Die messianische Hoffnung im Judentum

Artikel von Andreas J. Köstenberger
14. August 2023 — 5 Min Lesedauer

Das Wort Messias leitet sich vom hebräischen Wort mashiach ab, welches „Gesalbter“ bedeutet. Dem entspricht das griechische Wort christos, welches ebenfalls vom Wort chri für „salben“ stammt. Im ersten Jahrhundert wurden die Begriffe „Messias“ und „Christus“ weitestgehend synonym verwendet (vgl. Joh 1,41).

Die messianischen Erwartungen zur Zeit des zweiten Tempels

Zur Zeit des zweiten Tempels (516 v.Chr.–70 n.Chr.) wurde mit dem Begriff „Messias“ im Allgemeinen das Recht zu herrschen verbunden. Die Textquellen der Epoche legen aber nahe, dass es dem antiken Judentum an einem einheitlichen Messias-Konzept fehlte. Manchmal fokussierte sich die Erwartung mehr auf ein messianisches Zeitalter als auf eine bestimmte Person (vgl. Jes 2,1–5; Mi 4,1–5). Manche sahen den Messias eher als himmlisches Wesen, ähnlich der in Daniel 7,13 erwähnten geheimnisvollen Gestalt. Andere, wie die Samaritaner, erwarteten im Messias primär einen Lehrer (vgl. Joh 4,25). In der Vorstellung der meisten jedoch sollte ein Priester, Prophet oder König (bzw. eine Kombination dieser drei) kommen.

Der Messias als Priester

Die Erwartung eines Priester-Messias finden wir in der Gemeinschaft von Qumran, deren Ursprünge wahrscheinlich auf die Ablehnung der korrupten Jerusalemer Hohepriester durch eine Gruppe von Tempelpriestern in der Mitte des 2. Jahrhunderts vor Christus zurückgehen. Einige Schriften der Qumran-Gemeinschaft (die Schriftrollen vom Toten Meer) stellen den Gründer der Gemeinschaft, den „Lehrer der Gerechtigkeit“ dem „Frevelpriester“ entgegen. Mit dem Messias erwartete die Qumran-Gemeinde nicht nur einen König, sondern einen Priester, einen „Gesalbten Aarons“, auch wenn das Hauptaugenmerk der Gemeinschaft der rituellen Reinheit und nicht der messianischen Erwartung galt.

Der Messias als Prophet

Verbreiteter war die Erwartung eines zukünftigen Propheten. Als Johannes der Täufer auftrat, fragten die Priester und Leviten, ob er etwa Elia oder der Prophet sei (vgl. Joh 1,21.24). Die Erwartung des Elia wurzelte im Versprechen Gottes: „Siehe, ich sende euch den Propheten Elia“ (Mal 3,23). Als Jesus die Fünftausend speiste, sprachen die Leute „Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll“ (Joh 6,14; vgl. 7,40; 5Mose 18,15.18). Damit ging die Erwartung einher, dass der kommende Messias wie Mose zur Zeit des Exodus Zeichen und Wunder vollbringen würde (vgl. Joh 6,30–31; 7,31). Während seines triumphalen Einzugs rief die Menge: „Das ist Jesus, der Prophet von Nazareth in Galiläa“ (Mt 21,11.46).

Der Messias als König

Die vielleicht am weitesten verbreitete Erwartung war die eines Königs oder Herrschers, eines königlichen Messias aus der Linie Davids, geboren in der Stadt Bethlehem (vgl. Joh 7,42). Die Psalmen Salomos (die in der Zeit zwischen den zwei Testamenten verfasst wurden, aber nicht von Salomo) zeichnen einen davidischen Messias, der Jerusalem erobern, die Heiden unterwerfen und in Frieden und Gerechtigkeit herrschen würde. Wie viele Zeitgenossen Jesu erwartete auch die Gemeinschaft von Qumran einen königlichen Messias.

