Berufung
„Ich habe im Laufe meines Lebens viele Bücher geschrieben, aber kein Buch lag mir schwerer und länger auf dem Herzen als dieses“ (S. 19). So schreibt der Soziologe, Apologet und Vordenker Os Guinness über die Bedeutung, die sein Buch Berufung für ihn hat. Es geht um nichts weniger als den Sinn des Lebens. Als das Buch 1998 erschien, hatte Guinness bereits 30 Jahre daran gearbeitet. In den letzten Jahren hat er es überarbeitet und mit weiterem Inhalt sowie einem Studienteil ergänzt. Das Thema hat ihn offensichtlich nicht losgelassen, sondern über viele Jahre intensiv beschäftigt. Herausgekommen ist ein Buch mit 30 prägnanten Kapiteln, die unübersehbar die Frucht eines langen, gründlichen Nachdenkens über die existentielle Frage des Lebens sind. Nun ist es erneut in deutscher Sprache im Herold-Verlag erschienen.
Berufen von Gott
Was können wir uns unter „Berufung“ vorstellen? Guinness erklärt das Konzept anhand von vier Aspekten. Zuerst hat Berufung die einfache Bedeutung des „Rufens“. So wie wir einander etwas zurufen, uns anrufen, so ruft Gott uns. Zweitens bedeutet es auch „benennen“ oder „ins Dasein rufen“. Wenn Gott uns beim Namen ruft, dann schafft er etwas. Drittens erhält das Rufen Gottes im Neuen Testament eine große Nähe zur Errettung; es wird sogar zum Synonym dafür. Zuletzt ist der Ruf Gottes mehr als ein Angebot. Er ist so dringlich und derart Ehrfurcht gebietend, dass nur eine Antwort angemessen ist. Berufen zu sein bedeutet, ein Leben vor Gott zu leben – in jeder Facette des Lebens. Dieses Konzept der Berufung weist darauf hin, dass wir zunächst einmal nicht zu etwas, sondern zu jemandem (zu Gott!) berufen sind. Es wird deutlich, dass das gesamte Leben völlig zur Ehre dieses Gottes gelebt werden soll. So wird jeder Gedanke, jedes Reden und jedes Handeln zu jeder Zeit zur Antwort auf Gottes Ruf.
In jedem Kapitel entpackt Guinness einen besonderen Aspekt der Berufung. Der Aufbau der Kapitel ist dabei stets ähnlich: Guinness leitet jedes Kapitel mit einem geschichtlichen Beispiel ein, das eine bestimmte These zur Berufung vorstellt. Anschließend begründet er seine These anhand von drei oder vier Punkten. Jedes Kapitel mündet in zielgerichtete Fragen an den Leser und schließt mit einem leidenschaftlichen Appell der Worte Jesu: „Folge mir nach!“ Diese einfache Struktur bildet eine hilfreiche Führung durch den vorgestellten Gedanken und leitet zu einem praktischen Fazit über. Die meisten Kapitel bauen nicht aufeinander auf, sondern können als Impuls und Inspiration auch für sich gelesen werden.
Der eine Zuschauer
Mit dem Thema der Berufung verknüpft Guinness eine Vielzahl von Bezügen zu Motiven, Inhalten und Gott selbst. Für mich ragt im Buch ein Kapitel heraus: „Der eine Zuschauer“ (Kapitel 12). Die einführende Geschichte handelt von dem schwerreichen Stahlkönig Andrew Carnegie und einer Reise in seine Heimatstadt Dunfermline in Schottland. Dort wuchs er in ärmlichen Verhältnissen auf und erlebte in der Kindheit, wie seine Mutter vor Verzweiflung über ihre Situation weinte. Er versprach ihr, eines Tages als reicher Mann mit ihr zusammen in einer feinen Kutsche zu fahren, die von vier Pferden gezogen wird. Als seine Mutter entgegnete, dass das nichts nützen würde, solange sie niemand aus Dunfermline sähe, entschloss er sich dazu, es irgendwann der gesamten Stadt zu zeigen. Jetzt, auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, fahren er und seine Mutter mit einer speziell für diese Reise gebauten Kutsche mit den Honoratioren der Stadt durch die jubelnden Mengen. Es reichte ihm nicht, seinen Erfolg in Pittsburgh (USA) zu zeigen, es musste diese Stadt in Schottland sein. Er wollte nicht irgendwelche Leute beeindrucken, sondern diese bestimmten Menschen: die Einwohner seiner Heimatstadt. Guinness führt aus, dass wir alle uns im Prinzip danach sehnen, gesehen und anerkannt zu werden. All unser Wirken geschieht immer vor gedachten Zuschauern: „Die Frage ist … nicht, ob wir ein Publikum haben, sondern welches Publikum wir haben“ (S. 144).
