Die Jungfrauengeburt Jesu Christi

Artikel von Brandon D. Crowe
18. Dezember 2023 — 11 Min Lesedauer

Theologischer Hintergrund

Die Jungfrauengeburt bezieht sich auf die übernatürliche Geburt von Jesus Christus außerhalb des normalen, physischen Zeugungsprozesses. Stattdessen wurde Jesus in einzigartiger Weise durch die Kraft des Heiligen Geistes im Schoß der Jungfrau Maria gezeugt. Durch die jungfräuliche Geburt wurde der ewige Sohn Gottes als vollkommener Mensch inkarniert. Er wurde von Maria mit einem echten Körper und einer einsichtigen Seele geboren. Dank der Jungfrauengeburt konnte Jesus heilig und sündlos geboren werden – im Unterschied zu allen anderen Kindern, die seit Adam auf natürliche Weise geboren worden sind. Jesus wurde nicht von Adam vertreten, als dieser als der erste Mensch sündigte, und ist daher nicht „in Adam“. Stattdessen ist Jesus das Haupt der neuen Schöpfung.

Im Folgenden werde ich einige biblische Grundlagen der Jungfrauengeburt, die Jungfrauengeburt in der Kirchengeschichte und einige praktische Auswirkungen erörtern. Ich verwende dabei den geläufigeren Ausdruck „Jungfrauengeburt“, wobei ich mich stets auf die jungfräuliche Empfängnis Jesu beziehe. Zwei Einschränkungen möchte ich allerdings machen: Ich werde weder (1) die ewige Jungfräulichkeit Marias noch (2) die Theorie der unbefleckten Empfängnis erörtern, durch die Maria selbst angeblich vor der Erbsünde bewahrt wurde. Beide Lehren finden keine Grundlage in der Heiligen Schrift.

Die biblische Grundlage der Jungfrauengeburt

Die Evangelien von Matthäus und Lukas

Die eindeutigsten Stellen, an denen die Jungfrauengeburt gelehrt wird, sind das Matthäus- und das Lukasevangelium, denn diese sind die beiden einzigen Texte in der Heiligen Schrift, in denen von der Geburt Christi berichtet wird. Es ist daher bezeichnend, dass in ihnen von der Geburt Jesu durch eine Jungfrau die Rede ist.

Das Lukasevangelium enthält die meisten Einzelheiten über die Geburt Jesu. Im Bericht über den Besuch des Engels Gabriel bei Maria (vgl. Lk 1,26–38) wird die Jungfräulichkeit Marias ausdrücklich in Lukas 1,27 (griech. parthenos) erwähnt, außerdem in Lukas 1,34, als Maria sich fragt, wie sie schwanger sein könne, da sie noch nie einen Mann erkannt habe. Der lukanische Kontext lässt kaum einen Zweifel daran, dass diese zweite Erwähnung der Jungfräulichkeit Marias die biblische Redewendung „jemanden erkennen“ verwendet, um sich auf sexuelle Intimität zu beziehen. Gabriel sagt zu Maria, dass das Kind, das von ihr geboren werden soll, nicht durch einen normalen Zeugungsvorgang, sondern durch die Vermittlung des Heiligen Geistes entstehen werde (vgl. Lk 1,35). Dieser Vers zeigt die enge Beziehung zwischen dem Heiligen Geist und der Heiligkeit des Kindes – der Heilige Geist wird dafür sorgen, dass das von Maria (einer Sünderin) geborene Kind heilig sein wird. Marias Sohn wird den Thron seines Vaters David besteigen und über ein Reich herrschen, das nicht enden wird (vgl. Lk 1,31–33). Später bringt Maria Jesus in Bethlehem, der Stadt Davids, zur Welt (vgl. Lk 2,5) und erfüllt damit eine Prophezeiung (vgl. Mi 5,2).

