Prädestination und Verantwortung

Rezension von Larry Norman
22. Juni 2023 — 7 Min Lesedauer

Christ sein bedeutet, in Christus zu sein – mit Jesus vereint, sodass wir in demütiger Anbetung staunend bekennen können: „Christus ist mein Leben“ (Phil 1,21). Doch wie in aller Welt sind wir hier gelandet? Wie kann es sein, dass wir den Herrn der Welt kennen und dass er uns seine Freunde nennt? Das ist keine leere Frage; sie fällt nicht verstaubt vom Elfenbeinturm. Es ist auch keine Frage, die nur mich etwas angeht.

In der Stadt, in der ich wohne, gehen sonntags weniger als 1 % der Menschen in einen Gottesdienst. Sonntags stehen einige meiner Nachbarn schon früh auf, aber nur um zur Bäckerei zu gehen. Ich bete, dass sie zum Glauben an den Herrn Jesus kommen. Doch wie? Wie sollen Menschen dorthin gelangen, wo wir bereits sind: in Christus, mit ihm vereint. Müssen sie etwas tun? Müssen wir? Muss Gott?

Das sind die Fragen, die der 2020 verstorbene Jim Packer 1961 in seinem kleinen Werk Evangelism and the Sovereignty of God behandelte. Obwohl das Buch aus einem anderen Jahrtausend stammt, bleibt es zugänglich und klar. Es ist ein großer Genuss für jeden Leser. Ich freue mich sehr, dass es neu auf Deutsch unter dem Titel Prädestination und Verantwortung veröffentlicht worden ist.

Zwei Stolpersteine

Schaffen wir zwei kleine Stolpersteine schnell zur Seite, nämlich den Text und den Titel: Der Text ist gut übersetzt, hätte aber durchaus von mehr Absätzen profitiert. Diese würden dem Leser helfen, sich nicht vor einem überfüllten Teller zu erschrecken, sondern Packers Werk Stück für Stück zu genießen.

Dazu kommt, dass das Wort „Prädestination“ im deutschen Titel irreführend ist. Im Buch geht es nämlich kaum um Gottes Vorherbestimmung. Packer stellt das schon auf Seite 11 fest, wenn er schreibt: „Der einzige Aspekt der göttlichen Souveränität, der uns beschäftigen wird ist … sein allmächtiges Handeln, durch das er verlorene Sünder durch Jesus Christus zu sich heimholt“ (S. 11). Ein zutreffender Titel wäre wohl Evangelisation und die Souveränität Gottes, wie das Buch ja im englischen Original heißt. Ansonsten ist das Buch purer Genuss.

Es schafft uns Klarheit, stärkt unsere Zuversicht, und schenkt uns Mut, weiter von Jesus Christus zu sprechen.

Unzählige Fragen (und Antworten)

Packers zentrale These ist, dass Gott einerseits völlig souverän ist, und dass Gott uns Menschen andererseits befiehlt, auf sein Evangelium mit Glauben und Buße zu reagieren und dasselbe Evangelium sodann weiterzusagen.

„Gott ist einerseits völlig souverän und befiehlt uns Menschen andererseits, auf sein Evangelium mit Glauben und Buße zu reagieren und dasselbe Evangelium sodann weiterzusagen.“
 

Eine der größten Stärken des Buches ist die sorgfältige Art und Weise, wie Packer das Thema behandelt. Die Vielzahl von Fragen, die er erörtert, ist erstaunlich. Hier nur einige Beispiele: Wie würde es aussehen, wenn Gott in der Evangelisation nicht souverän wäre? Wie würde es aussehen, wenn Menschen nicht verantwortlich wären? Was ist der Missionsauftrag der Gemeinde? Wie sieht die evangelistische Botschaft aus? Hat sie einen bestimmten Inhalt? Müssen wir besondere evangelistische Gottesdienste haben? Welche Rolle spielt die persönliche Evangelisation? Welche Rolle spielt Freundschaft bei der Evangelisation? Müssen wir über Sünde sprechen? Welche Beweggründe gibt es für die Evangelisation? Wie wirkt der Glaube an Gottes Souveränität auf unsere evangelistischen Bemühungen? Wieso sind unsere Bemühungen heutzutage oft so fruchtlos?

