Refresh

Rezension von Laura-Marie Dudat
26. Juni 2023 — 8 Min Lesedauer

„Denken Sie daran, den neuen Planer zu bestellen!“, steht in roten Buchstaben vorgedruckt im Lehrerkalender auf meinem Schreibtisch. Die nächste Ausgabe habe ich jedoch schon längst gekauft, obwohl das Schuljahr noch lange nicht zu Ende ist, denn schon jetzt stehen immer mehr Termine fest, die in fernerer Zukunft liegen. Längst sind viele Wochenenden verplant. Es gibt Wochen, in denen ich nahe dran bin, von analoger auf digitale Planung umzusteigen, weil einfach kein Platz mehr für einen weiteren Bleistifteintrag ist. Manchmal, wenn ich zurückblättere, bin ich einerseits dankbar für schöne Erlebnisse und erledigte Aufgaben; andererseits muss ich bisweilen überprüfen, ob es sich noch um einen Alltag „im gnädigen Tempo“ (S. 12) handelt. So bezeichnen Shona und David Murray das Konzept gegen Erschöpfung und Abgeschlagenheit in ihrem Buch Refresh: Erfrischt von der Gnade Gottes leben, wenn die Anforderungen zu groß zu werden drohen.

Das Buch bietet Einblick in den Erfahrungsschatz Shona Murrays als Seelsorgerin und ihres Mannes als Pastor. Die beiden schreiben als selbst von Burn-out Betroffene und aus der Perspektive von Shona als Frau, weil sich dieses Buch (im Gegensatz zu Reset: Leben im Rhythmus der Gnade in einer Burnout-Kultur, der Version für Männer) speziell an Frauen richtet, gibt es doch „wesentliche Unterschiede der Erfahrungswelt von Männern und Frauen mit Stress, Burn-out, Angst und Depression“ (S. 17). Die fünffache Mutter und Ärztin erzählt von einer schlimmen Phase der Angst und Depression. Auch berichtet sie von Panik angesichts der Forderungen, die der Alltag mit sich bringt, denn „Hausarbeit verlangt Energie, Arbeitgeber verlangen Arbeitszeit, die Gemeinde verlangt Mitarbeit, Freunde verlangen unsere Nähe, Kinder verlangen Taxifahrten, die Banken verlangen Geld, der Vereinssport verlangt Abende“ (S. 11). Sie möchte anhand der Beschreibung eines Prozesses behutsam helfen, solch dunkle Phasen im Leben zu überwinden, wie es auch ihr selbst mit Gottes Hilfe gelungen ist. Beim Lesen wird schnell klar, dass dies nicht von heute auf morgen möglich ist, sondern Geduld bedarf. So umfasst der Prozess auch zehn Stationen, wobei jeder Station ein Kapitel gewidmet ist.

Sich selbst als begrenztes Geschöpf zu sehen, ermöglicht einen Perspektivwechsel

Zunächst lädt Shona Murray ihre Leser ein, einen „Realitätstest“ (S. 20) zu machen und Warnsignale von Erschöpfung zu identifizieren. Sie erzählt von der quälenden Überzeugung „Nur Schwache fühlen sich überfordert und brennen aus“ (S. 20), die sie erst revidieren musste. Nach der Evaluation des Jetzt-Zustandes werden die Leser aufgefordert, zurückzuschauen auf Faktoren, die einen Erschöpfungszustand erst ermöglichen. Zuallererst nennt sie hierbei ein falsches Lesen und Anwenden der Bibel, wodurch ein falsches Menschenbild entsteht. Um sich selbst und seine Umwelt im richtigen Licht zu sehen sowie angemessene Ansprüche zu stellen, ist es nötig, sich die Grundlagen des Menschseins, wie sie die Bibel lehrt, neu bewusst zu machen. Das bedeutet, den Menschen als Geschöpf Gottes zu sehen, abhängig von seinem Schöpfer. Murray schreibt hierzu:

„Als ich begann, die praktischen Konsequenzen meines Daseins als begrenztes, komplexes und gefallenes Geschöpf zu erkennen, begann ich, Gott anders wahrzunehmen, mich selbst anders wahrzunehmen und mein Leben anders wahrzunehmen. Anstatt mich immer mehr anzustrengen, um schneller und schneller zu werden, begann ich, viel bewusster darüber nachzudenken, dass ich in Abhängigkeit von meinem Schöpfer leben und die Grenzen, die er mir gesetzt hat, respektieren muss. … Mehr über Gott als Schöpfer zu lernen und es praktisch auf mein Leben anzuwenden, hat mich massiv entlastet und von Stress befreit.“ (S. 48–49)

Auf dieser Erkenntnis fußt das eingangs erwähnte Konzept des „Lebens im gnädigen Tempo“. Der Mensch ist eingeschränkt und angewiesen auf einen gnädigen Gott, der seine Gnade gern und großzügig gibt.