Welches Publikum ist für den Menschen wichtig, der seine Berufung lebt? Dazu Guinness:
„Ein Leben, das auf die Berufung Gottes aufgebaut wird, ist ein Leben vor einem ganz bestimmten ‚Publikum‘, das alle anderen übertrifft – es besteht aus dem einen Zuschauer, Gott selbst! … Gottes Ruf zu folgen bedeutet daher, ein Leben vor dem Herzen Gottes zu führen, im Bewusstsein des coram deo (des Angesichts Gottes) zu leben und somit bewusst unsere Aufmerksamkeit auf den einen Zuschauer auszurichten, auf den es wirklich ankommt: Gott!“ (S. 144)
Dieser Zuschauer ersetzt nicht nur die anderen, sondern überragt sie um ein Vielfaches. Er stillt die Sehnsucht nach Anerkennung. Sein „Recht so, du guter und treuer Knecht!“ (Mt 25,21) lässt uns von allen anderen unabhängig sein.
Fallen und Extreme
Der Weg zur Berufung birgt allerdings eine Reihe von Fallen, in die der Suchende tappen kann. Auch gibt es Extreme, in die er auf diesem Weg nicht abrutschen sollte. So spricht Guinness von der „katholische[n] Verzerrung“. Hierbei erfährt die Berufung eine Schieflage, weil eine geistliche Berufung Vorrang vor einer weltlichen hat. Diese Vorstellung wirkt bis heute nach, wenn die Wahl zwischen einem geistlichen Dienst oder einem weltlichen Beruf ansteht und der geistliche als wichtiger empfunden wird. Die Reformation hebt diesen ungesunden Dualismus auf, indem Luther die geistlichen wie die weltlichen Berufe auf Augenhöhe stellt. Andererseits kippt die Entwicklung in eine „protestantische Verzerrung“, bei der sich der Beruf zunehmend vom Berufenden löst. Hier wird die Berufung im Zuge einer zunehmenden Säkularisierung auf die Arbeit an sich reduziert. Doch ohne Gott verliert sich die Berufung im Nichts. Echte Berufung braucht einen Berufenden.
Es ist Guinness wichtig, sowohl die positiven als auch die dunklen Seiten der Berufung aufzuzeigen. Einerseits spricht er sich beispielsweise gegen die Leugnung des Materiellen aus, wie er es in der Gnosis und im Buddhismus beobachtet. Gleichzeitig muss der zerstörerische Einfluss des Bösen gesehen werden. „Der christliche Glaube … hat eine bifokale Sicht – er ist sowohl weltbejahend als auch weltverleugnend“ (S. 322). Guinness wirbt für ein mutiges Handeln in der Welt, ohne ihre Gefallenheit auszublenden. Christen haben eine Vision der unsichtbaren Welt, die realer ist als die sichtbare. Deshalb können sie in dieser Welt dem Unrecht entgegentreten, an ihrer Wiederherstellung arbeiten und die Botschaft Gottes bis an ihre Enden tragen.
