Warum der heilige Kuss unverzichtbar ist

Artikel von Alin Cuc
29. Juni 2023 — 4 Min Lesedauer

Ich habe es immer schon faszinierend gefunden, dass die Bibel über „heilige Küsse“ spricht. Seit ich mich damit beschäftigt habe, was es mit diesen Küssen auf sich hat, finde ich sie noch interessanter und einfach unverzichtbar.

Aussagekräftige Praktik

Faszinierend sind die „heiligen Küsse“, weil die griechisch-römische Welt, in der die ersten Christen lebten, so etwas noch nie zuvor gesehen hatte. Die Christen – Arme und Reiche, Männer und Frauen, Juden und Heiden, Freie und Sklaven, Junge und Alte – küssten einander zur Begrüßung.[1] Das taten die Christen nicht nur in der Gemeinde, sondern auch in der Öffentlichkeit jener stark ausgrenzenden Gesellschaft. Sie küssten sich auf die gleiche Weise, wie man seine eigene Familie küsst: herzlich, authentisch, rein. Nicht mit einem sexuellen Kuss oder einem geheuchelten Judaskuss, sondern mit einem „heiligen“ Kuss – meistens auf Wange, aber auch auf Stirn und eventuell auf Hände.[2] Sie nahmen einander an. Durch diesen Liebesausdruck bekannten sie, dass sie jetzt alle zu einer Familie gehörten. Egal, was die anderen sagten. Egal, was es kosten würde. Sie küssten sich vor den erstaunten Blicken der Welt und bestätigten einander eine himmlische Liebe.

„Die Christen küssten einander zur Begrüßung. Das taten die Christen nicht nur in der Gemeinde, sondern auch in der Öffentlichkeit jener stark ausgrenzenden Gesellschaft. Sie küssten sich auf die gleiche Weise, wie man seine eigene Familie küsst: herzlich, authentisch, rein.“
 

Unverzichtbar sind diese Küsse, weil Gott uns in der Menschwerdung Christi „geküsst“ hat und wir in Christus für immer seine geliebte Familie bleiben werden. Der heilige Kuss wird dadurch Alltagskultur in der Familie Gottes. Paulus wusste genau, wie unverzichtbar dieser Kuss ist. Deswegen gebot und erinnerte er immer wieder in seinen Briefen: „Grüßt einander mit einem heiligen Kuss!“ (2Kor 13,12; vgl. Röm 16,16; 1Kor 16,20, 1Thess 5,26). So hat Gott es sich gedacht.

Offene Fragen

In der frühen Kirche waren sich die Christen nicht in Bezug auf alle Details einig, wie diese Küsse ausgedrückt werden sollten: Justin der Märtyrer und viele Kirchen damals wollten heilige Küsse in der Liturgie vor dem Abendmahl einbauen. Clemens von Alexandria betonte sie lieber symbolisch als Ausdruck der Freundlichkeit. Athenagoras machte sich beim Küssen zwischen Männern und Frauen Sorgen, dass nach dem ersten Kuss der „böse Gedanke“ an einen zweiten Kuss kommen könnte. Auch Tertullian war nicht begeistert von der Idee, dass seine Frau andere Brüder küssen sollte. Das eine oder andere Detail bleibt offen, aber in einem waren sich alle einig: Die Liebe für unsere geistlichen Geschwister muss konkret ausgedrückt werden.

„Die Liebe für unsere geistlichen Geschwister muss konkret ausgedrückt werden.“
 

Wir sollten die Sache mit dem Kuss nicht zu kompliziert machen. Der Kuss zelebriert einfach die Andersartigkeit (ich küsse nicht nur meinesgleichen), Heiligkeit (ich küsse nicht mit egoistischen Hintergedanken) und Körperlichkeit (ich küsse nicht den Bildschirm einer Online-Gemeinde).

Verschiedene Ausdrucksformen

Brauchen wir noch „heilige Küsse“? Absolut! Auch wenn diese Gesten der Liebe im heutigen Deutschland nicht so ausgedrückt werden wie in der griechisch-römischen Welt zu Paulus’ Zeit, sollten sie dennoch dieselbe Botschaft zum Ausdruck bringen, die auch Paulus und Petrus vermittelten (vgl. 1Petr 5,13f). Lasst uns einander mehr „küssen“ – auch wenn die anderen Geschwister uns bisher noch nicht geküsst haben. Wir betrachten, wie liebevoll Gott uns annimmt, und lassen die Freude, die unser Herz dadurch erfüllt, nach außen in die Gemeinde fließen, indem wir unsere Geschwister heilig (und fleißig) „küssen“: durch regelmäßige Gastfreundschaft, durch das gemeinsame Abendmahl, durch Versöhnen, Dienen und Ertragen, durch lächelnde Augen und zuhörende Gemeinschaft, durch Weinen miteinander, durch Feiern und Umarmungen, und – wo es kulturell und kontextuell passt – sogar durch einen Kuss auf die Wange.


1 Zwei Leseempfehlungen zum Thema sind William Klassen, „The Sacred Kiss in the New Testament: An Example of Social Boundary Lines“ in: New Testament Studies, Bd. 39, S. 122–135 und William Klassen „Kiss (NT)“ in: The Anchor Bible Dictionary, Bd. 4, S.89–92. Beide Artikel sind gut geschrieben und bilden die Grundlage für die Interpretation, die in vielen Kommentaren zu finden ist.

2 Vgl. Gene L. Green, in: The Letter to the Thessalonians, S.270–271; Peter H. Davids in The First Epistle of Peter.