Die Geburt Jesu wird auch im Matthäusevangelium erzählt. In Matthäus 1,20 (vgl. Mt 1,18) wird der Heilige Geist als Ursache für Marias Schwangerschaft genannt, die noch vor der geschlechtlichen Vereinigung zwischen ihr und Joseph stattfand (vgl. auch Mt 1,25). Der Begriff „Jungfrau“ wird bei Matthäus wie bei Lukas auf Maria angewandt, diesmal anhand von Jesaja 7,14, der in Matthäus 1,23 zitiert wird: „,Siehe, die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären; und man wird ihm den Namen Immanuel geben‘, das heißt übersetzt: ,Gott mit uns‘“. Obwohl die Verwendung des Begriffes „Jungfrau“ bei Jesaja sehr umstritten ist, scheint Jesaja tatsächlich von einer Jungfrau zu sprechen[1], und Matthäus versteht Maria eindeutig als Jungfrau.

Die Jungfrauengeburt an anderen Stellen im Neuen Testament

In den beiden biblischen Texten, die ausdrücklich von der Geburt Christi berichten, wird der Heilige Geist als Urheber der Schwangerschaft Marias genannt, und Maria wird als Jungfrau bezeichnet. Diese eindeutigen Texte helfen uns, die weniger eindeutigen Texte richtig einzuordnen. Obwohl die jungfräuliche Geburt in keinem anderen Text des Neuen Testaments ausdrücklich erwähnt wird, wird sie gewiss nicht geleugnet, und die Betonung der Präexistenz des Sohnes Gottes im Neuen Testament passt gut zur jungfräulichen Geburt.

Das Johannesevangelium beginnt mit der Göttlichkeit des eingeborenen Sohnes, der bereits vor seiner Menschwerdung existierte (vgl. Joh 1,1–18; 17,5). Jesus kam vom Himmel, um ewiges Leben zu schenken (vgl. Joh 6,33.40.51). Es ist möglich, dass Johannes auch auf die Jungfrauengeburt anspielt. Er schreibt, dass die Gegner Jesu häufig Missverständnissen unterliegen, und zu diesen Missverständnissen gehört die Herkunft Jesu: Sie glauben zu wissen, woher er kommt, aber es fehlt ihnen das wahre Verständnis. Entgegen der Meinung vieler ist Jesus nicht wirklich der Sohn Josephs (vgl. Joh 6,41–42; 8,41; 7,27–28, 40–42).

Es ist kein Problem, dass die Jungfrauengeburt Jesu nicht im Markusevangelium erwähnt wird, da dieses überhaupt keine Kindheitserzählung enthält. Vielmehr beginnt Markus gleich mit dem öffentlichen Wirken Jesu. Hier tritt Jesus als Erwachsener mit großer Kraft und Dringlichkeit auf die Bühne (vgl. Mk 1,9).

Auch der Apostel Paulus erwähnt die Jungfrauengeburt nicht, wenngleich sein theologischer Rahmen diese voraussetzt. Paulus spricht von Jesus als einem wirklichen Menschen (vgl. Gal 4,4; 1Kor 15,21), der aus dem Geschlecht Davids stammte (vgl. Röm 1,3–4), aber schon vor seiner Menschwerdung existierte (vgl. Phil 2,6; Kol 1,15–20).

Der theologische Rahmen von Paulus wird besonders deutlich in Römer 5,12–21, wo Paulus eine Parallele zwischen Jesus und Adam zieht. Adam war der erste Mensch, und durch sein stellvertretendes Handeln breiteten sich Sünde und Tod auf alle Menschen aus. Im Gegensatz dazu wird durch Jesus all denen, die in Christus sind, Gerechtigkeit und Leben zuteil. Paulus spricht in Römer 5 von zwei Bündnishäuptern der Menschheit, Adam und Christus. Beide sind Stellvertreter, deren Handeln Konsequenzen für andere hat. Es ist schwer vorstellbar, dass Paulus’ Adam-Christus-Parallele Bestand hätte und dass Jesus nicht von Adams Sünde betroffen gewesen wäre, wenn Paulus nicht an die Jungfrauengeburt geglaubte hätte (vgl. 1Kor 15,22; 47–48).[2]

Obwohl kein anderer Autor des Neuen Testaments die Jungfrauengeburt ausdrücklich erwähnt, betont das Neue Testament oft sowohl die Präexistenz als auch die Göttlichkeit Jesu, der Fleisch und Blut annahm (vgl. Hebr 1,2–3; Jak 2,1; 2Petr 1,1; Jud 5; 1Joh 1,1–4; Offb 1,17–18). Die Präexistenz des Gottessohnes und seine Geburt aus einer Jungfrau sind eng miteinander verbunden.

