„Das Evangelium verändert alles“
Ein dankbarer Blick auf das Vermächtnis von Tim Keller (1950–2023) aus deutscher Perspektive.
„Gedenkt eurer Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben; ihr Ende schaut an und folgt dem Beispiel ihres Glaubens.“ (Hebr 13,7; LUT)
An diese Worte aus dem Hebräerbrief musste ich denken, als mich die Nachricht von Tim Kellers Heimgang erreichte. Noch wenige Stunden vor seinem Tod hatte dessen Sohn Michael einige der letzten Worte seines Vaters getwittert: „Ich bin bereit, Jesus zu sehen. Ich kann es kaum erwarten, Jesus zu sehen. Schickt mich nach Hause!“ Im finsteren Tal der Todesschatten trug er den Namen dessen auf den Lippen, der in seinem Leben immer im Fokus gestanden hatte. Gerade „am Ende“ wurde also deutlich, wie sehr Christus nicht nur die Mitte von Kellers Theologie und pastoralem Dienst war, sondern eben auch das Zentrum seines persönlichen Glaubenslebens.
„Gedenkt eurer Lehrer“ …
… in diesem Sinne sind in den vergangenen Wochen unzählige schriftliche und audio-visuelle Nachrufe auf Tim Keller erschienen. Sie machen deutlich, dass wir mit seinem Tod einen der einflussreichsten evangelikalen Theologen der vergangenen Jahrzehnte verloren haben. Keller besuchte Deutschland meines Wissens nur ein Mal, anlässlich einer Gemeindegründungskonferenz in Berlin im Jahr 2011. Dennoch hat er auch hierzulande tiefe Spuren hinterlassen. Viele Leiter (nicht nur, aber gerade auch in meiner Generation) verdanken ihm entscheidende Weichenstellungen für ihr theologisches Denken und ihre Gemeindepraxis. Als überzeugter Presbyterianer hat Keller in unseren Breitengraden in die unterschiedlichsten konfessionellen und denominationellen Kontexte hineingewirkt. Seine Bücher und Predigten faszinierten und prägten über herkömmliche theologische Grenzen und Frömmigkeitsrichtungen hinweg. Überraschenderweise nahm man selbst in einigen Teilen der akademisch-universitären Praktischen Theologie von diesem amerikanischen Pastor Notiz und entdeckte in seinem Wirken wertvolle Impulse zur Erneuerung der Kirche.
Ein Mann der Ausgewogenheit
Gespeist von seinen langjährigen Erfahrungen im Gemeindedienst der von ihm gegründeten Redeemer Presbyterian Church im säkularen Manhattan verstand es Keller wie kaum ein anderer, eine überzeugende theologische Vision für Kirche und Gemeinde in einem nachchristentümlichen Umfeld zu entfalten. Seine Anziehungskraft beruhte nicht zuletzt darauf, dass er theologisch und kommunikativ zusammenhielt, was zunehmend auseinanderzudriften schien. Sowohl seine Theologie als auch seine Gemeindeaufbauarbeit wurzelten in einer Haltung, die man im Umgang mit der Bibel zwar als „konservativ“ bezeichnen kann, die gleichzeitig jedoch jenseits von Konservatismus der gegenwärtigen Kultur gegenüber anschlussfähig war. Keller suchte bewusst nach neuen Wegen, wie der für alle Zeiten gültige Inhalt des Evangeliums unter aktuellen Bedingungen so plausibel wie möglich geglaubt, gelebt und kommuniziert werden konnte. Und in seiner Verkündigung und Apologetik gelang es ihm in überzeugender Weise, nicht nur den Intellekt, sondern auch die Emotionen anzusprechen. In allem suchte Keller die Balance zwischen Extrempositionen. Ohne profillos zu werden, plädierte er, wo immer möglich, für ein durchdachtes „Sowohl – als auch“ anstelle eines häufig irreführenden
