Die Gedichte Gottes
Wie wir biblische Poesie verstehen können
Ein Prediger erzählte mir einmal: „Obwohl ich den Leuten im Krankenhaus oft einen Psalm vorlese, würde ich nie in Erwägung ziehen, darüber zu predigen, denn ich wüsste nicht, wie ich an sie herangehen sollte.“ Nicht zu wissen, wie man „an sie herangehen“ soll, führt dazu, dass die biblische Poesie für viele Christen ein Buch mit sieben Siegeln bleibt. Glücklicherweise lässt sich dieses Problem leicht lösen. Wir können lernen, wie man an die Poesie in der Bibel „herangehen“ kann.
Das Ziel dieses Artikels ist es, Pastoren, Predigern und Laien das Werkzeug an die Hand zu geben, das nötig ist, um einen sicheren Umgang mit biblischer Poesie zu erlernen und sich von dieser Textgattung begeistern zu lassen. Zu diesem Zweck habe ich den Artikel in drei Themenbereiche unterteilt:
- Drei verbreitete Irrtümer über Poesie, die es zu entkräften gilt
- Die sieben wichtigsten Dinge, die man in Bezug auf biblische Poesie wissen sollte
- Drei Tipps für einen souveränen Umgang mit biblischer Poesie
Drei verbreitete Irrtümer über Poesie
Der erste Irrtum, mit dem wir aufräumen müssen, ist, dass Menschen von heute keinen Zugang zu Poesie mehr haben. Viele Menschen in unseren Gemeinden sind der Meinung, dass Poesie in früheren Zeiten ein normaler Bestandteil des Lebens gewesen sei, aber für die heutige Zeit stimme das nicht mehr. Ich höre immer öfter, dass Kindergottesdienstmitarbeiter dazu gedrängt werden, die Poesie der Bibel außen vor zu lassen, und selbst Prediger haben sich von diesem aktuellen Trend beeinflussen lassen.
Es stimmt allerdings nicht, dass Poesie für Menschen früherer Zeiten leichter zugänglich war als für uns heute. Ein wie auch immer gearteter zeitlicher Faktor spielt keine Rolle, was die Zugänglichkeit von Poesie betrifft. Die Menschen der biblischen Zeit befanden sich diesbezüglich nicht in einer privilegierten Position. Möglicherweise ist es sogar eher umgekehrt: Unsere heutige Lebenswelt ist stark bildorientiert, und das verbindet sie mit der Poesie, deren Sprache ebenfalls von Bildern geprägt ist, also auf Worten basiert, die konkrete Gegenstände und Handlungen benennen. Im WhatsApp-Zeitalter sind Menschen zudem daran gewöhnt, in kurzen Nachrichten miteinander zu kommunizieren, und auch Poesie bedient sich einer verdichteten Sprache.
„Unsere heutige Lebenswelt ist stark bildorientiert, und das verbindet sie mit der Poesie, deren Sprache ebenfalls von Bildern geprägt ist.“
Ebenso ist es ein Irrtum zu glauben, dass Poesie eine unnatürliche Form von Sprache sei. Wer diese Behauptung aufstellt, meint fälschlicherweise, Prosa sei die natürliche Art der Kommunikation und Poesie eine Abweichung von der Norm. Doch wir alle verwenden zeitweise eine poetische Sprache. So singen wir beispielsweise Choräle und andere geistliche Lieder, die primär Gedichte sind und erst dadurch zu Liedern werden, dass man eine Melodie hinzufügt (und selbst dann hören sie nicht auf, Gedichte zu sein).
Außerdem sprechen wir von Sonnenaufgang und -untergang, von Wegbereitern und davon, jemanden zappeln zu lassen, die Zeit totzuschlagen und mit Terminen zu jonglieren. All das sind poetische Metaphern. Warum verwenden wir sie? Weil wir richtigerweise wahrnehmen, dass poetische Sprache wirkungsvoller Wahrheit vermitteln kann als reine Prosa.