Messianische Erwartungen im 1. Jahrhundert

Zusätzlich zu den Quellen aus der Epoche des zweiten Tempels bezeugen auch die vier Evangelien die Hoffnungen auf den Messias. Alle vier Evangelien bescheinigen den Glauben der frühen Christen an Jesus als den Messias. Tatsächlich wird der Titel „Christus“ so häufig für Jesus gebraucht, dass man ihn für seinen Nachnamen halten könnte. So beginnt beispielsweise Matthäus sein Evangelium mit den Worten: „Dies ist das Geschlechtsregister Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“ (Mt 1,1).

Gottes Geist salbte Jesus und ruhte während seines Dienstes auf ihm (vgl. Mt 3,16; Joh 1,32–33). Während sein Dienst vorwiegend auf Israel fokussiert war, sollte er sich letzten Endes auf die gesamte Menschheit erstrecken (vgl. Mt 12,15–21; Jes 42,1–4; Joh 3,16; 10,16; 11,51–52). Wie im Alten Testament vorhergesagt, lehnte die Nation Israel, vertreten durch ihre Anführer, Jesus ab (vgl. Mt 21,42; Ps 118,22), wenngleich einzelne Juden (allen voran die zwölf Apostel) an ihn glaubten (vgl. Mt 13,14–15; Joh 12,38–41; Jes 6,9; 53,1). Jesus lehrte in Gleichnissen vom Reich Gottes (vgl. Mt 13,35; Jes 29,13) und wies die Führer Israels wegen ihrer Gesetzlichkeit zurecht (vgl. Mt 15,7–9: Jes 29,13).

„Der Dreh- und Angelpunkt aller vier Evangelien ist das Bekenntnis von Petrus, dass Jesus der Christus ist.“
 

Der Dreh- und Angelpunkt aller vier Evangelien ist das Bekenntnis von Petrus, dass Jesus der Christus ist (vgl. Mt 16,13–20; Mk 8,27–30; Lk 9,18–21; Joh 6,66–71). Als Jesus ihm offenbarte, dass er, der Messias, leiden, getötet und am dritten Tag wieder auferstehen würde, lehnte Petrus dies vehement ab. Er gab zu erkennen, dass sein Bekenntnis auf der Annahme beruhte, Jesus würde seine Herrschaft in Israel als nationaler Befreier aufrichten und nicht als leidender Gerechter für Sünde Sühne schaffen und sein „Leben als Lösegeld für viele geben“ (Mt 16,21–23; 17,22–23; Mk 10,45; vgl. Mt 20,28; Joh 1,29.36).

Als Jesus vor seiner Kreuzigung Jerusalem betrat, jubelte ihm die Menge als kommendem König zu, ohne zu wissen, dass Jesus für sein Volk leiden und sterben musste (vgl. Mt 21,8–9). Jesus sagte zudem das Auftreten vieler falscher Messiasse und Propheten voraus (vgl. Mt 24,5.11.23–24) und verkündete, dass er, der Menschensohn, am Ende der Zeit triumphierend und in Herrlichkeit wiederkehren würde (vgl. Mt 24,30–31).

Alle vier Evangelien finden ihren Höhepunkt in der Passion Christi: seine Verhaftung, sein Prozess, seine Kreuzigung und Grablegung, seine Wiederauferstehung und die Aussendung seiner Nachfolger (vgl. Mt 26–28; Mk 14–16; Lk 22–24; Joh 18–20; Apg 1,6–8). Im Jahr 112 n.Chr. schrieb der römische Autor Plinius an Kaiser Trajan, die Christen würden Loblieder für „Christus wie einem Gott“ singen. Gläubige erachteten Jesus als wesensgleich mit Jahwe, dem Gott Israels (vgl. Mt 15,31; Joh 1,1.18; 20,28). Der Glaube an Jesus als den Messias, den einen vom Geist bevollmächtigten Auserwählten Gottes, ist die naheliegendste Erklärung für die frühe Anbetung Jesu als Herr und Gott (vgl. Röm 9,5; 10,9; 1Kor 8,6; 12,3; Phil 2,11; Tit 2,13; Hebr 1,8; 2Petr 1,1).