Die Jungfrauengeburt in der Kirchengeschichte

Der Glaube an die jungfräuliche Geburt Jesu, der das biblische Zeugnis der Jungfrauengeburt bestätigt, ist seit den frühesten bekannten christlichen Schriften außerhalb des Neuen Testaments ein Kennzeichen der orthodoxen christlichen Theologie. Die Jungfrauengeburt wird im Apostolischen Glaubensbekenntnis, das seine Wurzeln schon sehr früh in der Kirche hat, bekräftigt. Der Kirchenführer Ignatius von Antiochien, der bereits 110–117 n.Chr. geschrieben haben soll, erwähnt die Jungfrauengeburt bei mehreren Gelegenheiten.[3] Die Kirchenväter des 2. Jahrhunderts, Aristides von Athen (gest. ca. 138 n.Chr.), Justin der Märtyrer (gest. 165 n.Chr.), Melito von Sardes (ca. 170 n.Chr.) und Irenäus von Lyon (ca. 180 n.Chr.), bestätigen alle die Jungfrauengeburt.[4]

Praktische Implikationen: Die Jungfrauengeburt und die Erlösung

Trotz des seit Langem bestehenden Glaubens an die Jungfrauengeburt und ihrer biblischen Grundlage wurde sie oft als überholter Glaubenssatz angegriffen, der einer modernen wissenschaftlichen Prüfung nicht standhält. Die Jungfrauengeburt stand u.a. im Brennpunkt der Kontroversen zwischen Fundamentalisten und Modernisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In jüngerer Zeit wurde argumentiert, dass das Festhalten an der Jungfrauengeburt die gemeinsame Menschlichkeit von Jesus und der sündigen Menschheit herunterspielen würde, da dies bedeuten würde, dass Jesus nicht am Prozess der Evolution beteiligt war.[5]

Die Jungfrauengeburt ist jedoch keine bloße Ansicht, die man übernimmt oder nicht – bei dieser Frage geht es darum, ob wir an Gottes übernatürliches Eingreifen in die Welt, die biblische Sündenlehre, die einzigartige Parallele zwischen Adam und Christus, die klare Bedeutung der Schrift und an die historischen, einheitsstiftenden Glaubensbekenntnisse der Christenheit glauben.

„Die Jungfrauengeburt ist das Mittel, durch das der heilige Sohn Gottes inkarniert und ohne Sünde geboren wurde.“
 

Abschließend möchte ich noch einige praktische Fragen erörtern.[6]

Erstens zeigt die Jungfrauengeburt, dass unser Erlöser ganz und gar Mensch ist – und doch ohne Sünde. Jesus wurde auf übernatürliche Weise geboren, aber nicht so, dass sich sein Menschsein von unserem unterscheidet (vgl. Hebr 2,10–11). Als jemand, der als Einziger von einer Frau durch die Vermittlung des Heiligen Geistes gezeugt wurde, ist Jesus vor der Erbsünde bewahrt worden und nimmt als zweiter Adam eine herausgehobene Stellung ein. Wäre Jesus mit einer sündigen Natur geboren worden, wäre er nicht der sündlose Erlöser. Die Jungfrauengeburt ist das Mittel, durch das der heilige Sohn Gottes inkarniert und ohne Sünde geboren wurde.