Ein dritter Irrglaube ist, dass Poesie nichts mit dem wirklichen Leben zu tun habe. Dies ist gleich doppelt falsch. Auf der konkreten, bildlichen Sprachebene bleibt Poesie nahe an den alltäglichen Erfahrungen des Lebens. Die biblischen Dichter lassen uns verortet in einer Welt des Wassers und der Schafe, des Lichts und der Pfade. Ebenso behandeln Gedichte auch auf der Inhaltsebene die genau gleichen Themen wie andere Literaturgattungen, nämlich die universellen menschlichen Erfahrungen. Sowohl die poetische Sprache wie auch der Inhalt der Poesie bringen uns mit dem alltäglichen Erleben in Berührung.
Sieben wissenswerte Aspekte zum Thema Poesie
Die Schriftstellerin Flannery O’Connor sagte einmal: „Ein Schriftsteller sollte sich nie dafür schämen, dass er anstarrt.“ Sie meinte damit, dass Autoren genaue Beobachter des Lebens sein müssen. Einige Literaturwissenschaftler wenden O’Connors Aussage auch auf Leser an: Auch Leser sollten sich nicht schämen, wenn sie einen Text „anstarren“. Diese Aussage sollte man allerdings nicht unbedacht treffen, denn einfach nur ein Gedicht in der Bibel anzustarren, wird wohl kaum viel bringen. Man muss schon wissen, wonach man sucht. Das bedeutet, dass man wissen muss, wie Poesie funktioniert. Zunächst ist es wichtig, dass den Lesern folgende sieben Aspekte über Poesie bewusst sind:
1. Gott erwartet, dass wir Poesie verstehen und Freude daran haben
Dies ist keine kontroverse Aussage. Weil mindestens ein Drittel der Bibel als Poesie verfasst ist, können wir sicher sein, dass Gott möchte, dass Poesie ein Bestandteil unseres geistlichen Lebens ist. Poesie ist in der gesamten Bibel gegenwärtig. Man denke nur an diejenigen biblischen Bücher, die ganz oder überwiegend in poetischer Form geschrieben sind, wie die Psalmen, die Sprüche Salomos, das Hohelied oder Hiob.
Dabei sind das bloß die Stellen, wo die Poesie in der Bibel ganz offensichtlich zu finden ist. Denn auch wenn das Buch Prediger und die Offenbarung größtenteils wie Prosa gedruckt werden, sind sie von ihrer Struktur her eigentlich poetisch. Auch die Sprache der Reden Jesu ist ausgesprochen poetisch, sodass es wohl kaum übertrieben ist, wenn man Jesus als einen der berühmtesten Dichter der Welt bezeichnet. Über diese durchweg von Poesie geprägten Teile der Bibel hinaus finden wir Metaphern und andere bildhafte Stilmittel auf nahezu jeder Seite der Bibel. In den neutestamentlichen Briefen sind Passagen wie die folgende ein fester Bestandteil: „Denn ihr wart einst Finsternis; jetzt aber seid ihr Licht in dem Herrn. Wandelt als Kinder des Lichts!“ (Eph 5,8).
Dass Gott uns eine Bibel gegeben hat, die voller Poesie ist, lässt drei Schlüsse zu: Der erste ist, dass er uns damit einen Anreiz geben will, die Poesie in der Bibel wertzuschätzen und sie zu verinnerlichen. Dass Gott uns Poesie gegeben hat, heißt, er möchte, dass sie in unserem Leben gegenwärtig ist. Zweitens werden durch das häufige Vorkommen von Poesie in der Bibel diejenigen Menschen gemaßregelt, die Poesie geringschätzen und andere dazu verleiten wollen, der biblischen Poesie auszuweichen. Man ehrt Gott nicht dadurch, dass man zwar die Bibel liest, aber so faul ist, dass man sich weigert zu lernen, wie man mit den poetischen Teilen der Bibel umgeht. Drittens: Wenn Poesie die gesamte Bibel durchzieht, sollten wir das beim Bibellesen immer im Hinterkopf behalten und darauf achten, wo sie auftaucht – was, wie gesagt, nicht nur dort der Fall ist, wo die Bibel einen offensichtlich poetischen Charakter hat. Auch die weniger offensichtlichen Stellen müssen wir als Poesie behandeln.
