Meine Freude ist abhängig von meinen Umständen
In meiner Zeit als junger Pastor konnte eines Tages ein Ältester der Gemeinde beobachten, wie entmutigt ich war, und sagte behutsam: „Morgen früh wird es besser aussehen.“ Dieser einfache Ratschlag hat mir seitdem unzählige Male geholfen. Nach einer wohltuenden Nacht und einer zügigen Laufrunde am Morgen fühlte ich mich Gott oft näher, meine Probleme wirkten kleiner, die Lösungen klarer und meine Zukunft heller.
Weil ich meine Umstände änderte, konnte meine Freude wachsen.
Genau jetzt werden mich viele Evangelikale sofort korrigieren: „Nein. Du hast dein Glücksgefühl vergrößert, nicht deine Freude. Glücksgefühle sind abhängig von Umständen; Freude nicht. Die Welt erfährt Glücksgefühle, doch nur Christen erleben Freude.“
Diese gängige Unterscheidung zwischen Glücksgefühl und Freude gibt es noch nicht lange in den Gemeinden. Randy Alcorn legt überzeugend dar, dass die beiden biblischen Begriffe dafür austauschbar sind und er sieht den Ursprung dieser künstlichen Unterscheidung bei Oswald Chambers, der dies in der Mitte des 20. Jahrhunderts deklarierte.[1]
Sollte Alcorn Recht haben (und davon bin ich überzeugt), dann sind Freude und Glück entweder abhängig von unseren Umständen oder eben beide nicht. Was für das eine stimmt, muss auch für das andere wahr sein.
Zwei mögliche Umstände
Der Begriff Umstand bedeutet wörtlich „herumstehen“. Stell dir vor, du stehst in der Mitte eines Kreises und bestimmte objektive Tatsachen stehen um dich herum auf der Kreislinie. Es sind folgende Tatsachen: Du hast gut geschlafen, eine Tasse starken Kaffee getrunken, deine Tochter gehört zu den Besten ihres Studiengangs und dein Chef hat dir eine Gehaltserhöhung angekündigt. Die normale Reaktion auf diese objektiven Fakten ist aufrichtige Freude. Du fühlst dich glücklich – egal, ob du Christ bist oder nicht.
Nun stell dir andere dich umgebende Tatsachen vor: Deine Allergien haben dich die ganze Nacht wach gehalten, während der Autofahrt hast du Kaffee verschüttet, deine Tochter droht in einem Kurs durchzufallen und dein Chef hat dir gerade gekündigt. Eine normale Reaktion auf diese objektiven Tatsachen ist aufrichtige Sorge. Du wirst dich traurig fühlen – egal, ob du Christ bist oder nicht.
Gläubige wie Ungläubige teilen diese unterschiedlichen Umstände miteinander. Die Kinder Gottes sind nicht immun gegenüber Ängsten, die der Sündenfall hervorgebracht hat – Grund ist die uns allen gemeinsame Schuld. Die Kinder des Zorns sind der Freude nicht beraubt, die im Ebenbild Gottes erhalten bleibt – Grund ist die allen gemeinsame Gnade. Ungläubige erleben echte Freude, wenn sie die guten Gaben des Schöpfers empfangen, auch wenn sie den, der ihre „Herzen mit Speise und Freude“ (Apg 14,17) füllt, nicht anerkennen.
„Natürlich schafft es zeitweise Freude, wenn der lebendige Gott durch leblose Götzen ersetzt wird. Der Ertrag daraus wird jedoch immer weiter sinken, denn diese Götzen werden schlussendlich versagen.“
Über all den Tatsachen des augenblicklichen Kreises gibt es einen weiteren Kreis mit anderen Umständen – den letztgültigen. Diese sind die Eigenschaften, Taten und Verheißungen Gottes. Für den Ungläubigen bedeuten die letztgültigen Umstände schlechte Nachrichten: Gottes Allwissenheit heißt, dass jede geheime Sünde bekannt ist; seine Heiligkeit versichert, dass ein Gericht unvermeidbar ist; seine Allgegenwart bewirkt, dass keiner dem Gericht entfliehen kann. Diese objektiven Tatsachen bauen einen erschreckenden Ring von Umständen für den Ungläubigen.
Wie kann der Ungläubige mit diesen traumatisierenden Umständen emotional zurechtkommen? Indem er nicht den Schöpfer, sondern die Schöpfung anbetet, und sein Glück in den Gaben sucht, nicht im Geber.
Wegen seiner geistigen Blindheit und bewussten Verneinung kann er nicht über seine unmittelbaren Umstände hinausblicken. Natürlich schafft es zeitweise Freude, wenn der lebendige Gott durch leblose Götzen ersetzt wird. Der Ertrag daraus wird jedoch immer weiter sinken, denn diese Götzen werden schlussendlich versagen.
Die letztgültigen Umstände sind frohe Tatsachen für den Glaubenden. Gottes Allwissenheit bedeutet, dass er unsere Bedürfnisse kennt; seine Allmacht versichert, dass er diese Bedürfnisse erfüllen kann; seine Barmherzigkeit bewegt ihn, sich um unsere Bedürfnisse zu kümmern; seine Versorgung sagt uns zu, dass es eine liebevolle (wenn auch verborgene) Absicht für jedes unerfüllte Bedürfnis gibt. Tatsachen wie die Unveränderlichkeit Gottes, das stellvertretende Sühneopfer und die triumphale Auferstehung Christi, Rechtfertigung allein durch Glauben und die Verheißung des ewigen Lebens werden für immer standhaft einen Kreis um mich herum bilden. Meine Freude ist von diesen letztgültigen Umständen vollkommen abhängig.
