft in zwei nicht miteinander vereinbare Pole gespalten (z.B. Glauben vs. Wissenschaft oder Kollektivismus vs. Individualismus). Die biblische Alternative und Antwort darauf ist weder das unvereinbare Gegenüberstellen noch ein fauler Kompromiss der beiden Pole, sondern die Diagonalisierung auf Grundlage der Heiligen Schrift.

„Es geht darum, nicht nur die biblische Geschichte als die bessere Geschichte zu erzählen. Es geht vielmehr darum die größere Geschichte zu erzählen, in der alle anderen Geschichten ihren Platz finden.“
 

Unter Diagonalisierung versteht Watkin ein oft überraschendes Miteinander zweier Figuren, die unsere Kultur für gegensätzlich hält. Dieses Vorgehen hat eine reiche Tradition in der Kirchengeschichte, angefangen von Augustinus über Luther und Herman Bavinck bis hin zu C.S. Lewis, John Frame und Cornelius Van Til. Dabei handelt es sich nicht um eine einfache Synthese, keinen Kompromiss, sondern einen überraschenden dritten Weg, der die vorherigen beiden Pole unattraktiv erscheinen lässt.

Die Diagonalisierung führt zu dem, was zeitgenössische Gelehrte als Out-Narrating bezeichnet haben. Dabei geht es darum, nicht nur die biblische Geschichte als die bessere Geschichte zu erzählen. Es geht vielmehr darum – wie Augustinus in Vom Gottesstaat – die größere Geschichte zu erzählen, in der alle anderen Geschichten ihren Platz finden.

Warum „Kritische Theorie“?

Gegenwärtige kritische Theorien beschreiben nicht einfach das Miteinander der Figuren in der Gegenwart, sondern wollen dieses Miteinander prägen und verändern. Solche Theorien haben das Ziel, zur Brille zu werden, durch die die gesamte Realität wahrgenommen wird.

„Es geht Watkin nicht darum, die gegenwärtigen Trends der Kultur christlich anzustreichen, sondern sie grundlegend herauszufordern.“
 

Insofern geht es Watkin nicht darum, die gegenwärtigen Trends der Kultur christlich anzustreichen, sondern sie grundlegend herauszufordern. Er hat nicht das Ziel, der momentanen Kultur einen weiteren Christus zu präsentieren, der dieser Kultur nachgebildet ist (ein marxistischer Jesus, ein Hippie-Jesus, ein postmoderner Jesus …). Vielmehr möchte er die Kultur mit dem biblischen Christus konfrontieren, indem er die Kultur im Rahmen der biblischen Heilsgeschichte erklärt. Den säkularen kritischen Theorien stellt er eine alternative – biblische – kritische Theorie gegenüber.

Wie sehen die Diagonalisierung und das Out-Narrating in der Praxis aus? Dazu geht Watkin im Anschluss an seine methodische Darlegung in den weiteren Kapiteln die biblische Heilsgeschichte durch. Ich möchte beispielhaft am ersten Kapitel zum Thema Gott zeigen, wie Watkin dabei seine Methodik anwendet.

Beispiel: Gottes Personalität und Absolutheit

Watkin behandelt zunächst einige Eigenschaften Gottes. Gott ist gemäß der Heiligen Schrift sowohl personal als auch absolut. Dieses Gottesbild des Christentums ist einzigartig. Watkins stellt nun die Frage: Welchen Unterschied macht es für unsere Weltanschauung, dass Gott so (und nicht anders) ist?

Da Gott personal ist, geht Personalität der Schöpfung voraus und ist kein Ergebnis der Evolution. Deswegen hat jeder Mensch von Anfang an eine bleibende, persönliche Würde. Gleichzeitig ist Gott absolut. Das bedeutet, er ist in keiner Weise abhängig von seiner Schöpfung. Watkin diagonalisiert nun Gottes Absolutheit und Personalität miteinander. Die Bibel zeigt, dass zwischen der Personalität Gottes und seiner Absolutheit keine falsche Dichotomie besteht und man auch nicht einfach eine Synthese aus beiden bilden darf.

