Sind Christen völlig verdorben?

Artikel von Nick Batzig
18. September 2023 — 6 Min Lesedauer

John Newton fasste die Erfahrung eines Gläubigen in Bezug auf seine Sündhaftigkeit einmal sehr treffend zusammen:

„Ich bin nicht das, was ich sein sollte. Ach, wie unvollkommen und mangelhaft bin ich! Ich bin nicht, was ich sein möchte. Ich verabscheue das Böse und möchte am Guten festhalten. Ich bin nicht, was ich zu sein hoffe. Bald, bald werde ich die Sterblichkeit ablegen, und mit der Sterblichkeit alle Sündhaftigkeit und Unvollkommenheit. Doch obwohl ich weder das bin, was ich sein sollte, noch das, was ich sein möchte, noch das, was ich zu sein hoffe, kann ich aufrichtig sagen, dass ich nicht der bin, der ich einst war – ein Sklave der Sünde und des Satans. Und ich kann mich von Herzen dem Apostel anschließen und bekennen: ‚Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.‘“

Das ist ein schöner Text über die Art und Weise, wie wahre Gläubige sich selbst im Licht der erneuernden Gnade Gottes im Evangelium sehen sollen. Wir sind nicht mehr das, was wir waren (völlig verdorben), aber wir sind auch nicht das, was wir eines Tages sein werden (völlig frei von jeglichem Rest der Verdorbenheit). Es ist von entscheidender Wichtigkeit, dass wir diese Wahrheiten verstehen, wenn wir im christlichen Leben vorankommen wollen.

Das Glaubensbekenntnis von Westminster erklärt das Wesen der völligen Verdorbenheit aller Menschen: Wir sind „äußerst abgeneigt, unfähig und feindlich gegenüber allem Guten und gänzlich hingeneigt zu allem Bösen“. In seinen Überlegungen zur Lehre von der totalen Verderbtheit anhand des calvinistischen Backronyms TULIP erklärt John Gerstner: „Die totale Verderbtheit ist unser einziger origineller Beitrag zu TULIP. Wir sind der schmutzige Boden, in den Gott seine Blume pflanzt und aus unserem Dreck etwas von göttlicher Schönheit hervorbringt.“ Um zu erkennen, dass du der erlösenden Gnade Gottes bedarfst, musst du dich zunächst mit der Lehre der Heiligen Schrift darüber auseinandersetzen, wie du von Natur aus bist – durch und durch verdorben und böse.

Jesaja fasste das Ausmaß der Verderbtheit in einer Anklage gegen das Israel des alten Bundes zusammen: „Von der Fußsohle bis zum Scheitel ist nichts Unversehrtes an ihm“ (Jes 1,6). Jeremia legte die Täuschung des sündigen Menschenherzens folgendermaßen dar: „Überaus trügerisch ist das Herz und bösartig; wer kann es ergründen?“ (Jer 17,9). Der Apostel Paulus zitiert den Psalmisten und bezeugt: „Es ist keiner gerecht, auch nicht einer“ (Ps 14,1; 53,1; Röm 3,10). Wir alle, die wir von Adam abstammen, sind „tot … durch Übertretungen und Sünden“ (Eph 2,1). Unser Verstand, unser Wille, unsere Gefühle, unsere Zuneigungen und unser Gewissen sind durch und durch von der Sünde verunreinigt (vgl. Eph 4,17; Tit 1,15–16). Von Natur aus sind alle unsere Fähigkeiten lediglich Werkzeuge der Gesetzlosigkeit (vgl. Röm 6,19).

