Eine Sünde, über die wir nie sprechen

Artikel von Trevin Wax
5. Juni 2023 — 7 Min Lesedauer

Es gibt eine gefährliche Art von Stolz, die im Leben des Christen oft unbemerkt bleibt und infolgedessen nicht bekämpft wird. Nichtsdestotrotz ist sie tödlich. Sie vergiftet Beziehungen. Sie verhindert Buße. Und weil sie uns hinterrücks dazu bringt, unsere eigenen Fehler durch an uns begangenes Unrecht zu rechtfertigen, können die Tentakel des Stolzes unser Herz fest im Griff behalten. Dabei wirken wir noch demütig und bedürftig. Ich spreche von Selbstmitleid, einer Sünde, die uns heute auf Schritt und Tritt begegnet.

Nach innen gerichtetes Mitleid

Selbstmitleid beruht auf Mitleid – der Tugend, Mitgefühl zu zeigen und zu versuchen, zu verstehen. Wenn das Mitleid sich nach innen richtet, vermindert es das Mitgefühl für andere und entzieht der Selbstlosigkeit den Boden. Eugene Peterson fragt sich in Earth and Altar, ob wir „das selbstmitleidigste Volk in der Geschichte der Menschheit“ geworden sind.

„Sich selbst zu bemitleiden ist zu einer Kunstform geworden. Das Jammern und Wehklagen, das weisere Generationen durch Satire ins Lächerliche zogen, hat bei uns Bestseller-Status.“

Selbstmitleid spielt sowohl bei der Rechten als auch bei der Linken eine Rolle in zeitgenössischen Verschwörungstheorien. Ob man sich nun selbst als Opfer sieht oder Ressentiments pflegt – immer gibt es diesen Reflex, die seltsamsten Theorien aufzugreifen, wenn sie uns nur davon abhalten, unsere Fehler einzugestehen und Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen. Die Welt ist gegen uns, deswegen ist es gerechtfertigt, anderen die Schuld zu geben und gegen jede Form von Respektlosigkeit zum Angriff überzugehen.

Selbstmitleid ist die Kehrseite des Prahlens

Wie verhält sich Selbstmitleid zu Stolz? Es ist die Kehrseite des Prahlens. In seinem Buch Sehnsucht nach Gott stellt John Piper das Prahlen dem Selbstmitleid gegenüber:

„Prahlen ist die Antwort von Stolz im Erfolg.
Selbstmitleid ist die Antwort von Stolz im Leid.

Prahlen sagt: ‚Ich verdiene Bewunderung, denn ich habe so viel erreicht.‘
Selbstmitleid sagt: ‚Ich verdiene Bewunderung, denn ich habe so viel geopfert.‘

Prahlen ist die Stimme des Stolzes im Herz der Starken.
Selbstmitleid ist die Stimme des Stolzes im Herz der Schwachen.

Prahlen klingt nach Unabhängigkeit.
Selbstmitleid klingt nach Aufopferung.“

Angeberei ist meist ziemlich offensichtlich. Selbstmitleid ist subtiler. Es entspringt dem verwundeten Ego. Die Selbstmitleidigen machen oft den Eindruck, als kämpften sie mit mangelnder Selbstachtung oder niedrigem Selbstwertgefühl. In Wirklichkeit sind die, die sich im Selbstmitleid suhlen, unzufrieden damit, dass sie nicht genug gewürdigt wurden. „Ich habe nicht bekommen, was mir zusteht. Ich verdiene etwas Besseres. Niemand behandelt mich so, wie ich es wert bin.“

Jon Bloom schreibt dazu:

„Selbstmitleid ist eine gefährliche, hinterhältige Sünde, die zu Verhärtung des Herzens führt. Sie macht geistlich passiv, erstickt den Glauben, laugt die Hoffnung aus, tötet die Freude, erdrückt die Liebe, befeuert den Zorn und raubt uns den Wunsch, anderen zu dienen. Sie ist ein Sünden-Nährboden, weil sie uns dazu ermutigt, unsere armen Egos mit allen möglichen sündigen Verhaltensweisen wie Klatsch, übler Nachrede, Völlerei, Süchten, Pornografie und einem Übermaß an Entertainment (um nur ein paar zu nennen) zu verhätscheln und zu trösten.“[1]

Selbstmitleid und Leiterschaft

Besonders Leiter sind durch eine Neigung zum Selbstmitleid gefährdet. Wenn wir (zu Recht oder zu Unrecht) kritisiert werden, wenden wir uns nicht an Gott, damit er uns rechtfertigt, sondern jammern innerlich, weil unser Wert so verkannt wurde – niemand schätzt, wie gut wir sind. Wie gern ziehen wir uns in die Echokammer unseres Herzens zurück und können nicht oft genug wiederholen, wie sehr uns Unrecht getan wurde! Wenn wir dann weiteren Sünden nachgeben, unsere schlechte Laune pflegen oder kein Mitleid mehr für andere haben, geben wir der Umgebung die Schuld, dass wir nicht geistlich wachsen.

Selbstmitleid ist der Zündstoff für weitere Sündenfeuer, besonders für Zorn, wie sogar säkulare Quellen nachweisen. Ein Forschungsbericht zeigt die Verbindung von Selbstmitleid mit Gefühlen von Einsamkeit und Zorn.

