Die bemerkenswerte Kraft der Liturgie

Artikel von Sihle Xulu
30. August 2023 — 6 Min Lesedauer

Mose verfolgt ein einfaches Ziel, als er in 5. Mose 4 zum Volk Israel redet (siehe besonders 5Mose 4,15). Er ermahnt Gottes Volk, sich nach dem Einzug ins verheißene Land nicht von Gott abzuwenden und Götzen anzubeten. Dabei rechnet Mose mit zwei potentiellen Quellen des Götzendienstes: Furcht und Vergesslichkeit. Israel musste der Furcht widerstehen, Gott könne nicht tun, was er verheißen hat. Außerdem mussten sie gegen die Vergesslichkeit ankämpfen, indem sie sich an all das erinnerten, was Gott in der Vergangenheit getan hatte.

Diese beiden Quellen des Götzendienstes kennen wir auch heute noch. Wenn wir vergessen, wie mächtig Gott in der Vergangenheit gehandelt hat, um uns zu retten, wächst in uns die Furcht, dass er womöglich in der Zukunft nicht rettend eingreifen kann. Aus Angst hängen wir uns an andere Dinge – an Götzen –, die uns Rettung verheißen.

Natürlich bestand Gottes Gegenmittel gegen Israels Furcht und Vergesslichkeit in der Verkündigung der Wahrheit. Das war jedoch noch nicht alles. Im gesamten Buch setzt Gott in 5. Mose prägende Rituale ein, die gemeinschaftlich praktiziert werden sollten. Ich möchte in diesem Artikel dafür plädieren, dass die heutige Gemeinde einiges davon lernen kann, und zwar insbesondere in Bezug auf die Gestaltung des sonntäglichen Gottesdiensts. Damit meine ich das, was in der Kirche seit jeher als Liturgie bezeichnet wird.

Ähnlich, wie es bei den gemeinschaftlich praktizierten Ritualen Israels war, erinnert uns eine vom Evangelium durchdrungene Liturgie daran, wer wir sind und was Gott für uns getan hat. Sie vertreibt die Furcht, schützt vor dem Vergessen und bekämpft den Götzendienst. In den Festen und Ritualen, von denen wir in 5. Mose lesen, wurde die Geschichte der Erlösung nachempfunden. Ebenso ist es mit der Liturgie. In ihr durchleben wir die Geschichte des Evangeliums. Genau wie Israel sind wir anfällig für Vergesslichkeit und furchtgetriebenen Götzendienst. Daher müssen wir fortwährend an die Geschichte des Evangeliums erinnert werden. Eines der effektivsten Mittel dazu besteht in einer vom Evangelium durchdrungenen Liturgie, wenn wir als Gemeinde zusammenkommen.

Gottesdienst ist Gemeinschaftssache

Was ich eben geschrieben habe, ist das beste Argument für die Zugehörigkeit zu einer gottesdienstlichen Gemeinschaft, das ich mir vorstellen kann. Wir alle sind anfällig für Furcht und Vergesslichkeit. Das Gegenmittel besteht nicht darin, sich mehr Mühe zu geben, um mehr persönlichen Glauben hervorzubringen. Das Gegenmittel ist die Zugehörigkeit zu einer gottesdienstlichen Gemeinschaft, die uns an das erinnert, was Gott bereits getan hat; dies weckt in uns die Zuversicht, dass er es wieder tun wird. Doch Teil einer gottesdienstlichen Gemeinschaft zu sein, reicht noch nicht aus. Diese Gemeinschaft bzw. Gemeinde muss ihren Gottesdienst bewusst gestalten. Da unsere Herzen dazu neigen, viele Fragen zu stellen, brauchen wir einen Gottesdienst, der uns zur Geschichte des Evangeliums zurückbringt.

„Liturgie ist ein Mittel der Gnade Gottes, welches uns durch die Schönheit unserer Einheit mit Jesus mitreißt.“
 

Wie bei allen Gaben Gottes besteht allerdings die Gefahr, dass Liturgie missbraucht und missverstanden wird. Liturgie darf für uns nicht zu einer Art Selbstzweck werden. Die Erlösung beruht immer noch auf reiner Gnade. Das Gesetz Moses war ein Ausdruck von Gottes Gnade gegen Israel, und so ähnlich funktioniert auch Liturgie. Gott gab Israel das Gesetz, nachdem er sie gerettet hatte. Warum? Um sie kraftvoll daran zu erinnern, was er getan hat und wer er ist. Wir müssen Liturgie im gleichen Licht sehen. Liturgie ist ein Mittel der Gnade Gottes, welches uns durch die Schönheit unserer Einheit mit Jesus mitreißt.