„Gläubige haben durch ihre Verbindung mit Christus einen radikalen Bruch mit der Macht der Sünde erfahren.“
 

Gläubige haben durch ihre Verbindung mit Christus einen radikalen Bruch mit der Macht der Sünde erfahren. Da die gesamte Menschheit (mit Ausnahme unseres Herrn Jesus) in Adam gefallen und durch und durch verdorben ist, bedürfen alle Menschen des letzten Adams, der sie durch seinen Tod und seine Auferstehung aus freien Stücken rechtfertigt (vgl. Röm 5,12–21; 2Kor 5,21; Gal 3,10–14). In Christus hat Gott sein Volk „errettet aus der Herrschaft der Finsternis und versetzt in das Reich des Sohnes seiner Liebe (Kol 1,13). Er hat die Gläubigen durch das Wirken seines Geistes gnädig verwandelt, und zwar aufgrund des Erlösungswerkes seines Sohnes. In seinem Buch Human Nature in Its Fourfold State (dt. etwa Die menschliche Natur in ihrem vierfachen Zustand) erklärt Thomas Boston das Ausmaß des neuschaffenden Werkes Gottes:

„Die Erbsünde infiziert den ganzen Menschen, und die wiederherstellende Gnade, die das Heilmittel ist, reicht bis zur Krankheit ... Er bekommt nicht nur einen neuen Kopf, um den wahren Glauben zu erkennen und zu verstehen, oder eine neue Zunge, um von ihm zu sprechen, sondern ein neues Herz, um ihn zu lieben und anzunehmen, und zwar in seinem ganzen Leben.“

Die Gläubigen sind weit davon entfernt, in einem Zustand zu verharren, in dem sie „allem Bösen zugeneigt sind, sondern sie sind durch den Geist Gottes erneuert worden, um das zu tun, „was vor ihm wohlgefällig ist“ (Hebr 13,21). Wir können nun „des Herrn würdig wandeln“ (Kol 1,10) und „Gott gefallen“ (1Thess 4,1). In seinem Brief an Titus erklärt der Apostel Paulus, wie die Gnade Gottes die Erlösten befähigt, aufrichtig zu leben:

„Denn die Gnade Gottes ist erschienen, die heilbringend ist für alle Menschen, sie nimmt uns in Zucht, damit wir die Gottlosigkeit und die weltlichen Begierden verleugnen und besonnen und gerecht und gottesfürchtig leben in der jetzigen Weltzeit, indem wir die glückselige Hoffnung erwarten und die Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Retters Jesus Christus, der sich selbst für uns hingegeben hat, um uns von aller Gesetzlosigkeit zu erlösen und für sich selbst ein Volk zum besonderen Eigentum zu reinigen, das eifrig ist gute Werke zu tun.“ (Tit 2,11–14)

Obwohl dies eine herrliche Wahrheit ist, gehört der Kampf gegen die ihnen innewohnende Sünde zur Heiligung im Leben der Gläubigen. Im Westminster Glaubensbekenntnis heißt es: „Diese Verderbtheit der Natur bleibt während dieses Lebens in denen, die wiedergeboren sind; und obwohl sie durch Christus begnadigt und abgetötet ist, so sind doch sowohl sie selbst als auch alle ihre Regungen wahrhaft und recht Sünde“ (6.5).

Römer 6 bis 8 offenbart die Dynamik der Heiligung. In Römer 6,1–23 erklärt der Apostel, dass die Gläubigen durch ihre Verbindung mit Christus einen radikalen Bruch mit der Macht der Sünde erfahren haben. In Römer 7,13–25 erklärt er den ständigen Kampf mit der innewohnenden Sünde. Und in Römer 8,1–11 fordert er die Gläubigen auf, die verbliebene Sünde durch die Kraft des Heiligen Geistes abzutöten. Der Apostel lehrt, dass die Gläubigen gleichzeitig nicht mehr völlig verdorben sind und dass das „Verderben der Natur“ in ihnen bleibt.

Wenn wir die gesamte Lehre der Heiligen Schrift über die Beziehung des Gläubigen zu seiner Sünde berücksichtigen, werden wir richtig verstehen, was wir waren, was wir sind und was wir eines Tages sein werden. Und wir werden in der Lage sein, mit Newton zu sagen: „Ich bin nicht das, was ich sein sollte. Ich bin nicht, was ich sein möchte. Ich bin nicht, was ich zu sein hoffe. Und doch kann ich mich von Herzen dem Apostel anschließen und bekennen: ‚Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.‘“