Die Stone Lectures von 1898

Rezension von Ron Kubsch
6. Juli 2023 — 4 Min Lesedauer

Die „Stone Lectures“, die der Niederländer Abraham Kuyper (1837–1920) 1898 in Princeton gehalten hat, gehören zu den Kernpublikationen des neuzeitlichen Calvinismus. Kuypers Anliegen war nicht die Reproduktion oder Wiederherstellung der alt-reformierten Lehre, sondern die Fortschreibung der calvinistischen Lehre im Kontext der Moderne. Der Einfluss des Kirchenfunktionärs, Journalisten und Politikers war so groß, dass er zu Recht als Vater des Neo-Calvinismus bezeichnet wird.[1] Stark von ihm beeinflusst sind etwa der Dogmatiker Herman Bavinck, der Kunsthistoriker Hans Rookmaaker, der Rechtsphilosoph Herman Dooyeweerd, der Evangelist und Apologet Francis Schaeffer sowie der Religionsphilosoph Alvin Plantinga.

Kuypers Vorlesungen über den Calvinismus sind bereits 1904 in deutscher Sprache erschienen. Dr. Hans-Georg Ulrichs, Privatdozent für Kirchengeschichte an der Universität Osnabrück, folgt dieser von Martin Jaeger angefertigten Übersetzung, hat allerdings zahlreiche notwendige Revisionen vorgenommen (vgl. S. 16–17). Damit liegt nun eine aktuelle und gut lesbare Edition der „Stone Lectures“ in lateinischem Schriftsatz vor (die Ausgabe von 1904 ist im Fraktursatz erschienen).

Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn erhielt Abraham Kuyper die Einladung, am Princeton Theological Seminary in New Jersey (USA) Vorlesungen über den Calvinismus zu halten. Er nahm das Angebot an und packte in seine Vorträge sehr konzentriert die Ideen, die er in den vergangenen Jahrzehnten als Theologe entwickelt hatte. Die ersten beiden Vorlesungen informieren über die Geschichte des Calvinismus und seine Positionierung gegenüber der Religion. Die anderen vier Vorlesungen sind der Politik, Wissenschaft, Kunst und Zukunft gewidmet. Schon diese Schwerpunkte zeigen, dass Kuyper den Calvinismus als umfassende Weltanschauung versteht. Ausgangspunkt für Kuyper ist das Bekenntnis zur absoluten Souveränität Gottes: „Es gibt auf dem ganzen Hof unseres menschlichen Lebens nicht eine winzige Ecke, wo nicht der Ruf Christi, der der Souverän aller Menschen ist, erschallt: Mein“![2] Dieser Glaube an die allumfassende Königsherrschaft von Jesus Christus (engl. „Lordship Principle“) bedeutet für ihn konsequenterweise, dass der Calvinismus als eine Lebensanschauung anzusehen ist, die jeden Bereich der Wirklichkeit berührt. Diese Herrschaft von Jesus Christus über die gesamte Wirklichkeit konkretisiert sich in drei abgeleiteten Ordnungen, die jeweils unmittelbar Gott unterstellt sind, nämlich Staat, Gesellschaft und Kirche:

„Das Grundprinzip des Calvinismus ist die absolute Souveränität des dreieinigen Gottes über alles geschaffene Leben, mag dies sichtbar oder unsichtbar sein. Auf Erden kennt er daher keine andere als abgeleitete Souveränität, und zwar eine dreifache: im Staat, in der Gesellschaft und in der Kirche“. (S. 79–80)

Der Staat habe sich dabei selbst zu begrenzen, „da die Sphären über eine von Gott geschaffene Eigenwürde verfügten. Das ganze Leben, der ganze Kosmos sei von Gott geschaffen und deshalb auch der Ort seines bewahrenden Handelns“.[3] Kuyper betonte stark, dass

„die Familie, das Gewerbe, die Wissenschaft, die Kunst und vieles mehr gesellschaftliche Kreise bilden, die ihr Dasein nicht dem Staat verdanken noch ihr Lebensgesetz der Staatshoheit entlehnen, sondern einer hohen Autorität im eigenen Busen gehorchen, die, ebenso wie die Staatssouveränität, ‚von Gottes Gnaden‘ herrscht“. (S. 89)

Kuyper wollte den kraftlos gewordenen Calvinismus mit seinen starken Absonderungstendenzen aus seiner Enge herausführen und für einen lebendigen Dialog mit der Gegenwartskultur zurüsten. Nicht alle Kirchgänger in den Niederlanden waren von dieser Zielsetzung begeistert. Kuyper wurde vorgeworfen, er habe die Kirche von der überlieferten Theologie entfremdet. Tatsächlich veränderte sich unter seiner Wirkung das calvinistische Selbstverständnis in vielen niederländischen Kirchengemeinden. Während zuvor die kirchliche Erbauung und biblische Themen wie Buße, Glaube, Wiedergeburt, Rechtfertigung, Heiligung usw. im Vordergrund standen, kam es unter Kuyper zu einer stärkeren Gewichtung von Kultur und Gesellschaft. Da ist es nur verständlich, dass er selbst eine politische Partei gründete und von 1901 bis 1905 niederländischer Ministerpräsident war. Der Politiker Kuyper wandte sich nicht nur gegen die Sklaverei oder das Kastenwesen, sondern auch gegen die Unterdrückung von Frauen und Armen.

„‚Das Grundprinzip des Calvinismus ist die absolute Souveränität des dreieinigen Gottes über alles geschaffene Leben, mag dies sichtbar oder unsichtbar sein.‘“
 

Die neue Ausgabe der „Stone Lectures“ wird es vielen Lesern erleichtern, Zugang zu Kuypers Denken zu finden. Auch jene, die – aus welchen Gründen auch immer – ein reserviertes Verhältnis zum reformierten Glauben haben, können sich anhand eines Schlüsselwerkes über den Neo-Calvinismus informieren. Freilich ist die Lektüre trotz modernisierter Sprache und hilfreicher Kommentierung nicht einfach. Es handelt sich eben nicht um journalistische Texte, sondern um Vorlesungen. Leider ist das Buch mit 39,00 € nicht ganz günstig.

Buch

Abraham Kuyper, Calvinismus: Die Stone Lectures von 1898. Hrsg. v. Hans-Georg Ulrichs, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021, 189 S., 39,00 Euro.


1 Zu Kuyper siehe: Hans-Georg Ulrichs, Abraham Kuyper, Bielefeld: Luther-Verlag, 2019; u. Ron Kubsch, „Abraham Kuyper: Vater des Neo-Calvinismus“, in: Thomas Schirrmacher, Ron Kubsch (Hrsg.), Vergangenheit als Lernfeld, Bonn: VKW, 2014, S. 255–266.

2 Zitiert nach: Cornelis Augustin, „Abraham Kuyper“, in: Martin Greschat (Hrsg.), Gestalten der Kirchengeschichte: Die neueste Zeit II, Bd. 9, 2. Auflage, Stuttgart: W. Kohlhammer, 1993, S. 289–307, hier S. 293.

3 Hans-Georg Ulrichs, „Wo er auftrat, gab es Krach“, Zeitzeichen, online unter: https://zeitzeichen.net/node/8612 (Stand: 02.06.2022).