„Keller kann uns ein Vorbild darin sein, feste reformatorisch-evangelikale Überzeugungen reflektiert, durchaus pointiert, aber eben auch in einem respektvollen und gewinnenden Tonfall zu vertreten.“
„Entweder – oder“. Er schöpfte tief aus dem Reichtum christlicher Tradition (von Augustinus über Martin Luther und Jonathan Edwards bis hin zu C.S. Lewis und Martyn Lloyd-Jones) und interagierte gleichzeitig aufgeschlossen mit neueren theologischen und missionarischen Entwürfen. Er betonte mit allem Nachdruck die evangelistische Ausrichtung von Kirchen und Gemeinden und bekräftigte gleichzeitig ihren diakonischen Auftrag und die Notwendigkeit, sich für soziale Gerechtigkeit einzusetzen. Auch (partei-)politisch ließ er sich nie vereinnahmen und war so eine wohltuend ausgewogene Stimme inmitten kirchlicher und gesellschaftlicher Polarisierungen. Angesichts der theologischen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen, in die wir auch in unserem Umfeld gestellt sind, kann Keller uns ein leuchtendes Vorbild darin sein, feste reformatorisch-evangelikale Überzeugungen reflektiert, durchaus pointiert, aber eben auch in einem respektvollen und gewinnenden Tonfall zu vertreten.
Tim Kellers Vermächtnis
Über diese grundsätzlichen Reflexionen hinaus stechen für mich fünf Gesichtspunkte hervor, die in besonderer Weise das Vermächtnis von Tim Keller ausmachen. Es sind fünf Aspekte seines Wirkens, für die wir speziell als deutschsprachige Evangelikale dankbar sein sollten:
Evangeliumszentrierte Theologie
Vor allem anderen steht Tim Keller für eine konsequent im Evangelium gegründete theologische Vision. Er wurde nicht müde zu betonen, dass das Evangelium nicht einfach nur ein guter Rat ist, wie wir zu leben haben, sondern eine gute Nachricht über das, was Christus für uns getan hat. Natürlich müsse die Gute Nachricht von der unverdienten Gnade Gottes im Leben der Gläubigen spürbare Auswirkungen haben. Das Evangelium dürfe allerdings weder mit diesen Auswirkungen verwechselt noch unabhängig von ihnen betrachtet werden. Keller war es wichtig, Gesetz und Evangelium nicht nur zu unterscheiden, sondern in einer biblisch angemessenen Weise aufeinander zu beziehen. So wurde er zu einem wegweisenden Vertreter eines theologisch ausgewogenen Evangeliums-Verständnisses zwischen religiös-moralistischer Gesetzlichkeit und einem beliebigen und letztlich ungehorsamen Relativismus.
Denn das Evangelium, das betonte Keller immer wieder eindrücklich, wird ständig von zwei Feinden bedroht. Der „gesetzliche Feind“ reduziert das Evangelium auf den leistungsorientierten Versuch, ein heiliges, gottgefälliges Leben zu führen, sodass die scheinbar gute Nachricht dann lautet: „Gott vergibt dir deine Sünden, aber jetzt liegt es an dir!“ Damit aber werden unter der Hand der Gehorsam gegenüber dem Gesetz Gottes sowie Moral und gute Werke zum Fundament christlicher Identität. Der „relativistische Feind“ dagegen reduziert das Evangelium auf eine Art religiös mündige Selbstverwirklichung, sodass die gute Nachricht lautet: „Gott liebt dich – und du kannst machen, was du willst!“ Das passt dann zwar leichter zum gesellschaftlichen Mainstream, steht aber nicht mehr im Einklang mit der biblischen Gesamtbotschaft.
