Seid heilig!

Rezension von Christian Schmid
14. September 2023 — 8 Min Lesedauer

„Seit vielen Jahren bin ich zu der tiefen Überzeugung gekommen, dass praktische Heiligkeit und ganze Selbsthingabe an Gott von modernen Christen in diesem Land nicht genügend beachtet werden“ (S. 23). Diese Worte schrieb J.C. Ryle vor fast 150 Jahren. Wie würde er die Situation wohl heute beurteilen? Klar ist, dass auch wir einen eindringlichen Aufruf für ein Leben in Heiligkeit brauchen. Nicht nur das, wir brauchen ältere Geschwister, von denen wir lernen können, wie praktische Heiligkeit aussieht und wie wir Schritt für Schritt darin wachsen können. Genau dies bietet uns Ryle in seinem Buch Seid heilig!

Facettenreich und mit bildhafter Sprache

In den 20 Kapiteln beschreibt Ryle Wesen und Wichtigkeit der Heiligung. Er behandelt das Thema aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln. Weil er weiß, dass sich falsche Ansichten über Heiligkeit gewöhnlich auf ein falsches Denken über die menschliche Verdorbenheit zurückführen lassen, beginnt er das Buch mit dem Thema Sünde. Sünde ist „etwas zu tun, zu sagen, zu denken oder sich vorzustellen, was nicht in vollkommener Übereinstimmung mit dem Denken und dem Gesetz Gottes ist“ (S. 40).

„Wir brauchen ältere Geschwister, von denen wir lernen können, wie praktische Heiligkeit aussieht und wie wir Schritt für Schritt darin wachsen können.“
 

Das nächste Kapitel behandelt die Heiligung und gibt zu erkennen, weshalb das Thema dem Autor so wichtig ist. Ryle ist fest davon überzeugt, dass Heiligung nichts Optionales ist, sondern heilsnotwendig: „Nach der Bibel gibt es drei Dinge, die für jeden Menschen, der sich Christ nennt, zu seinem Heil absolut notwendig sind. Diese drei sind Rechtfertigung, Wiedergeburt und Heiligung“ (S. 57). Dass Ryle damit keinen christlichen Perfektionismus im Kopf hat, wird deutlich, wenn er ein paar Seiten weiter bemerkt: Die Heiligung eines Christen „wird etwas Spürbares und Sichtbares sein, auch wenn er selbst es nicht erkennen mag“ (S. 62). Jemand kann gemäß Ryle also sehr wohl ein Leben der Heiligung leben, selbst wenn man aufgrund deutlicher Schwächen daran zweifelt.

In den folgenden Kapiteln erläutert Ryle, wie praktische Heiligkeit aussieht, beschreibt den Kampf und die Kosten dafür. Auch zeigt er, wie wir darin wachsen können, führt Beispiele und Warnungen an und ruft auf, Christus zu kennen. Im ganzen Buch kommt stets seine solide, in der Bibel gegründete Theologie zum Vorschein sowie sein Anliegen, praktisch zu sein. Besonders in der ersten Buchhälfte schließt er die Kapitel jeweils ab, indem er einige praktische Lektionen auflistet.

Ein fast 150 Jahre altes Buch über Heiligung ist trocken und schwierig zu lesen, oder? Ganz sicher nicht im Fall von Seid heilig! Was schon zu Beginn des Buches auffällt, sind die bildhafte Sprache sowie zahlreiche Illustrationen, die Ryle verwendet. Oft wiederholt er eine wichtige Wahrheit eindringlich, beleuchtet sie aus verschiedenen Blickwinkeln und verknüpft sie anhand eines Bildes mit einer Erfahrung aus dem Alltag. Wenn er beispielsweise über die Wichtigkeit der Heilsgewissheit spricht, ruft er den Leser auf, sich zwei Auswanderer vorzustellen, die sich in Neuseeland oder Australien niederlassen. Jeder von ihnen erhält ein Stück Land. Einer von ihnen geht an die Arbeit, rodet und kultiviert sein Land Tag für Tag. Er ist sicher, dass ihm das Land gehört. Der andere hingegen geht wiederholt zur öffentlichen Registratur, um zu fragen, ob das Land wirklich sein eigenes ist. Die Arbeit im Feld selbst bleibt liegen, weil er zu sehr mit dem Gedanken beschäftigt ist, das Land könnte vielleicht gar nicht sein Eigen sein. Der Punkt von Ryle ist klar: Niemand wird so viel für den Herrn tun wie der Christ, der sich sicher ist, dass er von seinem Herrn erkauft worden ist.