Auf jede dieser Fragen – und viele mehr – liefert Packer eine klare, knackige, biblische Antwort. Überdies liest man etliche Sätze, die einen „Aha“-Effekt bewirken. Zum Beispiel:

„Will man feststellen, ob ein bestimmter Gottesdienst evangelistisch war, sollte man nicht fragen, ob ein Aufruf zur Entscheidung erging, sondern welche Botschaft dort verkündigt wurde.“ (S. 44)
„Alle theologischen Themen enthalten Fallen für Unvorsichtige, denn Gottes Wahrheit stimmt nie ohne weiteres mit den Erwartungen der Menschen überein.“ (S. 19)
„Es gibt daher letzten Endes nur ein Mittel der Verkündigung, nämlich das Evangelium, das dargelegt und angewendet wird.“ (S. 62)

Viel Zuversicht

Aus dieser Klarheit wächst im Leser die starke Zuversicht in die Kraft des Evangeliums. Indem Packer seine These entfaltet, schöpft man frische Zuversicht, dass Gott sein Wort noch heute gebraucht, um Menschen zu bekehren. Etwa wenn er schreibt: „In einer schriftgemäßen Verkündigung gibt es nur eine wirkende Macht. Es ist der Herr Jesus Christus selbst, der durch seinen Heiligen Geist seine Diener befähigt, das Evangelium wahrhaftig zu verkünden und kraftvoll und wirksam anzuwenden“ (S. 63). Wäre der Herr nicht souverän, „so wäre Verkündigung die nichtigste und nutzloseste Sache von der Welt, und es gäbe keine größere Zeitverschwendung auf dieser Erde, als die christliche Botschaft zu predigen“ (S. 77).

Diese Zuversicht kommt also keinesfalls durch eine überoptimistisches Menschenbild – Packer legt dem Leser nahe, wie unfähig ein sündiger Mensch ist, aus sich selbst heraus an Jesus zu glauben. Ferner argumentiert Packer überzeugend, dass die damalige (und wohl leider anhaltende) Schwachheit in unserer Evangelisation daher kommt, dass man vergessen und verdrängt hat, dass Gott ein Wunder wirken muss, damit ein Mensch von seinen Sünden umkehrt und an Jesus glaubt. Unsere Zuversicht kommt vielmehr von unserer klar definierten Aufgabe, treu zu sein, und Gott den „Erfolg“ zu überlassen. Auch kommt sie davon, dass Gott „mit seinem Geist durch sein Wort in den Herzen sündiger Menschen [wirkt], und sie zu Buße und Glauben [bringt].“

In einem berührenden Abschnitt erklärt Packer, warum Paulus sich von der „Enttäuschung und Entmutigung freihalten konnte, die uns heute befällt, wenn es uns immer deutlicher aufgeht, dass die Verkündigung, menschlich gesprochen, ein aussichtsloses Unternehmen ist.“ Paulus konnte das, weil er „sein Augenmerk beständig auf die Souveränität Gottes in der Gnade richtete … Er wusste, dass dort, wo auch immer das Wort des Evangeliums hingelangt, Gott die Toten auferwecken würde … Dieses Wissen machte ihn vertrauend, unermüdlich und erwartungsvoll in seiner Verkündigung“ (S. 82).

Mehr Mut

Aus dieser Klarheit und Zuversicht wächst dann neuer Mut, Menschen Gottes Botschaft zuzusprechen. Mut, für Bekehrungen zu beten, Gespräche zu suchen, von Jesus Christus zu sprechen, Menschen zum Gottesdienst einzuladen und Menschen zum Glauben aufzurufen.

„Unsere Hoffnung liegt nicht in uns oder unserer Sprachfähigkeit, sondern in Christi Kraft heute noch Menschen rettenden Glauben zu schenken.“
 

So beendet Packer sein Buch. Er fordert uns auf, die biblischen Wahrheiten, die er erklärt hat, so zu beherzigen, dass sie ihre Frucht in uns entfalten. Unsere Hoffnung liegt nicht in uns oder unserer Sprachfähigkeit, sondern in Christi Kraft heute noch Menschen rettenden Glauben zu schenken. Deswegen macht sie uns mutig, geduldig und betend, dass der Herr uns in seinem Dienst gebraucht.

Es lohnt sich, Packer zu lesen, und dieses Buch ist keine Ausnahme. Wenn du Pastor bist, könntest du das Buch vielleicht in einem Workshop oder bei einem Seminar für deine Gemeinde verwenden. Es eignet sich sowohl für Hauskreise als auch für die Eigenlektüre. Außerdem kannst du es zusammen mit jemandem aus deiner Gemeinde lesen, besprechen und dann das Gelesene im Gebet anwenden.

Es gibt nichts Besseres, als Christ zu sein, weil Christen in Christus sind. Wie sind wir hier gelandet? Für viele von uns kommt es davon, dass Menschen uns das Evangelium erklärt haben. Als sie zu uns gesprochen haben, hat der Herr Jesus Christus gesprochen und Licht und Leben geschenkt. Das tut er auch heute noch.

Buch

J.I. Packer, Prädestination und Verantwortung: Gott und Mensch in der Verkündigung, VGTG, 2022, 92 Seiten, ca. 14,90 EUR.