2. Poesie verlangt langsames Lesen
Poesie verlangt von uns langsames und analytisches Lesen. Das steht ganz im Gegensatz zu den Gepflogenheiten der heutigen Zeit. Langsam zu lesen ist das Gegenteil zum Lesen auf Tempo, doch gerade Letzteres ist es, wozu uns unsere Kultur anspornt. Poesie unterscheidet sich aber von Genres wie Sachtexten und Erzählungen, bei denen die Bedeutung hauptsächlich an der Oberfläche liegt. Wenn ich sage, dass Poesie analytisches Lesen verlangt, ist damit nicht meditatives Lesen gemeint, auch wenn das eine gute Herangehensweise an alle Texte in der Bibel ist. Während Meditation bedeutet, dass wir über einen Text nachsinnen und ihn anwenden, nachdem wir ihn uns erarbeitet haben, meine ich mit Analyse, dass wir die Poesie zunächst entschlüsseln müssen, denn hier finden wir die Bedeutung in Bildern und rhetorischen Figuren verborgen vor. Erst danach können wir über das, was wir entdeckt haben, meditieren.
3. Dichter sprechen ihre eigene Sprache
Zwar verwehre ich mich der Behauptung, dass Poesie eine unnatürliche Sprechweise sei, doch will ich damit nicht sagen, dass Poesie die Form des Sprachgebrauchs ist, in der wir üblicherweise sprechen. Poesie ist durchaus eine besondere Form des Sprachgebrauchs. Aber das gilt ebenfalls für Prosa. Im Alltag reden wir auch selten in Prosa (also in vollständigen Sätzen, die den grammatikalischen Regeln folgen). Stattdessen ist unsere Kommunikation eher assoziativ strukturiert, d.h., wir äußern uns in einzelnen Wörtern und Wendungen, in unzusammenhängenden und unvollständigen Satzfragmenten, die unserem Gedankenfluss folgen statt formalen Syntaxregeln und logischen Argumentationssträngen. Das bedeutet, dass man die gesamte Bibel – die Teile, die in Prosa geschrieben sind, wie auch die in Poesie verfassten Teile – analysieren und entschlüsseln muss. Nur sehr wenige Abschnitte in der Bibel ähneln einem Gespräch, wie man es im Café nebenan führen würde.
Kommen wir auf unseren Ausgangspunkt zurück: Dichter sprechen auf eine Art und Weise, die man als poetische Diktion bezeichnen kann. Diese ist durch Bilder und andere rhetorische Figuren gekennzeichnet. Daraus folgt, dass wir lernen müssen, mit welchen Erwartungen wir uns Texten, die in poetischer Sprache verfasst sind, nähern können, genauso wie wir uns mit den typischen Strukturen von Geschichten und Briefen vertraut machen müssen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Poesie nicht vom Rest der Bibel: Ein kompetenter Umgang mit Poesie erfordert, dass wir uns bei unserer Begegnung mit dem Text von den Erwartungen an diese Gattung leiten lassen.