Angesichts der aktuellen theologischen Debatten auch innerhalb des deutschsprachigen Evangelikalismus (zwischen sogenannten „Konservativen“ und „Progressiv-Liberalen“ bzw. „Post-Evangelikalen“) scheint mir kaum etwas dringlicher und notwendiger zu sein als die Einsicht, dass man im Blick auf das Zentrum unseres Glaubens nicht nur auf einer, sondern auf zwei Seiten vom Pferd fallen kann. Wir sollten Kellers Warnung dringend Gehör schenken und hier nicht zwischen den Extremen pendeln. Es besteht kein Grund (wie allzu oft suggeriert wird), sich zwischen einer harten, konservativ-gesetzlichen Enge und einer relativistischen Beliebigkeit zu entscheiden. Es gibt nicht nur diese beiden Wege, sondern den dritten Weg des Evangeliums zwischen „gesetzlichem Krampf“ und „billiger Gnade“ ohne Nachfolge und Glaubensgehorsam. Es ist Kellers bleibendes Verdienst, uns diesen Weg gewinnend, kraftvoll und leidenschaftlich vor Augen gestellt zu haben.
„Die meisten Probleme sind die Folge einer mangelnden Ausrichtung am Evangelium. Fehlentwicklungen in der Gemeinde und sündige Strukturen in unserem Leben sind letztlich darauf zurückzuführen, dass wir die Auswirkungen des Evangeliums zu wenig durchdenken und das Evangelium nicht gründlich genug begreifen und annehmen. Oder positiv gesagt: Das Evangelium verändert unser Herz, unser Denken und unsere Haltung zu absolut allem. Wenn in einer Gemeinde das Evangelium in seiner Fülle ausgelegt und umgesetzt wird, dann wird hier eine einzigartige attraktive Verbindung von moralischer Haltung und Verständnis für andere entstehen.“[1]
Kellers evangeliumszentrierte Theologie ist ein wichtiges Erbe, das wir dankbar und bleibend bewahren sollten, weil durch eine konsequente Ausrichtung am Evangelium geistlich gesunde und missionarisch wirksame Gemeinden gefördert werden.
Christuszentrierte Auslegungspredigt
Tim Keller war ein begnadeter Prediger. Er predigte biblisch-theologisch tiefgehend, mit apologetischer Finesse, intellektueller Weite und mit einem konsequent an Jesus Christus orientierten und auf Herzensveränderung abzielenden Fokus. Dabei plädierte Keller beharrlich für die textauslegende Predigt als „Normalfall“: Die Auslegungspredigt sollte das „Predigtgrundnahrungsmittel“ für eine christliche Gemeinde sein. Gegenwärtig lässt sich, soweit ich sehe, auch bei uns wieder verstärkt ein Trend zu Themenpredigten beobachten. Dahinter scheint vielfach die Annahme zu stecken, biblische Texte durch ein entsprechendes thematisches Framing erst „relevant machen“ zu müssen. Keller war jedoch der Meinung, dass die biblischen Texte an sich Relevanz besitzen. Thematisch orientierten Predigten konnte er dabei durchaus etwas abgewinnen und hielt sie situativ für sehr sinnvoll. Dennoch erschien ihm die Auslegungspredigt als beste Methode, um unserer Überzeugung Ausdruck zu verleihen,
„dass die ganze Bibel Gottes vollmächtiges, lebendiges und aktives Wort ist [und] dass eine sorgfältige Auslegungspredigt es den Hörern leichter macht, zu erkennen, dass die Autorität nicht in den Meinungen und Gedankengängen des Predigers liegt, sondern in Gott selber und seiner Offenbarung in diesem Text.“[2]
Außerdem sollten seine Predigten die Hörer zum eigenständigen Bibellesen motivieren und befähigen:
„Regelmäßige Textpredigten sind auch eine gute Anleitung zum persönlichen Bibellesen. Die Hörer lernen es, selber ihre Bibel zu lesen und sich Texte zu erschließen.“[3]
Wenn heute viele mit Sorge einen sinkenden biblischen Grundwasserspiegel in ihren Gemeinden beklagen, könnte gerade ein zu starker Drang zur Themenpredigt eine der Ursachen sein. Hier wäre Kellers Predigtansatz ein zielführendes Gegenmittel, das dazu ermutigt, wieder verstärkt den Bibeltext zur Grundlage der Predigt zu machen.