Brauchen wir wirklich Liturgie?

In vielen Kreisen ist das Wort „Liturgie“ negativ besetzt. Es beschwört Bilder von kalter Förmlichkeit herauf, einen mechanisch ablaufenden Gottesdienst. Doch das Wort „Liturgie“ kommt von dem griechischen Wort leitourgia, welches schlicht „Dienst“ bedeutet. Wörtlich genommen bezieht es sich auf das „Werk“ (ergon) des „Volkes“ (laos). Im Rahmen dieses Artikels verwende ich den Begriff „Liturgie“ für die regelmäßigen, gemeinschaftlichen Handlungen einer Gruppe von Menschen. Wenn wir über Liturgie in ihrem grundlegendsten Sinn sprechen, meinen wir damit das, was eine versammelte Gemeinde im Gottesdienst tut. In diesem Sinne hat jede Gemeinde eine Liturgie.

„Liturgien und Gewohnheiten in unserem Leben sind kraftvoll und wirksam, selbst wenn wir sie nicht beachten. Liturgien formen uns im Lauf der Zeit.“
 

Viele Christen haben Bedenken in Bezug auf eine Liturgie, weil sie befürchten, dass der Gottesdienst dann nur noch mechanisch abgespult wird. Natürlich kann sich ein Gottesdienst, dessen Ablauf im Voraus festgelegt ist, künstlich anfühlen. Dennoch sind sämtliche Liturgien und Gewohnheiten in unserem Leben kraftvoll und wirksam, selbst wenn wir sie nicht beachten. Liturgien formen uns im Lauf der Zeit.

Die Kraft der Liturgie verweist auch auf die Hoffnung der Liturgie. Wenn wir demütig genug sind, um anzuerkennen, dass unser gesamtes Leben von Liturgien geprägt ist, realistisch genug, um zu bejahen, dass unser Gottesdienst von Natur aus liturgisch ist, und mutig genug, um zu glauben, dass Gott in unserem Leben wirkt, dann beginnen wir die Hoffnung zu sehen, die wir aufgrund der Kraft unserer liturgischen Handlungen haben: Wenn wir im Gottesdienst gehorsam im Gebet und in der Schrift bleiben, haben wir die Verheißung, dass der Heilige Geist durch diese Gewohnheiten und Handlungen wirkt. Er wirkt nicht nur in spontanen Situationen, sondern auch in liturgischen.

Was prägt und formt dich?

In diesem Sinne richtet Paulus einen sehr eindringlichen Appell an die Christen in Rom. Er fordert sie auf, sich nicht an die Art dieser Welt anzupassen, sondern sich durch die Erneuerung ihres Sinnes verwandeln bzw. prägen zu lassen. Er schreibt:

„Ich ermahne euch nun, ihr Brüder, angesichts der Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber darbringt als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer: Das sei euer vernünftiger Gottesdienst! Und passt euch nicht diesem Weltlauf an, sondern lasst euch [in eurem Wesen] verwandeln durch die Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist.“ (Röm 12,1–2)

Durch den Einsatz von Liturgie im Gottesdienst wollen wir Menschen so verändern und umprägen, wie es dem Evangelium entspricht. Wir wünschen uns, dass sie die Werte des Reiches Gottes übernehmen, statt sich von der Welt bestimmen zu lassen. Christen wachsen niemals aus dem Evangelium heraus oder über es hinaus (vgl. Kol 1,6; Röm 1,16). Stattdessen müssen wir unsere Herzen beständig und immer mehr von der Realität dieser guten Nachricht formen lassen. In der Liturgie des christlichen Gottesdienstes feiern wir die Geschichte des Evangeliums. Wir erinnern uns an die Wahrheit, wer wir sind und wessen wir sind. Eine vom Evangelium durchdrungene Liturgie formt uns immer mehr zu einem evangeliumszentrierten Volk.

„In der Liturgie des christlichen Gottesdienstes feiern wir die Geschichte des Evangeliums.“
 

Theologische Überzeugungen werden nicht nur durch Lehre und Studium geprägt, sondern auch durch Gesang, Sündenbekenntnis, Glaubensbekenntnisse und Katechismen. Die Theologie einer Gemeinde wird „spürbar“ daran, wie sie betet und singt; wie sie das Abendmahl betrachtet. Wenn wir glauben, dass der Gottesdienst das Herzstück der Nachfolge ist, werden wir den Ablauf unserer Gottesdienste bewusst gestalten. Wir werden uns für eine bessere Liturgie einsetzen.