4. Dichter denken in Bildern und rhetorischen Figuren
Noch bevor Poesie eine Form des Sprechens oder Schreibens ist, ist sie eine Art des Denkens und Fühlens. Dichter schreiben in einer poetischen Sprache, weil sie während des Schaffensprozesses das Leben auf diese Weise wahrnehmen und ihre Wahrnehmungen entsprechend aufzeichnen. Poeten haben folglich eine Fähigkeit des Ausdrucks und der Wahrnehmung der Welt, wie die meisten Menschen sie nicht haben. Aber das trennt die Dichter nicht von uns, es bedeutet nur, dass sie stellvertretend für uns sprechen. Sie sagen das, was auch wir gesagt haben wollen, nur formulieren sie es besser und drücken es auf eine besondere Art und Weise aus. Wenn Dichter in Bildern denken, sollten wir das als Leser auch.
5. Poesie ist eine Form der Logik
Der moderne Dichter Stephen Spender schrieb in seinem berühmten Essay „The Making of a Poem“ (dt. „Die Entstehung eines Gedichts“), dass „die furchterregende Herausforderung“, der sich ein Dichter gegenübersieht, die Frage ist: „Kann ich mir die Logik der Bilder erschließen?“[1] Wenn wir Poesie als eine Form der Logik betrachten, öffnet sich eine Tür. Wir sehen, dass die Poesie der gewöhnlichen Sprache ähnlicher ist, als wir gemeinhin annehmen. Logik bedeutet, eine schlüssige Verbindung zwischen zwei Dingen herzustellen. Wir können also stets die Frage stellen: Warum hat der Dichter dieses Bild für dieses Thema verwendet? Ähnlich verhält es sich mit den Vergleichen, Metaphern und Analogien, die uns die Dichter immer wieder vorlegen: In welcher Hinsicht ist A wie B? Welche Logik steckt dahinter, wenn Gott als Hirte bezeichnet wird (vgl. Ps 23,1) und der gottesfürchtige Mensch als ein Baum, der an einem Wasserlauf gepflanzt ist (vgl. Ps 1,3)?
6. Poesie lädt ein, die Bedeutung von Bildern zu entdecken
Die Poesie trägt nicht alle ihre Bedeutungen an der Oberfläche. Sie ähnelt vielmehr einem Rätsel in dem Sinne, dass wir die Bedeutungen entdecken müssen, die der Dichter in das poetische Gewebe eines Gedichts, in die Bilder und sprachlichen Stilmittel, eingewoben hat. Der Dichter legt uns die rhetorische Figur einfach vor, wie beispielsweise in der Wendung „Der Name des Herrn ist ein starker Turm“ (Spr 18,10), und er erwartet von uns, dass wir die Vergleichspunkte herausfinden. Wir sollten uns nicht an dieser Verpflichtung stoßen, sondern uns darüber freuen, dass sich uns und unseren Zuhörern eine Gelegenheit bietet, Gottes Wahrheit aktiv zu entdecken. Die in der Poesie eingebetteten Bedeutungen zu entschlüsseln, kann eine vergnügliche Erfahrung sein und eignet sich außerdem gut, um die Teilnehmer einer Bibelgruppe zu einem gemeinsamen Entdeckungsprozess anzuregen.
7. Poesie ist eine konzentrierte Sprachform
Ein weiteres Merkmal der Poesie wurde bereits angedeutet, nämlich, dass Poesie die komprimierteste Form des Diskurses ist. Einzelne Metaphern und Vergleiche transportieren selten nur eine einzige Bedeutung. Wenn ein biblischer Dichter die Erfahrung des Vertrauens auf Gott mit dem Aufenthalt in einer Burg vergleicht (vgl. Ps 91,1–2), sind die Deutungsmöglichkeiten vielfältig.
„Die in der Poesie eingebetteten Bedeutungen zu entschlüsseln, eignet sich gut, um die Teilnehmer einer Bibelgruppe zu einem gemeinsamen Entdeckungsprozess anzuregen.“
Keines der genannten Merkmale führt dazu, dass Lesern der Zugang zur Poesie versperrt würde. Das eigentliche Hindernis beim Lesen der biblischen Poesie ist nicht, dass sie vermeintlich so schwer zu verstehen ist. Vielmehr ist es der Mangel an Bereitschaft, die nötige Zeit und Denkanstrengung zu investieren, welche erforderlich sind, um sich die verborgenen Bedeutungen zu erschließen.