„Wenn heute viele mit Sorge einen sinkenden biblischen Grundwasserspiegel in ihren Gemeinden beklagen, könnte gerade ein zu starker Drang zur Themenpredigt eine der Ursachen sein.“
Ein besonderes Spezifikum der Predigten Tim Kellers war deren konsequente christologische Fokussierung. Egal über welchen Text er predigte – es ging ihm immer darum, die jeweilige Textaussage hermeneutisch legitim und biblisch-theologisch durchdacht mit dem Evangelium von Jesus Christus zu verbinden.
„Zu zeigen, wie ein Text in seinen kanonischen Gesamtkontext passt, heißt also, dass ich zeige, wie er auf Christus und das Evangelium von der Erlösung hinweist und damit auf den roten Faden und das Zentrum der Bibel. Wenn wir einen Bibeltext auslegen, sind wir erst fertig, wenn wir gezeigt haben, wie dieser Text uns lehrt, dass nur Jesus uns erlösen kann und nicht wir selbst.“[4]
Hier verbindet sich Kellers Predigtlehre mit seiner oben beschriebenen evangeliumszentrierten Theologie.
„Es ist absolut wichtig, dass der Prediger seinen Zuhörern nicht nur zeigt, wie sie moralisch und gut leben sollen, sondern solche Ermahnungen immer auch mit dem Evangelium [also mit Christus] verknüpft. Und es ist genauso wichtig, dass er der Gemeinde nicht immer nur versichert, dass Gott sie bedingungslos liebt und aus Gnade erlöst hat, sondern ihr auch zeigt, wie echte Erlösung unser Leben verändert. ... [Doch eine] Predigt, die den Zuhörern nur zeigt, wie sie leben sollten, ohne dies in den Kontext des Evangeliums zu stellen, vermittelt ihnen den falschen Eindruck, dass sie sich aus eigener Kraft verändern können, wenn sie sich nur genug anstrengen.“[5]
Persönlich halte ich Kellers Art der christus- bzw. evangeliumszentrierten Auslegungspredigt für eine seiner größten Hinterlassenschaften. Und im Blick auf die evangelikale Gemeindelandschaft im deutschsprachigen Europa wünsche ich mir sehr, dass die kommende Predigergeneration von Tim Keller lernt, nah am biblischen Text zu bleiben und gleichzeitig ihre Gemeinden mit dem Evangelium von Jesus Christus zu sättigen.
Biblisch genormte Kontextualisierung
„Tim Keller hat ein seltenes Kunststück vollbracht: Er hat den Spagat geschafft zwischen der Bewahrung der zentralen Glaubensinhalte und ihrer Verkündigung an ein großstädtisches, skeptisches, traditionsmüdes Publikum.“[6]
Mit diesen Worten erinnert sich der Journalist und Autor Markus Spieker an den Verstorbenen. Dabei hebt er einen wesentlichen Schlüssel des theologischen, missionarischen und pastoralen Wirkens von Tim Keller hervor. Keller war ein äußerst begabter Evangelist und Apologet.[7] Das Fundament dieser evangelistischen und apologetischen Arbeit bildete seine intensive Reflexion über die Kontextualisierung des Evangeliums hinein in ein immer stärker säkularisiertes, nachchristentümliches Umfeld. Das Konzept der Kontextualisierung wird gerade in konservativen Kreisen mitunter sehr kritisch beäugt. Man befürchtet eine zu starke Anpassung an die Umgebungskultur. Demgegenüber betonte Keller:
„Kontextualisierung bedeutet nicht, wie es manchmal heißt, den Menschen ‚zu geben, was sie hören wollen‘, sondern die biblischen Antworten, die die Menschen vielleicht gar nicht hören wollen, in die Lebensfragen einzubringen, die sie jetzt und hier bewegen – in einer Sprache und Form, die sie verstehen, über Gedankengänge und Argumentationen, die für sie relevant sind, auch wenn sie diese vielleicht ablehnen.“[8]
