Das Verhältnis des Christen zum mosaischen Gesetz
Wenn im Neuen Testament von Gottes „Gesetz“ die Rede ist, ist damit fast immer das Gesetz oder der Bund von Mose gemeint.[1] Dieses Gesetz ist ein Ausdruck von Gottes ewigem Gesetz, das seinem unveränderlichen, gerechten Charakter entspringt. Das ewige Gesetz manifestiert sich im Lauf der Heilsgeschichte in verschiedenen Institutionen und Bünden. Tatsächlich markieren diese Veränderungen von Institutionen und Bünden die Grenzen zwischen verschiedenen Epochen der Heilsgeschichte. Gottes Gebot an das erste Ehepaar, nicht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, offenbart etwa das Wirken seines ewigen Gesetzes zu diesem Zeitpunkt, ist aber für uns heute nicht direkt bindend. Wir können deshalb nicht einfach sagen: „Gottes Gesetz ist ewig, also wenden wir dieses Gebot aus dem Garten direkt auf uns an.“ Vielmehr müssen wir uns der Herausforderung stellen, herauszufinden, in welcher Hinsicht ein solches Gesetz noch auf uns anwendbar ist.
Dasselbe Prinzip gilt für das mosaische Gesetz, das verdeutlichte, wie Gottes ewiges Gesetz das Volk Israel zu dieser speziellen Zeit der Geschichte regieren sollte. Das mosaische Gesetz unterschied sich von allem, was das Leben früherer Generationen geregelt hatte, und Gott hatte es damals den Israeliten gegeben und nicht allen Nationen der Erde. Für Christen heute stellt sich daher die Frage: Inwiefern ist das Gesetz des Mose für die Gläubigen von heute gültig, wo sich doch mit dem Kommen Christi so vieles verändert hat? Schließlich gehören wir dem Neuen Bund an und nicht dem Alten. Brian Rosner hat bereits drei Prinzipien festgehalten, die das Verhältnis des Christen zum mosaischen Gesetz klären: ablehnen, ersetzen und neu aneignen.[2]
Die biblischen Autoren lehnen den mosaischen Gesetzesbund ab
Durch sein Gesetz rief Jahwe Israel zur Heiligkeit auf (vgl. 3Mose 20,26; 19,2; 20,7; 21,8). Doch Israel war stur, rebellisch und ungläubig (vgl. 5Mose 9,6–7.23–24; 29,4), was schließlich zum Untergang des Alten Bundes führte (vgl. 5Mose 31,16–18.27–29). Paulus vermerkte daher, dass der mosaische Gesetzesbund einen „Dienst des Todes“ und der „Verdammnis“ innehatte (2Kor 3,7.9; vgl. Röm 7,10). Zwar ist „das Gesetz heilig“ (Röm 7,12; vgl. 2,20), aber das Gesetz „ist nicht aus Glauben“ (Gal 3,12), was bedeutet, dass das Zeitalter der mosaischen Verwaltung nicht durch Glauben, sondern durch Unglauben gekennzeichnet war.[3] Es war Gottes Absicht, dass das mosaische Gesetz die Übertretungen vervielfachte (vgl. Röm 5,20; Gal 3,19), die Sünde aufdeckte (vgl. Röm 3,20) und den Zorn heraufbeschwor (vgl. Röm 4,15), um zu zeigen, dass „der Mensch durch den Glauben gerechtfertigt wird, ohne Werke des Gesetzes“ (Röm 3,28; vgl. Gal 3,10; Jak 2,10).
Christen lehnen deshalb den mosaischen Gesetzesbund ab. Wie der Autor des Hebräerbriefs erklärt: „Indem er sagt: ‚Einen neuen‘, hat er den ersten Bund für veraltet erklärt“ (Hebr 8,13). Das „Gesetz hat nichts zur Vollkommenheit gebracht“ (Hebr 7,19), aber in Christus finden wir eine „bessere Hoffnung“ (Hebr 7,19), einen „besseren Bund“ (Hebr 7,22; vgl. 8,6), „bessere Verheißungen“ (Hebr 8,6), „bessere Opfer“ (Hebr 9,23), ein „besseres Gut“ (Hebr 10,34), ein „besseres Land“ (Hebr 11,16), eine „bessere Auferstehung“ (Hebr 11,35) und ein besseres Wort (vgl. Hebr 12,24).