Drei Prinzipien der Poesie
In allen Lebensbereichen ist es wichtig, die einer Aufgabe zugrundeliegenden Prinzipien zu verstehen, um die für die Bewältigung dieser Aufgabe geeignete Methode zu wählen. Vielleicht ist es dir auch schon einmal so wie mir ergangen: Ich versuchte, einen Verschluss auf eine Flasche zu schrauben – nur um kurz darauf zu merken, dass es sich nicht um einen Schraubverschluss handelte und der Deckel einfach auf die Flasche gesteckt werden musste.
Daher füge ich hier einen Abschnitt über Methodik ein, welcher der ersten Lehrveranstaltung über Poesie in meinem Seminar „Die Bibel als Literatur“ entspricht. Die folgenden Ausführungen sollen also als Einführung in den Umgang mit der Poesie der Bibel verstanden werden. Zunächst sollten wir das jeweilige poetische Gefüge eines Gedichts – die Worte, Bilder und rhetorischen Stilmittel – erfassen, denn darin sind die Inhalte verpackt.
Bei der Analyse des poetischen Gefüges sollte man es vermeiden, zweitrangige Fragen in den Vordergrund zu stellen. Ich erinnere mich noch, wie schockiert ich damals war, als ein Bibelwissenschaftler erklärte, wenn er über biblische Poesie spräche, würde er als Erstes über Parallelismus reden. Das ist ganz und gar nicht hilfreich. Die Bedeutung der Poesie ist in dem poetischen Gefüge enthalten; der Parallelismus hingegen bezieht sich nur auf das Versschema, in das der Inhalt verpackt ist. Dieses ist nicht unwichtig, aber in der Reihe der Themen, die bei der Beschäftigung mit einem Gedicht angesprochen werden müssen, steht es ziemlich weit hinten.
Als weitere Vorbemerkung möchte ich noch auf den Unterschied zwischen Poesie und Gedicht hinweisen. Die Poesie ist die Sprache der Dichter; von dieser möchte ich nun sprechen. Diese Sprache wird oft als poetische Diktion bezeichnet. Gedichte sind Kompositionen in einer poetischen Sprache. Das Spektrum von Gedichten umfasst viele verschiedene Textsorten – zum Beispiel den Lobpsalm, das Gerichtsorakel oder den Christus-Hymnus. Ich werde mich im begrenzten Rahmen dieses Artikels auf die wesentlichen Grundzüge der Poesie konzentrieren, denn bei der konventionellen Bibelwissenschaft und der herkömmlichen Methodik des Bibelstudiums kommen diese zu kurz. Meine Einführung in den poetischen Diskurs habe ich ausgehend von drei Grundprinzipien in drei Teile gegliedert.
Poetisches Prinzip #1: Der Vorrang der Bildebene
Ein Bild ist jedes Wort, das einen konkreten Gegenstand oder eine konkrete Handlung bezeichnet. In Psalm 1,1 sind Wandeln, Treten, Sitzen und der Weg oder Pfad alles Bilder. Mir als Leser sollte sofort die Komplexität auffallen. Einfache Bilder sind in der Bibel ziemlich selten. Die meisten Bilder in der Bibel sind Teil einer Metapher, eines Gleichnisses oder eines Symbols. Ein Gegenbeispiel ist das satirische Porträt der selbstgefälligen Wohlhabenden in seiner Gesellschaft, für das Amos eine einfache Bildersprache verwendet. So ist „auf elfenbeinernen Betten liegen“ (Am 6,4) ein Beispiel für ein einfaches Bild, weil es nicht Teil einer Metapher oder eines Gleichnisses ist – die Reichen in Israel lagen tatsächlich auf Betten aus Elfenbein. Der Ansatz bei der Analyse von Metaphern und Gleichnissen ist allerdings genauso wie bei einem einfachen Bild. Vergleichende Bilder, wie es Metaphern und Gleichnisse sind (auf sie werde ich gleich näher eingehen), sagen aus, dass A wie B ist. Jeder Vergleich dieser Art bewegt sich also zunächst auf der Bildebene (Ebene A). Die Bedeutungen, die wir diesem Bild auf der Ebene A zuweisen, werden dann auf die Ebene B übertragen. Alles, was ich im Folgenden über den Vorrang der Bildebene in der Poesie sagen werde, gilt somit für Metaphern, Gleichnisse und Symbole ebenso wie für einfache Bilder.