Milton Vincent fasste es so zusammen: „Das Evangelium ist ein großartiger, dauerhafter Umstand, in welchem ich lebe und mich bewege. Gott erlaubt Mühsal in meinem Leben, weil diese Mühsal seinen Absichten mit dem Evangelium in mir dient“[2].
Ein Gott der Hoffnung
Sicher ist, dass wir oft Freude in den glücklichen Tatsachen unserer unmittelbaren Umstände finden können, da diese von Gott liebevoll angeordnet worden sind. Er ist es, „der uns alles reichlich zum Genuss darreicht“ (1Tim 6,17): Essen und Trinken, Familie und Freunde, Häuser und Gesundheit, Bibeln und Fahrräder, Musik und Sport. Jeder Gläubige hat die Freiheit, so viel Spaß zu haben, wie es legal möglich ist, und dabei fröhlich die Gebote Gottes zu halten und die Freude anderer Menschen zu vergrößern. Ungläubige hoffen darauf, ihr Glück von dieser Welt zu empfangen, wohingegen Gläubige hoffen, ihr Glück in der Welt zu empfangen, indem sie Gottes gute Gaben mit dankbaren Herzen genießen.
Der Missionar David Brainerd erkannte, dass wir für jedes Körnchen Glück, welches wir erfahren, absolut abhängig von Gott sind.[3] Erkenne diese Abhängigkeit von Gott und finde Glück ohne schlechtes Gewissen – in gutem Schlaf, kraftvollem Sport, gesunder Ernährung, engen Freunden, gemeinsamem Lobpreis, bedeutsamer Arbeit und starkem Kaffee. All dies geschieht im Bewusstsein der Gegenwart Gottes. Wenn wir wissen, dass der Herr große Dinge für uns getan hat, wird „unser Mund voll Lachen und unsere Zunge voll Jubel“ (Ps 126,2) sein.
Doch wird unsere Freude durch schmerzhafte Umstände bedroht – wenn wir durch plötzlichen Verlust unter Schock stehen, wie gelähmt sind durch herzzerreißende Trauer oder durch eine chronische Krankheit geschwächt werden –, verlassen wir uns auf Hoffnung. Hoffnung ist die faktenbasierte Überzeugung, dass die Dinge wieder besser werden, egal, wie furchtbar sie gerade sein mögen.
„Ungläubige hoffen darauf, ihr Glück von dieser Welt zu empfangen, wohingegen Gläubige hoffen, ihr Glück in der Welt zu empfangen, indem sie Gottes gute Gaben mit dankbaren Herzen genießen.“
Jesus betete im Garten Gethsemane ohne sichtbare Anzeichen von Freude. In seinen unmittelbaren Umständen befand sich ein bitterer Kelch. Warum sollte er diesen qualvollen Weg gehen? Wegen „der vor ihm liegenden Freude“ (Hebr 12,2). Egal, wie furchtbar die unmittelbaren Umstände für ihn waren, er war gewiss, dass diese besser werden würden. Denn neben dem blutenden Sohn befand sich der letztgültige Umstand eines mächtigen und liebevollen Vaters.
Für den Ungläubigen, der keine Buße tut, sind die flüchtigen Freuden der Welt das Einzige, was er vom Himmel zu spüren bekommt – was viele bereits festgestellt haben. Für den Gläubigen wiederum sind die kurzzeitigen Sorgen der Welt das Einzige, was er von der Hölle zu spüren bekommt. Darum kann Paulus auch im Gefängnis von Freude erfüllt sein, denn er wusste, dass sich dies „zur Förderung des Evangeliums ausgewirkt hatte“ (Phil 1,12). Unmittelbarer Umstand: das Gefängnis Cäsars. Letztgültiger Umstand: Gottes Absichten.
Paulus kann sogar über Christen, die über kürzlich Verstorbene weinen, behaupten, dass sich ihre Trauer unterscheidet von den Trauernden, „die keine Hoffnung haben“ (1Thess 4,13). Unmittelbarer Umstand: Der Gläubige ist tot. Letztgültiger Umstand: Der Gläubige wird wieder auferweckt werden.
Eine dynamische Partnerschaft
Freude und Hoffnung sind treue Gefährten. „Es ist besser, dass man zu zweit ist als allein“; und wenn unsere Freude unter der Last der unmittelbaren Umstände bröckelt, so hilft Hoffnung „dem anderen auf“ (Pred 4,9–10). Hoffnung und Freude arbeiten zusammen, damit wir durchhalten. Hoffnung hält uns so lange aufrecht, bis wir wieder Freude empfinden können.
Am letzten Tag werden die letztgültigen Umstände unsere unmittelbaren Umstände verschlingen und jede Träne wird abgewischt werden. Bis dahin werde ich, durch Gottes Gnade, der Freude nachjagen. Dafür ändere ich jeden Umstand, den mir die Weisheit der Bibel erlaubt zu ändern. Ich werde jeden traurigen Umstand, den ich nicht verändern kann, als die Fürsorge des allwissenden Gottes akzeptieren. Und ich werde mich an diesen uralten Rat erinnern: „am Abend kehrt das Weinen ein und am Morgen der Jubel“ (Ps 30,6).
1 Vgl. Randy Alcorn, Happiness, Carol Stream: Tyndale House Publishers, 2015.
2 Milton Vincent, A gospel primer for Christians: Learning to see the glories of God's love, Bemidji: Focus Publishing, 2008.
3 Vgl. Jonathan Edwards, „The Life of Rev. David Brainerd, Chiefly Extracted from His Diary“, American Tract Society, 12.04.2021, online unter: https://www.gutenberg.org/files/65066/65066-h/65066-h.htm (Stand 25.06.2023).