Gute Kontextualisierung, so Keller, zeichne sich dadurch aus, dass sie in Treue zum Evangelium erfolgt und gleichzeitig den Kontext ernst nimmt. Er wurde nicht müde zu betonen, dass es immer beides braucht: eine sorgfältige Auslegung der Heiligen Schrift und eine scharfsichtige Auslegung der Kultur, biblisch-theologische und soziologische Kompetenz. Dabei stand für Keller außer Frage, dass gute Kontextualisierung dem Evangelium Priorität vor der Kultur gibt. Die Gefahr bei der Kontextualisierung bestehe allerdings darin, die Aspekte des Evangeliums, die in einer bestimmten Kultur Schwierigkeiten bereiten, auszublenden oder einen faulen Kompromiss zwischen Kultur und Evangelium zu finden. Wo der Prozess der Kontextualisierung das Evangelium abschwächt und seiner gegenkulturellen Inhalte beraubt, kann man sich also schwerlich auf Keller berufen, für den die Weitergabe der christlichen Lehre immer auch „Gegenkatechese“[9] (also eine gegen das kulturelle Empfinden gerichtete Prägung) bedeutete. Gute Kontextualisierung zielte bei Keller (Stichwort Balance!) auf einen mittleren Weg zwischen Abgrenzung und Anpassung ab. Die Kirche dürfe sich weder aus der Gesellschaft zurückziehen noch die christliche Botschaft an die gesellschaftlichen Überzeugungen angleichen.
Für Keller war klar: Nur wer aktiv kontextualisiert, ist in der Lage, kommunikative Brücken hinein in die Zielkultur zu bauen und so apologetisch-evangelistische Wirksamkeit zu entfalten. Dafür ist es aber notwendig, das „kulturelle Wasser“ zu kennen, in dem wir und unsere Zeitgenossen tagaus tagein „schwimmen“. Im umfassenden Sinn, so Keller, müsse das eine „christliche Kulturtheorie“ leisten.[10] Doch grundsätzlich sollte sich jeder Christ und jede Gemeinde darum bemühen, den eigenen „kulturellen Quotienten“ (das Verständnis für kulturelle Stimmungen, Vorurteile und Glaubenssätze) zu erhöhen. Es gelte, die individuellen und gesellschaftlichen Götzen einer Kultur zu entlarven und die dahinterliegenden universellen menschlichen Sehnsüchte zu erkennen, an die wir andocken können, um mit Menschen über den Glauben ins Gespräch zu kommen. Nur so hätten wir die Chance zu zeigen, wie Jesus jede dieser Sehnsüchte erfüllt und
„dass der christliche Glaube emotional wie kulturell am meisten Sinn ergibt, dass er die großen Lebensthemen am treffendsten erklärt und dass er unübertroffene Ressourcen bietet, um diesen unweigerlichen menschlichen Bedürfnissen zu begegnen.“[11]
Gerade auch aus deutscher Perspektive sollten wir für Kellers kluge, theologisch verankerte Gedanken zur Kontextualisierung dankbar sein. Denn sie liefern notwendige und wesentliche Impulse und Leitplanken für den missionarischen Gemeindeaufbau. Auch hier neigen wir meiner Wahrnehmung nach allzu häufig zu den ungesunden und gefährlichen Einseitigkeiten, die Keller so dringend zu vermeiden suchte. Während wir einerseits zu wenig kontextualisieren (und so unnötig fremd, unverständlich und irrelevant erscheinen), laufen wir auf der anderen Seite Gefahr, dem gesellschaftlichen Mainstream nach dem Mund zu reden, also zu stark zu kontextualisieren (und so Wesen und Inhalt des Evangeliums zu verändern). Im Blick auf die Gesundheit und das missionarische Zeugnis unserer Gemeinden gilt es hier unbedingt von Kellers biblisch begründeter Ausgewogenheit zu lernen. Sein Vermächtnis bleibt für uns auch in dieser Hinsicht eine bleibende Aufgabe.