Bei der Beschäftigung mit einem poetischen Bild beginnt man auf der wörtlichen Ebene, und zwar damit, dass man die Charakteristika des Bildes genauer bestimmt. In der Regel, aber nicht immer, sind diese offensichtlich. In Psalm 121,6 steht das Stechen der Sonne bei Tag zwar offenkundig für die Gefahr einer Überhitzung und eines Sonnenstichs, doch beim anschließenden Bild vom Stechen des Mondes bei Nacht im selben Vers muss man Nachforschungen anstellen, um das Bild zu verstehen. Sobald wir das Bild auf der konkreten Ebene korrekt bestimmt haben, sollten drei weitere Schritte folgen.
Zunächst müssen wir die Konnotationen eines Bildes bestimmen – die ganz allgemeinen oder diejenigen, die durch den spezifischen poetischen Kontext, in dem das Bild auftaucht, hervorgerufen werden. In einer Burg zu wohnen (vgl. Ps 91,1–2) bedeutet Sicherheit, Schutz, Versorgung, Nähe zu den Mitbewohnern und liebevolle Beziehungen. Zweitens lösen Bilder in der Regel Gefühle aus. Die von einem Bild hervorgerufenen Gefühle zu benennen und darüber nachzudenken, welche emotionalen Bedeutungen bei einem Bild mitschwingen, ist völlig legitim und hilft bei der Interpretation. Drittens sollte die Logik eines Bildes untersucht werden. Dies bedeutet, dass man überlegt, in exakt welcher Beziehung zwei Elemente zueinander stehen. Beim Nachdenken über die logische Beziehung eines poetischen Bildes zur inhaltlichen Aussage geht es darum, die Gründe herauszufinden, warum der Dichter ein bestimmtes Bild für die geschilderte Erfahrung gewählt hat.
Bevor ich die nächsten grundlegenden Schritte bei der Beschäftigung mit dem Thema Poesie erläutere, möchte ich kurz einschieben, dass ich hoffe, dass meine eher handwerkliche Herangehensweise an die Poesie der Bibel deine Geduld nicht allzu sehr strapaziert. Wenn in unseren Kreisen Poesie nicht als Poesie betrachtet wird, so rührt das daher, dass die Ausleger nicht auf der von mir beschriebenen fundamentalen Stufe beginnen. Ich habe einmal untersucht, wie in Kommentaren und Studienbibeln mit einem Bild umgegangen wird, das mehr als ein halbes Dutzend Mal in den Psalmen auftaucht – das Erheben eines Horns (vgl. z.B. Ps 75,11; 89,18; 112,9; 148,14). In keiner meiner Quellen fand ich Angaben zum konkreten Bild; die ganze Aufmerksamkeit galt der Interpretation der übertragenen Bedeutung des Bildes. Poesie muss jedoch zunächst so gelesen und interpretiert werden, wie sie sich darstellt; man sollte also immer von der elementaren Ebene der Bildersprache ausgehen.
