Ethik ist nicht nur Ethik
Vor einigen Jahren hat Hollywood Jane Austens wohl bekanntesten Roman-Klassiker neu verfilmt: Stolz und Vorurteil, ursprünglich erschienen im Jahr 1813. Thema ist die Familie Bennet mit ihren fünf Töchtern, welche kein Erbe zu erwarten haben; daher liegt ihre einzige Hoffnung auf eine gesicherte Zukunft in einer guten Heirat. Frühere BBC-Verfilmungen nahmen sich stolze 270 bzw. 310 Minuten Zeit, um das Schicksal von Lizzy, Jane & Co. nachzuzeichnen – Hollywood schafft das in kinotauglichen 120 Minuten. Man kann sich angesichts der gestrafften Handlung fragen, ob die Geschehnisse für einen Zuschauer, der die Vorlage nicht kennt, überhaupt plausibel sind.
Doch die Unverständlichkeit dürfte für heutige Zuschauer tiefer greifen. Deutlich wird das insbesondere an einer großen, dramatischen Wendung: Die jüngste Tochter Lydia ist mit dem charmanten Mr. Wickham durchgebrannt – was schon an sich schlimm genug wäre. Aber dann stellt sich heraus, dass der Lebemann Wickham nicht beabsichtigt, die naive Lydia zu heiraten. Das ist nun wirklich eine Katastrophe. Die Schande für die Familie ist so groß, dass sich kein ehrenwerter Mann mehr auf eine der anderen Schwestern einlassen kann. Ihrer aller Zukunft wurde durch den Fehltritt der Jüngsten zerstört.
Diese Folgerung war im Jahr 1813 plausibel – ja, wohl die einzig denkbare. Aber wie nachvollziehbar ist sie im Jahr 2023? In der „Logik“ von Stolz und Vorurteil liegt der Fehler selbstverständlich bei dem jungen Paar. Heute dagegen wären die Verliebten wohl die sympathischen Helden, die im Lauf des Films die spießige Intoleranz der Familie und des Umfelds überwinden. Stolz und Vorurteil steht hier letztlich im Gegensatz zu aktuellen ethischen Normen.
Doch diese Geschichte funktioniert nur auf diese Weise. Wollte man sie in die heutige Zeit verlegen, dann müsste man sie komplett umschreiben – in vielerlei Hinsicht auf den Kopf stellen –, damit sie innerhalb der heutigen Plausibilitätsstruktur Sinn ergibt. Allerdings wird man diese neue Geschichte dann kaum mehr als „Jane Austens Klassiker Stolz und Vorurteil“ bezeichnen können.
In Bezug auf die biblische Botschaft liegt eine ähnliche Normen-Diskrepanz vor. Und wiederum ist es nicht möglich, einfach „nur“ einige ethische Normen auszutauschen – man verliert damit zugleich ein Stück der Botschaft. Das sei an zwei Beispielen verdeutlicht:
Hurerei
Ein aktuelles Althebräisch-Wörterbuch bietet für זנה (znh) folgende Übersetzung/Beschreibung: „als freie Frau und sexuell selbstbestimmt leben (Jos 2,1 ff.); sich prostituieren, Hurerei treiben, herumhuren, auch i.ü.S. vom Götzendienst“[1]. Entsprechend ist eine זֹנָה (zonah) eine „unverheiratete, sexuell selbstbestimmte Frau (Jos 2,1 ff.); Prostituierte, Hure“[2]. Man könnte also folgende Übersetzung in Betracht ziehen:
„Wenn eines Priesters Tochter sich entheiligt, indem sie als freie, sexuell selbstbestimmte Frau lebt, so soll man sie mit Feuer verbrennen.“ (3Mose 21,9)
Oder Jesajas Klage über Zion:
„Wie ist die treue Stadt zur sexuell selbstbestimmten Frau geworden!“ (Jes 1,21)
Eine solche Übersetzung ist Nonsens. Sie ist es deshalb, weil die Begriffe „frei“ und „sexuell selbstbestimmt“ für westliche, im 21. Jh. beheimatete Ohren außerordentlich positive Werte darstellen, זנה im biblischen Kontext aber ein klar negativ besetzter Begriff ist.