Balanciert und ausgewogen

Ich kann mir gut vorstellen, dass ein Buch mit dem Titel Seid heilig! bei manchen Menschen Unbehagen auslöst. Ich denke da an diejenigen, die so einen Aufruf lesen und sich aufgrund ihrer Gewissenhaftigkeit sofort fragen, ob sie heilig genug sind. Tatsächlich macht Ryle gelegentlich Aussagen, die für jemanden mit einem schwachen Gewissen schwierig sein könnten. Die Aussage „Wo es keine Heiligung gibt, gibt es auch keine Wiedergeburt“ (S. 60), könnte dazu führen, dass jemand unbegründet seine Wiedergeburt infrage stellt, weil er seine persönliche Heiligung nicht wie erhofft feststellt. Man merkt jedoch, dass Ryle große pastorale Erfahrung und Weisheit hat, sodass er Aussagen, welche das Ziel haben, jemanden aufzurütteln, mit Aussagen ergänzt, die er bewusst an die Schwächeren im Glauben richtet. So sagt er zum Beispiel:

„Ich fürchte doch ein wenig, dass meine Absicht falsch verstanden wird und die Beschreibung, die ich von der Heiligkeit gegeben habe, manches zarte Gemüt entmutigen könnte. Ich wollte nicht bewusst ein rechtschaffenes Herz traurig machen oder irgendeinem Gläubigen einen Stolperstein in den Weg legen. Ich sage in keiner Weise, dass Heiligkeit die Gegenwart der innewohnenden Sünden ausschließt.“ (S. 86)

Obwohl er überzeugt ist vom Triumph Christi über die Macht der Sünde und auch von der Wirksamkeit der Gnade, die den Sünder verändert, liegt es Ryle am Herzen, eine biblische, realistische Sicht der Heiligung zu vermitteln. „Erlöste Sünder, gerechtfertigte Sünder und erneuerte Sünder müssen wir zweifellos sein – doch Sünder, Sünder, Sünder, das werden wir bis zuletzt sein“ (S. 187). In diesem Bewusstsein der eigenen Sünde sieht Ryle keinen Gegensatz zu einem freudigen und glücklichen Leben des Christen. Er glaubt nicht nur, dass Heiligkeit Gott ehrt, sondern auch, dass das Leben, das danach strebt, ein glückliches Leben ist. Dies bedeutet auf keinen Fall, dass unser Leben einfach sein wird. Oft ist es genau unser Bestreben, Gott gehorsam zu sein, das Konflikte mit der Welt, dem Fleisch und dem Teufel verursacht. Ryle schreibt jedoch: „Machen Sie sich bewusst: Heiligkeit ist Glück, egal, was andere sagen, und dass der Mensch, der am sorgenfreisten durchs Leben geht, der geheiligte Mensch ist“ (S. 79). Diese positive Sichtweise der Heiligung lässt sich im Buch immer wieder erkennen.