Die biblischen Autoren ersetzen das mosaische Gesetz durch das Gesetz des Neuen Bundes in Christus
Die Gnade und Wahrheit, die Jesus Christus bringt, lösen die Gnade, die Gott durch das mosaische Gesetz gewährt hat, ab (vgl. Joh 1,16–17). Christus hat die verurteilende und kontrollierende Macht des Gesetzes gebrochen, sodass Paulus von den Gläubigen sagen kann: „Ihr seid nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade“ (Röm 6,14).
„Mose wusste, dass Israels Opfersystem nur symbolisch war, was nahelegt, dass es obsolet werden sollte, wenn der Schatten einmal dem Eigentlichen weicht.“
Mose wusste, dass Israels Opfersystem nur symbolisch war, was nahelegt, dass es obsolet werden sollte, wenn der Schatten einmal dem Eigentlichen weicht (vgl. 2Mose 25,9.40; Sach 3,8–9; 6,12–13). In Christus ist dieses Eigentliche gekommen (vgl. Kol 2,16–17; Hebr 9,11–12). Überdies bekräftigte Mose die Notwendigkeit eines besseren Bundes – eines Bundes, in dem Jahwe für Israel etwas Besseres vollbringen würde als in der Zeit des mosaischen Bundes. Das Gesetz konnte kein Leben geben (vgl. Gal 3,21), da es durch das Fleisch geschwächt war (vgl. Röm 8,3).
Mose erwartete den Tag, an dem das Volk Gottes auf die Stimme des neuen prophetischen Bundesvermittlers hören würde (vgl. 5Mose 18,15) und Gott sein Volk dazu bringen würde, ihn vollkommen zu lieben (vgl. 5Mose 30,6.8). Die Propheten sehnten den Tag herbei, an dem Gott jedes Mitglied dieser multiethnischen, durch Blut erworbenen Gemeinschaft lehren würde (vgl. Jes 54,13). An jenem Tag würde er sein Gesetz in ihre Herzen schreiben (vgl. Jer 31,33) und bewirken, dass sie in seinen Satzungen wandeln (vgl. Hes 36,27). All diese Hoffnungen werden heute durch die Kirche verwirklicht (vgl. Joh 6,44–45; Röm 2,14–15.25–29; Phil 3,3).
Als Christen bedeutet unsere Befreiung vom Gesetz (vgl. Röm 7,6) zum Teil, dass das mosaische Gesetz nicht mehr der Richter über das Verhalten des Volkes Gottes ist.[4] Das Zeitalter des mosaischen Gesetzesbundes ist in Christus zu Ende gegangen, sodass das Gesetz selbst keine ausschlaggebende Rolle mehr einnimmt (vgl. 2Kor 3,4–18; Gal 3,15–4,7).[5] In seiner Rolle als Gesetzesbuch ist keine einzige der 613 Bestimmungen des mosaischen Gesetzesbundes direkt bindend für Christen (vgl. Apg 15,10; Gal 4,5; 5,1–12; Eph 2,14–16). Stattdessen sind Christen durch das Gesetz Christi gebunden (vgl. 1Kor 9,20–21; Gal 6,2), das in der Aufforderung zur Nächstenliebe zusammengefasst ist (vgl. Jak 1,25; 2,8.12).
„Da Jesus die verschiedenen Gesetze auf unterschiedliche Weise erfüllt, müssen wir jedes Gesetz im Lichte des Werkes Christi betrachten.“
Heute sind die Worte Christi, die durch seine Apostel überliefert wurden (d.h. das Neue Testament), die Autorität für Christen. In Erfüllung der Vorhersage Moses über einen prophetischen Bundesvermittler sagte Gott in Moses Gegenwart über Jesus: „Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; auf ihn sollt ihr hören!“ (Mt 17,5; vgl. 5Mose 18,15). Jeder, der die Worte Christi hört und danach handelt, ist weise (vgl. Mt 7,24–27), und die Aufforderung, Jünger zu machen, schließt ein, andere zu lehren, der Lehre Christi zu gehorchen (vgl. Mt 28,19–20). Seine Anweisungen durch seine Apostel bilden nun die wesentliche Grundlage für alle christlichen Unterweisungen (vgl. Joh 16,12–14; 17,8.18.20; 2Thess 2,15). Die Christen der Urgemeinde „blieben beständig in der Lehre der Apostel“ (Apg 2,42), denn die Kirche ist „auferbaut auf der Grundlage der Apostel und Propheten, während Jesus Christus selbst der Eckstein ist“ (Eph 2,20). Christen gehören zum Neuen Bund, nicht zum Alten, und sind daher an das Gesetz Christi gebunden, nicht an das Gesetz Moses.