Dabei ist es ein vergleichsweise kleines Problem, dass sich ein altsprachliches Wörterbuch auf zeitgeistkonforme Formulierungsmonster einlässt.[3] Das wirkliche Problem ist, dass eben dieses Verständnis zunehmend in den Köpfen der Menschen Raum gewinnt. Was in deutschen Bibeln meist mit „Hurerei“ übersetzt wird, bezieht sich nicht nur auf Prostitution gegen Entgelt, sondern generell auf außereheliche sexuelle Handlungen (einschließlich vorehelicher).[4] Eine solche Einschränkung – kein Sex außerhalb der Ehe – klingt für den durchschnittlichen Westler mittlerweile absurd: Ist es nicht im Gegenteil für ein gesundes und erfülltes Leben wichtig, die eigene Sexualität so auszuleben, wie es eben zu mir passt (solange ich damit keinem anderen schade, natürlich)? Das heißt, die biblische Verurteilung von „Hurerei“ steht praktisch im Gegensatz zur Lebenslogik heutiger Menschen. In ihren Ohren klingen entsprechende Bibelverse genauso abstrus, wie es die genannten Beispiele verdeutlichen.
„Ein Teil der biblischen Botschaft wird unverständlich, wenn wir uns darauf einlassen, die biblische Ethik gegen das Denken der Welt auszutauschen.“
Die Bibel betrachtet es als gegeben, dass Sexualität einzig im Rahmen einer Ehe ihren Platz hat (vgl. 1Kor 7,9; Hebr 13,4), und auf dieser Basis ist verständlich und klar, dass alles andere („Hurerei“) ein schweres Fehlverhalten darstellt. Das ist weit mehr als ein bloß ethisches Thema. Denn Gott wirft seinem Volk vielfach vor, dass sie Hurerei treiben, anderen Göttern nachhuren. Auf der Grundlage biblischer Ethik ist völlig nachvollziehbar, was damit gemeint ist: die Ungeheuerlichkeit, sich von Gott abzuwenden und ihre Hingabe anderen zu schenken (vgl. Hes 16).
Nur, dass das im heutigen Denken keine Ungeheuerlichkeit mehr ist: Schließlich kann nur jeder selbst wissen, was erfüllend und richtig für ihn ist. Wenn jemand in einer treuen, exklusiven Beziehung glücklich ist, kann er das gerne so leben. Aber wenn etwas anderes nötig ist, um das persönliche Glück zu finden, dann muss man das natürlich tun. Wer dürfte da einem anderen etwas vorschreiben? Machen wir uns nichts vor, auch viele Christen finden das plausibel.
Das bedeutet, dass die Hurerei-Stellen aufgrund des ethischen Wandels immer weniger im wirklichen Leben verankert sind. Schließlich widerspricht die Alltagslogik dem biblischen Vergleichspunkt geradezu. Ein Teil der biblischen Botschaft wird unverständlich, wenn wir uns darauf einlassen, die biblische Ethik gegen das Denken der Welt auszutauschen. Die heilige Exklusivität des Bundes zwischen Gott und seinem Volk, die Bedeutung der Treue in unserer Beziehung zu Gott werden zu theoretischen Konstrukten, die im Leben keinen echten Widerhall mehr finden.
Mann und Frau
Ähnliches gilt für den Unterschied zwischen Mann und Frau. Heute wird viel Wert auf Gleichheit gelegt bzw. diese gefördert und gefordert. Der „Girls’ Day“ und „Boys’ Day“ wie auch die Frauenquoten zielen auf zahlenmäßige Angleichung im Beruf, um gerechte Verhältnisse zu schaffen. In der Ehe achtet man darauf, Rechte (z.B. auf möglichst umfassende Berufstätigkeit und damit auf Verdienst, Karriere und Rente) und Pflichten (z.B. Kinderbetreuung und Arbeiten im Haushalt) gleichmäßig – gerecht – zu verteilen. Generell ist die Ehe nicht mehr auf eine Partnerschaft von Mann und Frau begrenzt, sondern kann auch zwischen Gleichen bestehen. Wobei selbst die Identität als „Mann“ oder „Frau“ (mit „diversen“ weiteren Möglichkeiten) zur Wahrnehmungsfrage geworden ist, die nicht an äußere Geschlechtsmerkmale gebunden ist, und die zudem fluide sein kann. So wird zunehmend undeutlich, was Mann- oder Frausein bedeutet, ob es überhaupt einen Unterschied macht, das eine oder das andere zu sein, und mit welcher Art von Beziehung das verbunden ist.
Auch die Bibel sagt einiges über Mann und Frau. Unter anderem eröffnet Paulus uns als „Geheimnis“, dass das Miteinander von Mann und Frau in der Ehe die Beziehung zwischen Christus und seiner Gemeinde widerspiegelt (vgl. Eph 5,21–33). Mann und Frau sind nicht gleich, nicht austauschbar. Sie haben unterschiedliche Aufträge, und erst im Zusammenspiel wird sichtbar (oder sollte sichtbar werden), wie die Beziehung zwischen Christus und seiner Gemeinde aussieht. Dabei fällt auch das ungeliebte Wort „unterordnen“. Der Mann ist das Haupt, die Frau nicht. Zugleich ist aber auch von der selbstlosen Liebe des Mannes die Rede, der Opfer auf sich nimmt, um seine Frau zur Schönheit der Heiligkeit zu führen.