Leidenschaft für (urbane) Gemeindegründung
„Neue Gemeinden sind der beste Weg zu mehr Christen in einer Stadt und zur Erneuerung des ganzen Leibes Christi … Nichts hat einen solch nachhaltigen Effekt wie eine dynamische, ausgedehnte Gemeindegründungsarbeit.“[12]
Davon war Tim Keller überzeugt. Deshalb begann er bereits in den frühen 2000er Jahren, ausgehend von seinen in New York gemachten Erfahrungen, Gemeindegründungsbemühungen in städtischen Zentren zu fördern. 2012 erschien sein Handbuch zur urbanen Gemeindegründung das erste Mal auch auf Deutsch.[13] Bis heute erlebte es mehrere Auflagen und fand in unterschiedlichen Lernsettings, Ausbildungsstätten und konfessionellen Kontexten Verwendung. Später entfaltete Keller dann in seinem Gesamtentwurf Center Church die Vision von kontextualisierten, urbanen Gemeinden (mit dem spezifischen Fokus auf Neugründungen) weiter. Auch dieses „Lebenswerk“ Kellers, das 2015 erstmalig in deutscher Übersetzung erschien, fand schnell weite Verbreitung.
Keller war sicher nicht der einzige Impulsgeber für Gemeindegründung im deutschsprachigen Europa. Doch viele zukünftige Pioniere haben gerade durch seine Materialien und sein Vorbild ganz neu für Gemeindegründung Feuer gefangen. Dadurch hat Keller richtungsweisend in verschiedene Gemeindegründungsbewegungen hineingewirkt. Durch das von ihm mitbegründete, konfessionsübergreifende „City to City“-Netzwerk sind außerdem eine beachtliche Anzahl von Gemeinden in unterschiedlichen Städten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz entstanden.[14] Der sehr starke Fokus auf die urbanen Zentren lässt sich bei Keller durchaus kritisieren.[15] Doch es steht außer Frage, dass er gerade im freikirchlichen Kontext einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet hat, das Thema Gemeindegründung in Deutschland und Europa voranzubringen und so die kirchliche Landschaft neu zu beleben.
Pastorale Integrität
Last but not least war Tim Keller ein Mann von großer Integrität. Er machte nie viel Aufhebens um sich selbst. Seine beeindruckende „Erfolgsgeschichte“ wurde von keinen diskreditierenden Skandalen geschmälert. Im Unterschied zu manch anderen Pastoren großer Gemeinden (sogenannter „Mega-Churches“) ging es Keller nie darum, für sich eine „persönliche Plattform“ zu bilden und seine eigene „Marke“ zu promoten. Obwohl er die größeren kirchlichen Zusammenhänge strategisch im Blick hatte und sich in verschiedenen überörtlichen Initiativen engagierte, verstand sich Keller immer zuerst als Pastor einer
„Obwohl Tim Keller die größeren kirchlichen Zusammenhänge im Blick hatte, verstand er sich immer zuerst als Pastor einer lokalen Kirche.“
lokalen Kirche. Bis zu seinem 55. Lebensjahr trat er nur durch ganz vereinzelte Publikationen an die Öffentlichkeit. Fast alle seiner Bücher veröffentlichte Keller erst nach Jahrzehnten treuer, pastoraler Arbeit, also auf dem glaubwürdigen Fundament eines sichtbaren track records. Seine gewachsene Social Media-Reichweite nutzte er nicht für Selfie-durchtränkte Selbstdarstellung, sondern dafür, seine Follower auf gute Inhalte aufmerksam zu machen. Auch der vor Jahren vollzogene Nachfolgeprozess innerhalb der Redeemer Presbyterian Church und die damit verbundene Weitergabe von Verantwortung und Macht an die nächste Generation von Pastoren zeugt von Kellers uneigennützigem Charakter und davon, dass ihm das bleibende Wohl seiner Gemeinde wichtiger war als sein „eigenes Reich“. Aus der Ferne kann man das nur als vorbildlich betrachten.
