Entscheidet sich an meinem Tun, ob ich Christ bin?

Buchauszug von Bryan Chapell
23. August 2023 — 6 Min Lesedauer

Menschen neigen dazu, ihr Sein und ihr Tun zu vermischen. Sie verwechseln ihre Identität mit ihrer Leistung. Das Gesetz sagt: An deinem Tun entscheidet sich, wer du bist. Dagegen sagt die Gnade: An deinem Sein entscheidet sich, was du tust. In diesem Unterschied liegt der Kern des Evangeliums in Bezug auf unsere Heiligung. Durch die ganze Bibel hindurch zeigt Gott, dass unsere Identität, die er erschafft, die Grundlage für unsere Leistung ist. Dagegen ist unser menschlicher Reflex, das Gegenteil zu glauben. Wir neigen natürlicherweise immer dazu, zu denken: An meinem Tun entscheidet sich, wer ich bin. Jede andere Religion dieser Welt folgt diesem Schema. Man gelangt durch das, was man tut (und sei es durch das Erreichen eines bestimmten Bewusstseinszustands) zu Gott.

Dagegen lehrt die Bibel, dass Gott den Weg zu uns gegangen ist. Im Glauben empfangen wir das Werk, das Christus an unserer Statt getan hat. Wir antworten also immer nur auf diese Gnade, aber wir verdienen sie uns nicht. Der niederländische Theologe Herman Ridderbos beschreibt diesen Zusammenhang, indem er feststellt, dass der Imperativ stets auf dem Indikativ beruht, und dass diese Reihenfolge nicht umkehrbar ist. Unser Tun beruht auf unserem Sein. Die Bibel betont diesen Sachverhalt wieder und wieder, z.B. in Epheser 5,1: „Seid nun Nachahmer Gottes als geliebte Kinder!“ Der Imperativ fordert, dass wir Nachahmer Gottes sein sollen. Aber die Grundlage dafür besteht in dem Indikativ, dass wir bereits Gottes geliebtes Kind sind. Die Aussage ist daher nicht: „Gehorche mir, dann werde ich dich lieben!“, sondern Gott redet zu denen, die bereits seine geliebten Kinder sind, die er gerettet hat und die ihm gehören. Zu ihnen sagt er: „Tut nun, was ich sage!“ Es zeigt sich also das genannte Muster.

Ein anderes Beispiel sind die Zehn Gebote. Der Blick kann leicht an diesen zehn Imperativen hängenbleiben, doch ihnen geht ein Prolog voran. Gott sagt: „Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe“ (2Mose 20,2) – deshalb folgt nun meinen Geboten! Es ist an dieser Stelle offensichtlich, dass Gott nicht sagt: „Wenn ihr meinen Geboten gehorcht, dann werde ich euch aus Ägypten befreien“ – das wäre das Gegenteil. Aber Gott hatte sein Volk zu diesem Zeitpunkt schon aus der Sklaverei befreit, deswegen sollen sie ihm nun folgen. Die Schrift lehrt diese Reihenfolge an sehr vielen Stellen, aber wir übersehen das oft.

„Das Evangelium kennt nur die Reihenfolge vom Sein zum Tun. Der Imperativ beruht immer auf dem Indikativ, und diese Reihenfolge kann nicht umgekehrt werden.“
 

Mir persönlich ging das ebenfalls so. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der viele Bibeltexte auswendig gelernt wurden. Einer der wichtigsten Verse, den ich jemals gelernt habe, war Römer 12,1: „Ich ermahne euch nun, Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst.“ In meinem Herzen verstand ich den Vers aber so: „Ich ermahne euch nun, Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes: Gebt eure Leiber hin als lebendige Opfer! Dann werdet ihr heilig und Gott wohlgefällig sein. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst.“ Doch damit war ich genau diesem Missverständnis aufgesessen: Tu etwas, und dann wird Gott dich annehmen. Dagegen steht in diesem Vers eigentlich: Du bist ein lebendiges Opfer, das für Gott heilig und annehmbar ist. Aber wie kann das sein? Ich kenne doch meine Sünde und meine Schwäche, die heute wie jeden Tag da ist. Wie sollte ich da heilig und für Gott annehmbar sein? Paulus beantwortet das direkt am Anfang des Verses: „durch die Barmherzigkeit Gottes“. In den vorhergehenden 11 Kapiteln des Römerbriefes ging es sehr ausführlich darum, was Gottes Gnade in Jesus Christus für uns getan hat. Angesichts dieser Barmherzigkeit, die uns heilig und Gott wohlgefällig gemacht hat, sind wir aufgefordert, das, was wir bereits sind, nun auch zu leben.