Personen, die Selbstmitleid empfinden, erwarten gewöhnlich mehr von ihrer Umwelt, als die Umwelt ihnen zu geben bereit ist. Persönliche Beziehungen werden als instabil wahrgenommen und sind durch eine hohe Forderungshaltung von Seiten der selbstmitleidigen Person gekennzeichnet. Sie sieht ihr Umfeld als nicht willens an, ihr die Empathie, den Trost und die Unterstützung zu geben, die sie verlangt. In der Konsequenz ist eine Person, die Selbstmitleid empfindet, permanent frustriert.[2]

Diese Frustration dient dem Erhalt des Systems. Wie der behinderte Mann am Teich Bethesda, den Jesus fragte: „Willst du geheilt werden?“ (vgl. Joh 5), zählen wir Gründe auf, warum Heilung nicht möglich ist. Menschen, die im Selbstmitleid feststecken, wünschen sich vielleicht wirklich Heilung, aber sie zeigen eine gewisse Zögerlichkeit, ihre Wunden behandeln zu lassen. Denn solange sie den Schwerpunkt auf das Unrecht legen können, das andere getan haben, bietet ihnen die Selbstrechtfertigung gewisse Annehmlichkeiten.

  • Du willst nicht wirklich, dass dein Ehepartner dich so gut behandelt, wie du es in deinen Augen verdienst, weil du dann den Hauptgrund verlieren würdest, der dein eigenes Versagen in der Ehe rechtfertigt.
  • Du willst nicht wirklich, dass die Kritiker ihre Kritik einstellen, denn dann würdest du das Gefühl der Überlegenheit verlieren, das daher rührt, dass du dich angegriffen fühlst.
  • Du willst nicht wirklich von früheren Verletzungen geheilt werden, weil jene bitteren Tränen die Süße der Selbstrechtfertigung enthalten.

Selbstmitleid sagt: „Ich bin im Recht, weil mir Unrecht getan wurde“ und benutzt das für eine weitere Rechtfertigung sonstigen selbstsüchtigen Verhaltens.

Schau nach oben

Der Verlockung durch die Sünde des Selbstmitleids zu widerstehen, bedeutet nicht, dass wir unsere Verletzungen verdrängen oder unter tatsächlichen Ungerechtigkeiten nicht leiden oder für echte und lang anhaltende Wunden keine Heilung suchen sollten. Selbstmitleid zu widerstehen bedeutet stattdessen, dem Drang nicht nachzugeben, in Muster der Selbstrechtfertigung zu verfallen. Die Sünde des Selbstmitleids möchte uns dazu bringen, Bestätigung in unserem Leiden zu finden, geradeso wie die Sünde des Prahlens uns Bestätigung in unserem Erfolg finden lässt.

Um dem Selbstmitleid zu widerstehen, müssen wir wie David in Psalm 13 demütig zu Gott schreien und ihm unsere Klagen vorlegen und dabei weiter auf seine beständige Liebe vertrauen. Wir müssen den Entschluss fassen, in seinem Heil zu „frohlocken“ und uns dann erinnern, wie oft er „uns wohlgetan hat“.

„Selbstmitleid wendet deinen Blick auf dich selbst und deine Verletzungen. Um Selbstmitleid zu bekämpfen, müssen wir zu dem gekreuzigten Jesus aufschauen.“
 

Selbstmitleid wendet deinen Blick auf dich selbst und deine Verletzungen. Um Selbstmitleid zu bekämpfen, müssen wir zu dem gekreuzigten Jesus aufschauen. Durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir rühmen uns des Kreuzes, das unseren Stolz tötet. „Denn wie die Leiden des Christus sich reichlich über uns ergießen, so fließt auch durch Christus reichlich unser Trost“, schrieb der Apostel Paulus (2Kor 1,5). Und bei Petrus klingt es ähnlich: „In dem Maß, wie ihr Anteil habt an den Leiden des Christus, freut euch, damit ihr euch auch bei der Offenbarung seiner Herrlichkeit jubelnd freuen könnt“ (1Petr 4,13).

Schau um dich

Zuerst müssen wir zu Christus aufschauen und dann erst die Menschen um uns herum ansehen. Wir müssen aufhören, uns Leute zu suchen, die unserer selbstmitleidigen Haltung Streicheleinheiten verpassen. Wir müssen nach Gelegenheiten suchen, aus dem Sumpf des Selbstmitleids aufzutauchen, damit wir unseren Mitmenschen mitfühlend dienen können. Wir müssen danach streben, ein Segen für andere zu sein.

Scotty Smith glaubt, evangeliumsgemäße Großzügigkeit sei das beste Gegenmittel gegen Selbstmitleid. Der einzige Weg, um „die Toxizität und das Gift des Selbstmitleids, das die Seele schrumpfen und das Herz verwesen lässt“ zu bekämpfen, ist, von sich selbst weg auf andere zu schauen. Statt die Wunden deines verletzten Stolzes zu lecken, musst du dich dazu herablassen, die Nöte der anderen zu sehen und mit fröhlichem Dienen zu reagieren.

Um der Gemeinde und um der Welt willen wollen wir uns nicht länger von dieser hinterhältigen, verlockenden Sünde verführen lassen, die uns unsere Freude raubt. Wenn du also feststellst, dass das Selbstmitleid dich immer wieder fest im Griff hat, dann entscheide dich bewusst für das Evangelium – und damit für deinen Nächsten.


1 Jon Bloom, „Lay Aside the Weight of Self-Pity“, Desiring God, 11.07.2016, online unter https://www.desiringgod.org/articles/lay-aside-the-weight-of-self-pity (Stand: 04.06.2023).

2 J. Stöber, „Self-pity: Exploring the links to personality, control beliefs, and anger“ in Journal of Personality, 71, Halle-Wittenberg, 2003, S. 183-221.