Die biblischen Autoren eignen sich das mosaische Gesetz durch Christus wieder neu an
Obwohl das mosaische Gesetz für Christen nicht rechtlich bindend ist, bleibt es durch die Vermittlung Christi auf indirekte Weise autoritativ, nützlich und lehrreich für Gläubige (vgl. Röm 4,23; 13,9; 15,4; 1Kor 10,11; 2Tim 3,16–17). Da Jesus die verschiedenen Gesetze auf unterschiedliche Weise erfüllt, müssen wir jedes Gesetz im Licht des Werkes Christi betrachten. Das Neue Testament behandelt nur eine kleine Anzahl alttestamentlicher Gebote. Allerdings leiten diese Beispiele unseren Umgang mit anderen verwandten Geboten oder Verboten und erläutern die bleibende Bedeutung eines jedes Gesetzes.
„Wenn wir uns dem mosaischen Gesetz nähern und es anwenden, tun wir dies nur durch Christus und im Lichte der Lehre der Apostel.“
Um die bleibende Bedeutung des mosaischen Gesetzes zu veranschaulichen, kann es helfen, Jesus wie eine Linse zu verstehen, durch die das Gesetz ausgelegt werden muss.[6] Einige Gesetze bleiben vor und nach Christus unverändert, weil sie wie Lichtstrahlen in gerader Linie auf die Linse treffen und dabei nicht „gebrochen“ werden. Andere wiederum treffen bildlich gesprochen seitlicher auf die Linse und werden dabei auf verschiedene Weise „gebrochen“. Das Kommen Jesu hält manche Gesetze aufrecht (mit und ohne Erweiterung), verwandelt andere und hebt wieder andere auf. Wir wollen diese Kategorien kurz betrachten:
- Aufrechterhalten (ohne Erweiterung): Christus erfüllt die mosaischen Verbote gegen Mord, Ehebruch, Diebstahl, Habgier und dergleichen (vgl. z.B. 2Mose 20,13–17) auf eine Weise, die das Gesetz unverändert lässt, ohne es beim Übergang vom Alten zum Neuen Bund zu erweitern (vgl. Mt 15,18; 19,17–21; Röm 13,9). Der Gehorsam gegenüber diesen Gesetzen sieht in beiden Bünden gleich aus.
- Aufrechterhalten (mit Erweiterung): Als Christus das mosaische Gebot erfüllt, dem Ochsen beim Dreschen keinen Maulkorb anzulegen (vgl. 5Mose 25,4), weitet er die Anwendung dieses Grundsatzes auf die Bezahlung von Dienern aus (vgl. 1Kor 9,8–12; 1Tim 5,17–18; Mt 10,10). Solche Erweiterungen kommen oft bei Gesetzen vor, deren Anweisungen kulturelle Details enthalten, die sich von unseren eigenen unterscheiden. In solchen Fällen beherzigen wir Jesu Worte am Ende des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter und „handeln ebenso“ (Lk 10,37), wobei wir das Prinzip allerdings auf neue Art und Weise umsetzen.
- Verwandeln: Wenn Christus die Gesetze wie die Aufforderung Jahwes, den Sabbat zu halten (vgl. z.B. 5Mose 5,12–15), oder Moses Anweisungen zur Todesstrafe (vgl. z.B. 5Mose 22,22) erfüllt, verwandelt er diese Gesetze. So stellt er für seine Nachfolger eine dauerhafte Ruhe sicher und ruft sie dazu auf, sie zu empfangen (vgl. Mt 11,28–12,8). Sein Werk führt auch dazu, dass die Aufforderung, „das Böse aus eurer Mitte zu entfernen“, auf die Exkommunikation innerhalb der Gemeinde angewandt wird (vgl. 1Kor 5,13).
- Aufheben: Christus erfüllt die mosaischen Gesetze über unreine Speisen (vgl. z.B. 3Mose 20,25–26), indem er sie aufhebt und alle Speisen für rein erklärt (vgl. Mk 7,19; Apg 10,14–15; Röm 14,20). Aber auch wenn er die Speisegebote außer Kraft setzt, profitieren wir immer noch von den Geboten, wenn wir bedenken, was sie uns über Gott sagen und wie sie das Werk Jesu verherrlichen.