Angewandt auf unsere Kultur bedeutet Gottes vollkommene Absolutheit, dass die Wissenschaft aufgrund der Vorhersagbarkeit von Dingen möglich ist. Aber aufgrund von Gottes Personalität sind ebenso Kunst und Kreativität gute Dinge. Beides hat seinen Platz in der Kultur, weil Gott sowohl personal als auch absolut ist. Da alle anderen Weltanschauungen ein anderes Gottesbild haben, das entweder das eine oder das andere überbetont, überbetonen diese Kulturen dann auch entweder Ordnung oder Kreativität, Gesetz oder Liebe, Wissenschaft oder Kunst.

Ein einzigartiges Buch

Diese Methode der Diagonalisierung wendet Watkin pro Kapitel jeweils mindestens einmal an, oft auch mehrmals. Seine Ergebnisse sind oft erfrischend und lösen beim Leser das eine oder andere Aha-Erlebnis aus. Für Christen ist das Buch vorrangig deswegen glaubensstärkend, weil es zeigt, wie das Christentum diese Welt treffend beschreibt. Watkin öffnet dem Leser die Augen für das, was C.S. Lewis einmal folgendermaßen formulierte:

„Ich glaube an das Christentum, so wie ich glaube, dass die Sonne aufgegangen ist, nicht nur, weil ich sie sehe, sondern weil ich durch sie alles andere sehen kann.“
„Für Christen ist das Buch vorrangig deswegen glaubensstärkend, weil es zeigt, wie das Christentum diese Welt treffend beschreibt.“
 

Aufgrund der riesigen Fülle an Stoff kann Watkin natürlich weder seine theologischen Positionen ausführlich aus der Bibel herleiten noch alle Diagonalisierungen detailliert begründen. Das ist jedoch verständlich – gerade angesichts der Tatsache, dass das Buch trotz der Kürze der Kapitel über 600 Seiten umfasst.

Neben dem überaus positiven Gesamteindruck habe ich dennoch einige Anfragen an Watkin. Auf zwei von ihnen möchte ich näher eingehen.

Ein missverständlicher Buchtitel

Als ich das Buch zum ersten Mal sah, löste der Ausdruck Critical Theory im Buchtitel Stirnrunzeln bei mir aus. Leser aus dem englischen Sprachraum denken vermutlich an die gegenwärtigen Debatten um die Critical Race Theory, Leser im deutschsprachigen Raum an die Frankfurter Schule und die 68er.

Watkin erläutert, warum er von kritischen Theorien spricht. Sie sind zunächst einmal Theorien, die nicht nur den Ist-Zustand beschreiben, sondern diesen auch zu ändern versuchen (S. 29–30; s.a. Timothy Kellers Vorwort, S. xv–xvi). Genau das möchte Watkin mit seinem Buch erreichen, indem er mithilfe der Diagonalisierung und des Out-Narratings die säkularen kritischen Theorien unserer Zeit durch eine biblische kritische Theorie hinterfragt. Das Anliegen ist nachvollziehbar und von ihm weitgehend erfolgreich umgesetzt. Allerdings lässt der Begriff der kritischen Theorie sofort an die säkularen Varianten denken, die – aufgrund der gegen das Christentum ausgerichteten Weltanschauung dahinter – bei bibeltreuen Christen (zu Recht) auf Ablehnung stoßen. Da der Titel (ohne Erklärung) das Erste ist, was ins Auge springt, hätte Watkin wohl besser daran getan, einen weniger missverständlichen Buchtitel zu wählen.

Diagonalisierung und Todeswerke

Meine zweite Anfrage richtet sich an die Analyse der gegenwärtigen Kultur, die Watkin vornimmt. Er schreibt:

„Wir leben zu einem seltsamen Zeitpunkt der Geschichte: Unsere kulturellen Annahmen und Werte haben immer noch eine christliche Prägung (engl. Christian imprint), während die Lehren der Bibel gleichzeitig weitgehend verkannt, missverstanden oder verdammt werden.“ (S. 15)