Poetisches Prinzip #2: Der Stellenwert von Vergleich und Analogie
Schon in der ältesten überlieferten Literaturtheorie, der Poetik des Aristoteles, wurde die Fähigkeit, Ähnlichkeiten zu erkennen, als entscheidende Prüfung für das Können eines Dichters angesehen. Die Analogie kann in der Poesie drei Formen annehmen:
„Schon in der Poetik des Aristoteles, wurde die Fähigkeit, Ähnlichkeiten zu erkennen, als entscheidende Prüfung für das Können eines Dichters angesehen.“
Metapher: implizite Gleichsetzung von zwei Dingen aufgrund eines gemeinsamen Merkmals, ohne dass die Vergleichspartikel „wie“ oder „als“ verwendet werden
Vergleich: ein explizit formulierter Vergleich unter Verwendung der Vergleichspartikel „wie“ oder „als“
Symbol: ein Bild, das eine Bedeutung transportiert, die über den benannten Gegenstand hinausgeht
Möglicherweise wird sich manch einer wundern, dass „Symbol“ auf meine Liste gelangt ist. Ein Symbol funktioniert tatsächlich nach demselben Analogieprinzip wie die beiden anderen bildlichen Stilmittel. Es hat eine wörtliche Identität (Ebene A), und diese wird um eine oder mehrere zusätzliche Bedeutungen erweitert (Ebene B).
Welche Wirkung hat es, wenn ein Dichter unsere Aufmerksamkeit auf eine Übereinstimmung zwischen zwei Dingen lenkt? Auf diese geradezu geniale Weise nutzt der Dichter einen bestimmten Bereich der menschlichen Erfahrung, um einen anderen Bereich zu beleuchten und zu erhellen. In Psalm 23 veranschaulichen die Taten eines Hirten, der seine Schafe an einem normalen Arbeitstag versorgt, wie Gott sich um menschliche Bedürfnisse kümmert. Die poetische Analogie ist eine Form der logischen Gleichsetzung, bei der ein konkreter Sachverhalt als Entsprechung für einen anderen Sachverhalt verstanden wird. Ein weiterer hilfreicher Begriff ist das Wort „zweischichtig“: Bei einer Metapher, einem Gleichnis oder einem Symbol müssen stets zwei Komponenten betrachtet werden – die dargestellte Erfahrung ebenso wie das Bild, das diese Erfahrung veranschaulicht.
Welche Interpretationsleistungen verlangen poetische Vergleiche von uns? Für die Beantwortung dieser Frage ist das Wort „Metapher“ Gold wert. Diese Bezeichnung leitet sich von zwei griechischen Wörtern ab, die „übertragen“ bedeuten, und genau das müssen wir tun. Wenn „die Zunge ein Feuer ist“ (Jak 3,6), müssen wir zunächst die tatsächlichen Eigenschaften von Feuer auf der wörtlichen Ebene bestimmen. Im Anschluss können wir diese Bedeutungen auf das Gebiet der menschlichen Worte und der Sprache übertragen. Da Poesie eine konzentrierte Sprachform ist, kommt es selten vor, dass eine poetische Analogie nur eine einzige Übereinstimmung aufweist.
Daraus ergeben sich drei Dinge: Zum einen ist Poesie eine indirekte Ausdrucksform. Der Dichter Robert Frost bezeichnete die Poesie als Mittel, um etwas zu sagen und gleichzeitig etwas anderes zu meinen. Der Dichter sagt, dass der Name des Herrn ein starker Turm ist (vgl. Spr 18,10); er meint damit, dass Gott ein starker Beschützer ist, bei dem wir sicher sind. Zweitens laden Metaphern, Gleichnisse und Symbole dazu ein, eine Bedeutung zu entdecken. Die Verfasser der biblischen Poesie erklären, dass A wie B ist, und vertrauen dabei darauf, dass wir den von ihnen begonnenen Kommunikationsprozess vollenden. Die dritte Schlussfolgerung ist, dass die korrekte Benennung eines sprachlichen Stilmittels nur begrenzt aussagekräftig ist. Entscheidend ist, dass wir die in einer rhetorischen Figur enthaltenen Bedeutungen entschlüsseln.