Konkrete Schritte aus der Erschöpfung

Welche Erleichterung diese Beobachtung der Autorin brachte, wie erfrischt sie von Gottes Gnade war, kann man den folgenden Kapiteln abspüren: Nachdem sie einige andere Ursachen einer möglichen Erschöpfungsdepression genannt hat, wird sie sehr konkret hinsichtlich möglicher Schritte im Rahmen des Prozesses hin zu einem von Gnade erfrischten Leben. Ein Abschnitt ist dem gesunden Schlaf gewidmet, ein weiterer erklärt, wieso Bewegung und körperliche Fitness ausschlaggebend sind. Auch Medikation wird als Möglichkeit zur Linderung einer Depression diskutiert, wobei Murray empfiehlt, dieses Mittel weder auszuschließen noch sich vollkommen darauf zu verlassen. Zum Thema Entspannung gibt die Autorin ehrliche und nachvollziehbare Einblicke in ihren Lernprozess:

„Die sich wiederholende und unaufhaltsame Kakofonie der Erwartungen schallt aus allen Richtungen – von der Familie, den Freunden, dem Arbeitgeber, der Gemeinde und vor allem von uns selbst. Oh, wie schön wäre es, wenn wir auch nur ein paar Sekunden von der Tyrannei der Forderungen anderer und vor allem von unserem anspruchsvollen, überempfindlichen Gewissen Ruhe fänden. … Dort hinein dringen die Worte: ‚Seid still und erkennt, dass ich Gott bin!‘ (Ps 46,11).“ (S. 99)

Gelingt es, die Perspektive „vom ständigen Weiter und Weiter zur Gnade“ (S. 121) hin zu ändern, kann ein Umdenken geschehen. Dieses Umdenken zeigt sich im Hinterfragen der eigenen, bisher angenommenen Identität. Um wirklich in Gottes Gnade einzutauchen, bedarf es einer Selbstwahrnehmung, wie Gott sie möchte.

„Der Mensch ist eingeschränkt und angewiesen auf einen gnädigen Gott, der seine Gnade gern und großzügig gibt.“
 

Einige Kapitel des Buches enthalten Vorschläge dazu, an welchen Stellschrauben des Lebens sich drehen lässt, um den Alltag zu entschlacken. Murray empfiehlt zum Beispiel, sorgfältig einen Kalender zu führen, Prioritäten zu setzen, auf seine Ernährung zu achten und konkrete Ziele für das Familien-, Berufs- oder Gemeindeleben zu formulieren. Zuletzt erklärt sie, welche tiefgreifende Veränderung mit der Entdeckung dieses neuen, von Gnade erfüllten Lebensstils einhergehen kann. Dieser bringt einen neuen, gemächlichen Laufstil im Alltag mit sich, neue Energie, ein neues Gleichgewicht – ja, sogar eine neue Hoffnung: Denn jetzt „blicken wir mit neuer Hoffnung und Zuversicht in die Zukunft. Gnade ist an die Stelle von Verbissenheit und Plackerei getreten. Freude hat Freudlosigkeit ersetzt“ (S. 228).

Fazit

Wer mit Menschen zu tun hat, die von Erschöpfung und Ausbrennen bedroht sind, oder selbst betroffen ist, findet in diesem Buch einen vertrauenswürdigen Ratgeber. Murray spricht von ihren Ausführungen als einem Training, „das sich aus unserem Bibelverständnis entwickelt hat und damit nicht nur präziser ist, sondern auch eine länger anhaltende und tiefere Motivation als bloße Selbsthilferatschläge“ anbietet (S. 44). Es gelingt ihr nicht immer, diesen Anspruch konsequent umzusetzen, da sie dem Grundproblem – ein falsches Gottes- und Selbstbild – vergleichsweise wenig Platz einräumt. Meiner Ansicht nach könnten die Stellen, an denen Murray die theologischen Grundlagen für ein „Leben im gnädigen Tempo“ (S. 12) erklärt, ausführlicher sein. Gerade in der Situation, in der sich die Leser des Buches womöglich befinden, birgt dies die Gefahr, in Refresh einen weiteren der vielen Ratgeber zu sehen, einen Zehn-Punkte-Plan, den es erfolgreich umzusetzen gilt. Dass es aber eben um eine Änderung der Perspektive geht und erst nachrangig um konkrete Schritte, hätte stärker betont und in einem oder mehreren der ersten Kapitel konzentriert bearbeitet werden können. Diese Inhalte erfolgen recht verstreut im oder zu weit am Ende des Buches.

Hier und da werden Bilder verwendet, die das Gesagte veranschaulichen sollen, meiner Meinung nach aber an vielen Stellen überflüssig sind. Manchmal sind die Bilder sogar eher hinderlich, beispielsweise vergleicht Shona Murray den Inhalt ihres Buches mit einem Training im „Refresh-Studio“ (S. 27), wobei fraglich ist, ob ein Fitnessstudio, das in den Köpfen vieler ein Sinnbild für Selbstoptimierung ist, hier wirklich als bildliche Denkhilfe bemüht werden sollte. Sehr hilfreich dagegen ist es, dass manche der beschriebenen Gedankengänge dem Leser bekannt vorkommen dürften. Zum Beispiel, wenn sie ihr stetiges schlechtes Gewissen beschreibt, welches ihr durch Schuldgefühle versicherte, „eine schlechte Mutter, eine schlechte Ehefrau, eine schlechte Tochter“ (S. 22) zu sein oder, wie sie ihr Befinden auf die Qualität ihres Glaubens zurückführte. Nicht alle Anregungen dürften für den Leser völlig neu sein – dass Bewegung und ausreichend Schlaf Ermüdung vorbeugen, ist hinreichend bekannt. Dennoch ist es gut, daran erinnert zu werden, dass es in Ordnung ist, seine Ressourcen zu schonen und nicht bis zur Erschöpfung weiterzumachen. Auch erfrischend ist, dass es Shona Murray gelingt, sehr greifbare Ratschläge zu geben, sodass ein Hilfesuchender schnell weiß, an welcher Stelle er mit Veränderung beginnen kann. Und zwar, nachdem er alle Sorgen auf ihn geworfen hat, der sich um uns sorgt (vgl. 1Petr 5,7) und so beginnt, „erfrischt von der Gnade Gottes“ zu leben.

Buch

Shona und David Murray, Refresh: Erfrischt von der Gnade Gottes leben, wenn die Anforderungen zu groß zu werden drohen, Dillenburg: CV, 2023, 240 Seiten, ca. 17,90 EUR.