Diese Analyse stimmt sicherlich (immer noch) für einige Bereiche unserer Kultur, aber längst nicht mehr für alle. Je weiter sich unsere westliche Kultur von der christlichen Weltanschauung entfernt, desto mehr wenden sich die Ideologien ausdrücklich gegen die biblische Schöpfungsordnung. Bei Erscheinungsformen unserer Kultur wie Abtreibung, Pornographie, Gender Mainstreaming oder der radikalen Klimabewegung stellt sich die Frage, wo dort überhaupt noch Reste einer christlichen Prägung gefunden werden können. Diese Dinge (und vor allem die praktischen Versuche, sie in der Gesellschaft durch Protestaktionen, Kunst oder Medien salonfähig zu machen) sind vielmehr das, was der Soziologe Philip Rieff als Todeswerke bezeichnet hat. Solche Todeswerke versuchen die Weltanschauung der Menschen so zu verändern, dass die alten Ordnungen (in unserem Fall: die christlichen) nicht nur anders oder falsch, sondern lächerlich erscheinen.

Es wäre spannend, von Watkin zu erfahren, ob er seine Methodik auch bei Todeswerken für anwendbar hält. Mein Eindruck ist, dass für die Diagonalisierung von kulturellen Erscheinungsformen die christliche Prägung notwendig ist, um einen Anknüpfungspunkt zu haben. Hat man es jedoch mit bewusst gegen das Christentum gerichteten Todeswerken zu tun, scheint Watkins Methodik keine Anknüpfungspunkte zu haben. Es ist zumindest auffallend, dass Watkin die genannten Todeswerke, die bekanntlich in allen westlichen Ländern immer mehr die Kultur dominieren, nur sehr am Rand behandelt.

Diese Anfragen sollen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei Biblical Critical Theory aufgrund seiner Herangehensweise und seiner Breite um ein sehr empfehlenswertes Buch handelt.

Von wem und wie sollte das Buch gelesen werden?

Das Buch liegt bisher leider nur in englischer Sprache vor und ist anspruchsvoll geschrieben. Deutschsprachige Leser, die von dem Buch profitieren wollen, sollten mit dem Lesen englischer Sachtexte und mit den Grundbegriffen westlicher Philosophie vertraut sein. Selbst englischsprachige Rezensenten empfehlen, das Buch in kleinen Abschnitten zu lesen (am besten ein Kapitel pro Einheit) und den Inhalt anschließend zu „verdauen“. Hilfreich sind dafür die Fragen am Ende eines jeden Kapitels.

Fazit

Zu oft neigen wir dazu, unser Leben in einen geistlichen und einen alltäglichen Bereich aufzuspalten. Gott ist dann zwar derjenige, der das Problem unsere Sünde gelöst hat und uns Hoffnung für die Zeit nach dem Tod gibt. Antworten auf viele andere große Fragen unseres Daseins suchen wir hingegen nicht in der biblischen Weltsicht, sondern übernehmen (oft unbewusst) die Antworten, die uns unsere säkulare Kultur gibt.

Augustinus’ Vom Gottesstaat prägte mit seiner biblisch-heilsgeschichtlichen Perspektive die westliche Welt über Jahrhunderte maßgeblich. Wenn Biblical Critical Theory nur einen Bruchteil dieser Wirkung erreichen würde, wäre das ein großer Gewinn. In den USA war die erste Auflage bereits vor dem offiziellen Erscheinungsdatum im Dezember letzten Jahres ausverkauft und das Buch wurde dort sehr breit rezipiert. Beten wir, dass viele Christen – gerade Leiter – durch dieses Buch auch hier in Europa in ihrer biblischen Weltanschauung (neu) ausgerichtet werden – mit dem Ziel, dass alle Kinder Gottes in ihrem Denken erneuert werden, um Gott mit ihrem ganzen Leben zu dienen.

Buch

Christopher Watkin, Biblical Critical Theory: How the Bible's Unfolding Story Makes Sense of Modern Life and Culture, Grand Rapids: Zondervan, 2022, 672 Seiten, ca. 32,00 EUR.


[1]  Andrew Moody, Christopher Watkin Against the Pagans“, The Gospel Coalition, 07.12.2022, online unter https://www.thegospelcoalition.org/reviews/biblical-critical-theory/ (Stand: 01.06.2023).