Im Rahmen des aktuellen Denkens ist eben dieses Ehe-Ideal so ziemlich das einzige, das abgelehnt wird: Patriarchal – nein danke. Wo Autorität ins Spiel kommt, werden schließlich Menschen verbogen. Es ist schwer geworden, selbst Christen die biblische Ethik zu vermitteln. Und natürlich: Ehen zwischen zwei Sündern spiegeln das hohe Vorbild oft nur sehr unvollkommen wider. Das eigentliche Problem aber ist, dass eine grundlegende Darstellung der Beziehung zwischen Christus und der Gemeinde in unserer Welt keine Plausibilität – keine Verankerung – mehr besitzt. Und wieder geht mit der Ethik ein Teil der Lehre verloren. Mag sein, dass wir noch darüber reden. Aber der Vergleichspunkt, der das Konzept im Leben greifbar machen würde, verschwindet. Vielleicht ist es kein Zufall, dass man sich heutzutage Jesus so gern als Freund auf Augenhöhe vorstellt.
Ethik ist wichtig
Die Ethik dieser Welt ist vielfach der biblischen direkt entgegengesetzt. Auch Christen scheint das aktuelle, (vermeintlich) tolerante Denken oft passender – sogar christlicher – zu sein, und mancher in der Gemeinde tut sich mit den biblischen „Spielregeln“ schwer. Wollten wir Außenstehenden nicht ein attraktives Christsein vorleben? Sollten wir da nicht langsam die veralteten ethischen Grundsätze begraben? Das ist schließlich nur Ethik … es geht ja nicht um die Lehre. Oder etwa doch?
„Wenn wir Gottes Ethik ausleben, werden wichtige theologische Wahrheiten für uns konkret.“
Die Bibel funktioniert ganzheitlich. Wenn wir Gottes Ethik ausleben, werden wichtige theologische Wahrheiten für uns konkret. Tun wir das nicht, dann verblassen auch diese Wahrheiten. Sie werden zu bloßen theoretischen Konstrukten, und da sie im Gegensatz zu unserer normalen Lebenslogik stehen, werden sie im Lauf der Zeit in der Versenkung verschwinden. Noch haben wir genügend Restbestände der alten Normen bzw. genügend Erinnerung an sie, sodass uns diese Kluft noch nicht in dem Maß auffällt, wie sie besteht. Aber was ist mit der nächsten Generation?
Wir dürfen uns in unseren Gemeinden nicht auf den Kuhhandel einlassen, die ethischen Maßstäbe der Bibel aufzugeben, umzudeuten oder abzusenken, weil es doch angeblich reicht, Christus zu haben und die „zentralen“ Wahrheiten hochzuhalten (welche auch immer man dann als „zentral“ definiert). Wenn wir die biblische Ethik aufgeben, verlieren wir auch die dazugehörige Theologie – beispielsweise die heilige Exklusivität des Bundes Gottes mit seinem Volk oder das Zueinander von Christus und seiner Gemeinde. Zumindest diese beiden Beispiele wird man kaum als Nebengleise bezeichnen können.
Es ist nichts Neues, dass das Denken der Welt verdreht ist (vgl. 2Kor 4,4; Eph 4,17 ff.). Paulus forderte schon vor 2.000 Jahren auf:
„Und passt euch nicht diesem Weltlauf an, sondern lasst euch [in eurem Wesen] verwandeln durch die Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was der gute und vollkommene Wille Gottes ist.“ (Röm 12,2)
Gerade im Kontrast zur Welt sollen wir lebendige Zeugnisse für Gottes Herrlichkeit sein (vgl. Phil 2,15). Ethik ist nicht nur Ethik.
1 Frank Matheus, PONS Kompaktwörterbuch Althebräisch: Althebräisch – Deutsch, Stuttgart: PONS, 2015, S. 82.
2 Ebd.
3 In älteren Wörterbüchern ist denn auch nichts von einer „freien, sexuell selbstbestimmten Frau“ (10 Silben statt „Hure“ 2 Silben!) zu finden, z.B. Gesenius: „1. huren, Hurerei treiben, v. Weibe … 2. bildl.: a) v.d. Götzendienste d. Israeliten … b) v.d. ungebundenen Verkehre m. anderen Völkern“ (Wilhelm Gesenius u.a., Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament. Leipzig: F.C.W. Vogel, 1915, S. 201–202).
4 Vgl. J. Kühlewein, „זנה znh huren“, Sp. 518–520 in: Ernst Jenni, Claus Westermann (Hg.), Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, Bd. 1, München/Zürich: Chr. Kaiser Verlag/Theologischer Verlag, 1971.