Fazit
Wenn wir das Alte Testament durch Christus als Linse betrachten, können wir es vollständig als christliche Schrift nutzen, die „zu unserer Belehrung“ geschrieben wurde (Röm 15,4; vgl. Röm 4,23; 1Kor 10,11). Wenn wir uns dem mosaischen Gesetz nähern und es anwenden, tun wir dies nur durch Christus und im Licht der Lehre der Apostel, welche zusammengenommen das Fundament der Kirche darstellen und diese erhalten (vgl. Apg 2,42; Eph 2,20; Mt 7,24–27; 17,5; 28,20; Joh 16,12–14; 17,8.18.20; 2Thess 2,15; Hebr 1,1–2).[7]
1Dieser Artikel ist eine Kurzfassung von Kapitel 10 aus Jason S. DeRouchies demnächst erscheinendem Buch Delighting in the Old Testament: Through Christ and for Christ, Wheaton: Crossway, 2024. Verwendung mit Genehmigung.
2Brian S. Rosner, Paul and the Law: Keeping the Commandments of God (NSBT 31), Downers Grove: InterVarsity Press, 2013, S. 208–209, 217–22.
3Jason S. DeRouchie, „Question 34: How Does Galatians 3:12 Use Leviticus 18:5?“, in: Jason S. DeRouchie et al., 40 Questions about Biblical Theology, Grand Rapids: Kregel, 2020, S. 327–37;
Jason S. DeRouchie, „The Use of Leviticus 18:5 in Galatians 3:12: A Redemptive-Historical Reassessment“, in: Themelios 45.2, (2020): S. 240–59.
4So auch Douglas J. Moo, „The Law of Christ as the Fulfillment of the Law of Moses: A Modified Lutheran View“, in: Wayne G. Strickland (Hrsg.), Five Views on Law and Gospel, Grand Rapids: Zondervan, 1996, S. 343, vgl. S. 375.
5Vgl. Moo, „Law of Christ“, S. 359.
6Ich danke meinem Studenten Benjamin Holvey, der mich zu dieser Linsenillustration inspiriert hat.
7Für eine weitere Auseinandersetzung mit diesem erlösungsgeschichtlichen Ansatz für die Beziehung des Christen zum alttestamentlichen Gesetz siehe David A. Dorsey, „The Law of Moses and the Christian: A Compromise“, in: JETS *34 (*1991): S. 321–34; Vern S. Poythress, The Shadow of Christ in the Law of Moses, Phillipsburg: P&R Publishing, 1991, S. 251–86; Moo, „Law of Christ“, S. 317–76; Tom Wells, Fred G. Zaspel, New Covenant Theology: Description, Definition, Defense, Frederick: New Covenant Media, S. 77–160, insbesondere 126–27, 157–60; Daniel M. Doriani, „A Redemptive-Historical Model“, in: Gary T. Meadors (Hrsg.), Four Views on Moving beyond the Bible to Theology, Grand Rapids: Zondervan, 2009, S. 51–56, 75–121, 205–9, 255–61; Jason C. Meyer, The End of the Law: Mosaic Covenant in Pauline Theology (NAC Studies in Bible and Theology 7), Nashville: Broadman & Holman, 2009; Jason C. Meyer, „The Mosaic Law, Theological Systems, and the Glory of Christ“, in: Stephen J. Wellum und Brent E. Parker (Hrsg.), Progressive Covenantalism: Charting a Course between Dispensational and Covenant Theologies, Nashville: Broadman & Holman, 2016, S. 66–99; Thomas R. Schreiner, 40 Questions about Christians and Biblical Law, Grand Rapids: Kregel, 2010; Rosner, Paul and the Law; William W. Combs, „Paul, the Law, and Dispensationalism“, in: Detroit Baptist Seminary Journal 18 (2013): S. 19–39; Stephen J. Wellum, „Progressive Covenantalism and the Doing of Ethics“, in: Stephen J. Wellum und Brent E. Parker (Hrsg.), Progressive Covenantalism: Charting a Course between Dispensational and Covenant Theologies, Nashville: Broadman & Holman, 2016, S. 215–33.