Diese Reihenfolge zeigt sich übrigens standardmäßig im Aufbau der neutestamentlichen Briefe. Im vorderen Teil geht es um das, was Gott in Christus für uns getan hat, im hinteren Teil dann um unsere Antwort darauf. Das Evangelium kennt nur die Reihenfolge vom Sein zum Tun. Der Imperativ beruht immer auf dem Indikativ, und diese Reihenfolge kann nicht umgekehrt werden. Wenn wir diese Wahrheit wirklich verstehen, dann wird sie nicht nur unser Predigen und Lehren verändern, sondern auch unsere Beziehungen. In der ersten Zeit meines Dienstes als Pastor war mir diese Bedeutung der Gnade noch nicht bewusst, und deswegen predigte ich ein „Evangelium“ der moralischen Verbesserung und des Vergleichens.

Nachdem aber meine Frau und ich die Lehren der Gnade verstanden hatten, veränderte sich dadurch auch die Art, wie wir mit unseren Kindern redeten. Schließlich sollten auch unsere Kinder das Evangelium verstehen, das wir glaubten. Selbst wenn ich unsere Kinder zurechtweisen musste, konnte ich das nun nicht mehr auf die gleiche Weise wie bisher tun. Früher kam es vor, dass ich in solchen Situationen zu meinem Sohn sagte: „Colin, du bist ein schlechter Junge, weil du etwas Schlechtes getan hast!“ Das ist schnell gesagt und wohl auch nicht außergewöhnlich. Aber genau genommen sage ich damit zu ihm, dass seine Leistung seine Identität definiert. Das ist nicht evangeliumsgemäß. Denn das Evangelium besagt das Gegenteil, und das hört sich in dieser Situation so an: „Colin, du sollst so etwas nicht tun, denn du bist mein Sohn und ich habe dich lieb.“ Er sollte nicht denken, dass seine Beziehung zu mir von seinem Handeln abhängt, sondern er sollte wissen, dass seine Beziehung zu mir auf seiner Identität als mein Sohn beruht.

„Meine eigene, menschliche Identität ist weit davon entfernt, für einen heiligen Gott angemessen zu sein. Aber ich bin eingehüllt in Christi Gerechtigkeit, er lebt durch seinen heiligen Geist in mir.“
 

So geht es also überall um das gleiche Muster: zuerst die Identität, zuerst das Evangelium, zuerst das, was Christus für uns getan hat. Die Menschen meinen sonst, sie müssten durch ihre Taten Gott dazu bringen, sie zu lieben. Stattdessen antworten wir auf Gottes Liebe, die im Wirken Christi zu uns kommt. Eine wichtige Aussage über meine Identität ist in Galater 2,20 zu finden: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben.“ Meine Identität ist demzufolge: Ich bin tot. Meine eigene, menschliche Identität ist weit davon entfernt, für einen heiligen Gott angemessen zu sein. Aber ich bin eingehüllt in Christi Gerechtigkeit, er lebt durch seinen heiligen Geist in mir. Deshalb ist meine Identität nun die eines Gotteskinds. Diese neue Identität gründet sich nicht auf das, was ich tue – ich bin tot! Ich bin mit Christus gekreuzigt (vgl. Gal 2,19), aber Christus lebt in mir. Seine Identität ist nun meine. Dass ich nun für ihn lebe, ist lediglich meine Antwort. Es ist essenziell, dass das jede Woche neu die Grundlage unserer Botschaft ist. Denn ohne das Evangelium haben Menschen keine Kraft, Gott zu dienen. Ohne Christus kann ich nichts tun (vgl. Joh 15,5). Letztendlich muss jede unserer Botschaften von der Erkenntnis der Gnade getragen werden.

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Dieser Auszug stammt aus Gnade verkündigen: Was unsere Liebe zu Christus bleibend fördert von Bryan Chapell (S. 11–14). Das Booklet kann hier bestellt oder heruntergeladen werden. Der Text geht auf Vorträge zurück, die Bryan Chapell auf einer Evangelium21-Konferenz zum Thema „Gnade verkündigen und anwenden“ in Hamburg hielt.