Poetisches Prinzip #3: Die Vorliebe von Dichtern für das Nichtwörtliche
Zunächst möchte ich einige weitere Stilmittel nennen, die in der biblischen Dichtung so häufig vorkommen, dass man sie kennen sollte: Apostrophe, Synekdoche, Metonymie, Personifikation, Allusion (Anspielung), Paradoxon und Merismus. Definitionen dieser Begriffe sind im Internet verfügbar; für eine detailliertere Erörterung ihrer konkreten Funktionsweise empfehle ich mein Buch A Complete Handbook of Literary Forms in the Bible[2].
Die meisten dieser sprachlichen Figuren sind fiktional; sie haben oftmals einen eher phantastischen Charakter als eine faktische oder wörtliche Bedeutung. In Apostrophen sprechen Dichter beispielsweise jemanden an, der nicht tatsächlich anwesend ist („O Könige“ in Ps 2,10), oder etwas, das unbelebt und daher nicht in der Lage ist, zu hören und zu antworten („Ihr Berge und alle Hügel“ in Ps 148,9), als ob diese anwesend bzw. in der Lage wären, zu hören und zu antworten. Kein Wunder, dass man dafür den Begriff der dichterischen Freiheit geprägt hat. Deshalb ist es wichtig, dass wir die Poesie der Bibel in dem Geiste behandeln, in dem sie uns angeboten wird, und dass wir die weitschweifende Phantasie ihrer Verfasser achten.
Sich mit der Poesie der Bibel vertraut machen
Die vorangegangenen Ausführungen kamen dir wahrscheinlich so vor wie ein literaturwissenschaftliches Seminar an der Uni. Und genau so etwas brauchst du, um Sicherheit im Umgang mit biblischer Poesie zu gewinnen – ob du sie nun liest, lehrst oder darüber predigst. Zu Beginn dieses Artikels habe ich einen Prediger zitiert, der sich an die Zeit in seinem Leben erinnerte, als er es vermied, über die Psalmen zu predigen, weil er nicht wusste, wie er „an sie herangehen sollte“. Seitdem er sich einen literarischen Ansatz für das Erschließen der biblischen Texte zu eigen gemacht hat, wie ich ihn in diesem Artikel dargelegt habe, vermeidet er es nicht mehr, über die biblische Poesie zu predigen. Mit dem vorliegenden Artikel habe ich auch dir einen Zugang zu den Kenntnissen eröffnet, die du benötigst, um zu wissen, was du mit einem biblischen Gedicht anfangen sollst.
Eine weitere Herausforderung habe ich noch für dich: Wenn diejenigen, die predigen oder eine Bibelstunde leiten, nur jeweils zwei Minuten der Predigt oder Bibelarbeit dazu nutzen würden, ihren Zuhörern bzw. Teilnehmern konkrete Methoden der Literaturanalyse beizubringen oder sie ihnen wieder ins Gedächtnis zu rufen, würden die Gemeindemitglieder rasch geübt im Umgang mit der Bibel werden. Wenn man sie darauf hinweist, welche Herangehensweise ein poetisches Bild oder eine Analogie erfordert, oder sie daran erinnert, dass zu einer Geschichte Handlung, Schauplatz und Charaktere gehören, würde dies die Gemeindemitglieder in die Lage versetzen, mit Bibeltexten so umzugehen, wie es den Texten wirklich angemessen ist. Wir haben uns in dieser Hinsicht großer Versäumnisse schuldig gemacht, aber es gibt eine einfache Abhilfe. Es braucht nur Entschlossenheit.
1Stephen Spender, The Making of a Poem, New York: Norton, 1962, S. 54.
2Leland Ryken, A Complete Handbook of Literary Forms in the Bible, Wheaton, Illinois: Crossway, 2014.