Kellers enge Mitarbeiter, Freunde und Kollegen, die ihn gut kannten, und Mitglieder seiner Gemeinde bemerkten in den Tagen nach seinem Tod unisono, dass es keine Diskrepanz gab zwischen Kellers öffentlichem Auftreten und dem Mann, den sie privat erlebten. Sie beschreiben Keller als demütig, aufrichtig und zugänglich. Freundlichkeit, Güte und Herzlichkeit zeichneten ihn aus. Er war weder distanziert noch unnahbar und trotz seiner internationalen Reputation – so bezeugten es viele – einfach „einer von uns“. Im Medienmagazin „Pro“ wurde er durchaus treffend als der „Uneitle“ betitelt.[16] In vielerlei Hinsicht war Keller also der Gegenentwurf eines narzisstischen Leiters; ein unbedingt notwendiges Korrektiv angesichts einer Kultur der Selbstdarstellung, die auch in unseren Breiten zunehmend unsere Vorstellungen und Leitbilder des pastoralen Dienstes prägt.
Ein hoffentlich bleibendes Vermächtnis
Auch wenn Tim Keller den Begriff „evangelikal“ aufgrund der politischen Konnotationen in den USA in jüngerer Zeit nur noch zögerlich verwendete, hat er uns als deutschsprachiger evangelikaler Bewegung vieles hinterlassen, wofür wir dankbar sein sollten. Es gäbe sicherlich noch viel mehr über ihn zu sagen. Doch Keller selbst wäre wohl der Erste gewesen, der sich gegen zu viel „verklärte Heldenverehrung“ gewehrt hätte. Jesus allein sollte im Zentrum bleiben. Und dennoch: Gedenken wir einem Lehrer, der uns durch die Gnade Gottes leidenschaftlich und weise das Evangelium vermittelt hat; schauen wir sein Ende an und folgen wir seinem Beispiel (vgl. Hebr 13,7). Möge Tim Keller (wie Abel) durch seinen Glauben, sein Vorbild, seine Theologie und Verkündigung auch heute noch weiter zu uns reden, obwohl er nun gestorben ist (vgl. Hebr 11,4) – Gott zur Ehre, uns zur Freude und unseren Gemeinden und unserem Umfeld zum Segen!
1 Timothy Keller, Center Church Deutsch, 2. Aufl.. Gießen: Brunnen, 2017, S. 63.
2 Timothy Keller, Predigen: Damit Gottes Wort Menschen erreicht, Gießen: Brunnen, 2017, S. 36.
3 Keller, Predigen, S. 38.
4 Keller, Predigen, S. 48.
5 Keller, Predigen, S. 50–51.58.
6 Markus Spieker, Idea Spektrum 21/2023, S. 20.
7 Vgl. dazu literarisch v.a. Timothy Keller, Warum Gott? Vernünftiger Glaube oder Irrlicht der Menschheit?, Gießen: Brunnen, 2015 und Timothy Keller, Glaube wozu? Religion im Zeitalter der Skepsis, Gießen: Brunnen, 2019 (die Erscheinungsdaten beziehen sich jeweils auf die Erstauflage).
8 Keller, Center Church Deutsch, S. 96.
9 Timothy Keller, Wie wir den Westen wieder erreichen: Sechs wesentliche Merkmale einer missionarischen Begegnung, City to City Europe, 2020, 43ff. (downloadbar unter: https://restauratio.org/ressourcen/).
10 Keller, Wie wir den Westen wieder erreichen, S. 17ff.
11 Keller, Glaube wozu?, S. 15.
12 Keller, Center Church Deutsch, S. 337.
13 Timothy Keller und J. Allen Thompson, Handbuch zur urbanen Gemeindegründung, Neuaufl., Gießen: Brunnen, 2018 (1. Aufl. Worms: Pulsmedien, 2012).
14 https://www.citytocitydach.com/
15 So bspw. Michael Herbst in seinem Vorwort zu Keller, Center Church Deutsch, S. 11.
16 https://www.pro-medienmagazin.de/zum-tod-von-tim-keller-der-uneitle/