Zitate, Illustrationen und eine große Perspektive
Ich kann mich nicht erinnern, ein Buch gelesen zu haben, das derart mit Zitaten und Illustrationen aus der Geschichte durchtränkt ist. Man kann keine Seite aufschlagen, ohne auf ein Zitat zu stoßen. Dabei werden sehr viele Quellen zitiert: von Eusebius, Chesterton, Oswald Chambers, Nietzsche, Jean Piaget, Vaclav Havel und vielen weiteren. Auch die Illustrationen aus dem Leben von Magellan, Da Vinci, Carnegie, Franziskus, Picasso, Churchill und weiteren sind sehr treffend in den Gedankengang eingewirkt. Diese kunstvolle Komposition bezeugt die langjährige und intensive Auseinandersetzung des Autors mit seinem Herzensthema.
Es ist nicht die Absicht des Autors zu zeigen, wie man seine persönliche Berufung erkennt. Seine Intention liegt vielmehr in der Vorbereitung dieser Aufgabe. Er spannt gleichsam einen Raum auf und leuchtet die Ecken aus, damit der Suchende einen Blick für die Dimensionen bekommt, innerhalb deren er auch seine Berufung finden kann. Guinness bricht mit einer engen und stark reduktionistischen Vorstellung des Lebens als Christ, die nur schlichte und einfache Perspektiven bereithält, und weitet damit die Perspektive der Berufung.
Ein Leben zur Ehre Gottes
Es ist ein Jammer, dass die wichtigsten Fragen sowohl in der Gesellschaft als auch auf den Kanzeln sehr häufig zu abgedroschenen, nichtssagenden und langweiligen Sätzen führen. Leben, Tod, Liebe – die Welt quillt über von Allgemeinplätzen im Postkartenformat. In der christlichen Welt gehören die Themen rund um Gott selbst, das Kreuz, Himmel und Hölle in diese Kategorie. Es bleibt eine echte Herausforderung, folgenschwere Themen mit bedeutsamem Inhalt zu füllen, damit sie im Herzen auch den Raum einnehmen, der ihnen gebührt. Auch das Thema „Sinn des Lebens“ ist oft mit einem richtigen, aber wirkungsleeren Satz abgehandelt. Bei Guinness ist es hingegen faszinierend zu sehen, mit welcher Leidenschaft, Tiefe und gleichzeitig mit welcher Frische er diesem Fragekomplex nachgeht und in schillernden Farben das breite Spektrum der Berufung ausbreitet. Für mich bedeutete das Lesen seines Buches zwar echte Arbeit, aber ich war auch traurig, als ich das Buch mit dem letzten Kapitel abschloss.
Spannend finde ich auch den Studienteil am Ende des Buches. Wenn ich mir die Fragen mancher christlichen Jüngerschaftskurse anschaue, bin ich oft enttäuscht vom Niveau und der Vorhersehbarkeit der Antworten. Bei Os Guinness finde ich jedoch Fragen, die auf den Inhalt des Kapitels eingehen und zu einem anregenden Austausch einladen. Das macht diese Ausgabe des Buches zu einem hervorragenden Werkzeug für Buchleseprojekte in Jugend-, Studenten-, Männer- und Frauengruppen. Eine besondere Zielgruppe sehe ich in Menschen, die sich für Kunst, Kultur, Wissenschaft, Theologie, Politik oder Wirtschaft interessieren und in einem dieser Bereiche engagieren wollen. Das Buch bietet einen brillant durchdachten und gleichzeitig inspirierenden Leitfaden für ein bewusst gelebtes Leben in der Nachfolge Jesu.
Der wertige Umschlag, der leichte Schreibstil und die ausgezeichnete Übersetzung laden zum Aufschlagen, Lesen und Nachdenken ein. Für eine stärkere Nutzung sollte das Buch aber eine Hülle bekommen, da sich das schöne Weiß des Umschlags mit zunehmendem Gebrauch verfärbt. Ich für meinen Teil setze das Buch noch einmal auf meine Leseliste.
Buch
Os Guinness, Berufung: Entdecke und folge Gottes Plan für dein Leben, Leun: Herold-Schriftenmission, 2023, 462 Seiten, ca. 23,00 EUR.
Das Buch kann auch direkt beim Verlag bestellt werden.