„Ryle glaubt nicht nur, dass Heiligkeit Gott ehrt, sondern auch, dass das Leben, das danach strebt, ein glückliches Leben ist.“
 

In dieser Balance sehe ich eine große Stärke. Wir sind Sünder und wollen betrübt über unsere Sünde sein. Wir möchten nicht davor zurückschrecken, sie zu bekennen und sie, wo nötig, auch in anderen Geschwistern anzusprechen. Dieses Sündenbewusstsein sollte uns jedoch keinesfalls zu unglücklichen, freudlosen Christen machen, die den größten Teil ihrer Zeit damit verbringen, betrübt über ihre Vergehen zu sein. Vielmehr sollten wir mit großer Freude, Dankbarkeit und Hoffnung ausdrücken, dass wir an einen herrlichen Gott glauben, der uns vergibt, mächtig in uns wirkt und uns verändert ins Bild seines Sohnes.

Gewiss und kompromisslos

Sehr hilfreich fand ich auch die Diskussion über Heilsgewissheit. Ryle stellt fest, dass diese vielen Christen fehlt. Korrekt erwähnt er, dass es Christen gibt, die zwar gerettet sind, jedoch ihre Unsicherheit darüber nie ablegen können. Für manche, meint Ryle, ist dies vielleicht besser – möglicherweise würde dadurch jemand vor zu großem Stolz bewahrt –, doch grundsätzlich möchte Gott, dass wir Sicherheit über seine Liebe haben und diese Sicherheit auch suchen. Er erwähnt, weshalb diese Gewissheit wünschenswert ist und was Hindernisse dafür sind.

„Sündenbewusstsein sollte uns keinesfalls zu unglücklichen, freudlosen Christen machen, die den größten Teil ihrer Zeit damit verbringen, betrübt über ihre Vergehen zu sein.“
 

Offenbarend waren für mich auch die Kapitel über Mose und Lot. Obwohl ich die Geschichte von Mose schon oft gelesen, gehört oder mit meinen Kindern angeschaut habe, zeigte mir Ryle Dinge, die ich vorher nicht wahrgenommen hatte. Er bemerkt den großen Glauben von Mose, wie er bereit war, sein wohlhabendes, angenehmes Leben aufzugeben, um sich mit Gott und seinem Volk zu identifizieren. Lot, auf der anderen Seite, ist das Beispiel eines Gläubigen, der zwar gerettet ist, aber seinen Glauben mit Kompromissen lebt und so als Warnsignal für uns dient. Ryle ruft dazu auf, so wie Mose zu glauben, nicht wie Lot. Dabei verliert er nicht aus den Augen, dass unser Glaube von Gott kommt. Während wir uns der Mitteln bedienen, die Gott uns für unser Glaubenswachstum gegeben hat, müssen wir Gott immer wieder bitten, unseren Glauben zu mehren.

Ermutigend und herausfordernd

Das Buch Seid heilig! ist ein christlicher Klassiker, und dies zu Recht. Es richtet sich sowohl an reifere Christen, die von Neuem ermutigt werden möchten, an neuere Christen, die ein solides Fundament erhalten wollen, als auch an bekennende Christen, die bereit sind, die Echtheit ihres Glaubens zu prüfen.

Mit über 400 Seiten wird es wohl den ein oder anderen Leser abschrecken. Das ist bedauerlich, denn dank der bildhaften Sprache, der klar verständlichen Theologie und dem praktischen Bezug, den Ryle immer wieder macht, liest sich das Buch sehr einfach. Die Kapitel sind in sich geschlossen, sodass man das Buch auch gut lesen kann, wenn zwischen den einzelnen Kapiteln einmal eine etwas längere Pause liegen sollte. Ich kann mich J.I. Packer anschließen, der in seinem Vorwort feststellt: „Wahre Christen werden dieses Buch als besonderen Schmaus empfinden, eine Goldmine, einen Ansporn und Herzenswärmer, als Speise, Trank, Medizin und Vitamintabletten, alles in einem“ (S. 18).

Buch

J.C. Ryle, Seid heilig! Der Schlüssel zum erfüllten Leben, 3L-Verlag: Waldems, 2022, 464 Seiten, ca. 16,50 EUR.
Das Buch kann auch direkt beim Verlag bestellt werden.