Zweitens setzt die Jungfrauengeburt auch die präexistente, göttliche Sohnschaft Jesu voraus. Die Jungfrauengeburt passt zu einem, der bereits vor der Inkarnation Gottes Sohn ist. Unser Erlöser ist nicht nur ein Mensch, sondern er ist der göttliche Sohn Gottes. Er ist in einzigartiger Weise der Gottmensch – der Einzige, der die Erlösung vollbringen kann. Er ist Immanuel – Gott mit uns (vgl. Mt 1,23). Dies ist die Sprache des Bundes und spiegelt die Verheißung des Hohen Bundes wider, dass Gott als unser Gott unter uns wohnt (vgl. 3Mose 26,12).

Drittens zeigt die Jungfrauengeburt, dass Gott zu unserer Errettung die Initiative ergriffen hat. Die Erlösung ist ein Geschenk. Vor der Menschwerdung des Gottessohnes hatten viele versucht, dauerhaftes Heil zu schaffen. Aber Gottes Plan wird zu seiner Zeit und auf seine Weise ausgeführt. Im Gegensatz zur Macht Gottes steht die Schwäche und Ohnmacht der Menschen, eine bleibende Erlösung zu erlangen.

Schlussfolgerung

Die Jungfrauengeburt ist keine isolierte Lehre; sie ist eng mit der Person und dem Werk Christi verbunden. Denn wie durch einen sündigen Menschen der Tod kam, so kommt durch einen sündlosen Menschen die Auferstehung der Toten (vgl. 1Kor 15,21). Der Kirchenvater Irenäus hat es treffend formuliert: „Wollte einer seine Geburt aus der Jungfrau nicht annehmen, wie könnte er seine Auferstehung von den Toten annehmen?“[7]

Buchempfehlungen

  • Herman Bavinck, Reformed Dogmatics, herausgegeben von John Bolt, übersetzt von John Vriend, 4 Bände, Grand Rapids: Baker Academic, S. 2003–2008, insbes. §§366–367 (Band 3, S. 286–295).
  • Brandon D. Crowe. Wurde Jesus von einer Jungfrau geboren? Fragen und Antworten zur Jungfrauengeburt. Dillenburg: CV, 2016.
  • Brandon D. Crowe Of the Virgin’s Womb, TableTalk 12 (2018), S. 20–21.
  • Brandon D. Crowe, Was Jesus Really Born of a Virgin? Christian Answers to Hard Questions. Phillipsburg, NJ: P&R Publishing; Philadelphia; Westminster Seminary Press, 2013, Online-Interview
  • Michael W. Holmes (Hrsg. und Übers.), The Apostolic Fathers: Greek Texts and English Translations. 3rd Grand Rapids: Baker Academic, 2007.
  • John Behr (Hrsg. und Übers.), On the Apostolic Preaching, Popular Patristics Series 17, Crestwood, NY: St. Vladimir’s Seminary Press, 1997.
  • Craig S. Keener, The Gospel of Matthew: A Socio-Rhetorical Commentary. Grand Rapids: Eerdmans, 2009.
  • Gresham Machen, The Virgin Birth of Christ, Grand Rapids: Baker, 1965.
  • Albert Mohler, Must Christians Believe in the Virgin Birth?, Ligonier.com
  • Christophe Rico, La mère de l’Enfant-Roi Isaïe 7,14: «Almâ» et «Parthenos» dans l’univers biblique: un point de vue linguistique. Étude de la Bible en ses traditions 258. Paris: Cerf, 2013.
  • Francis Turretin, Institutes of Elenctic Theology, herausgegeben von James T. Dennison Jr., übersetzt von George Musgrave Giger, Phillipsburg, NJ: P&R Publishing, S. 1992–1997, insbes. Frage 13.5 (2:306–10). Lateinische Fassung hier
  • Geerhardus Vos, Reformed Dogmatics, 5 Bände, übersetzt und herausgegeben von Richard B. Gaffin, Jr. Bellingham, WA: Lexham, S. 2012–2016, insbes. 3, S.187–191.

1Vgl. Christophe Rico, La mère de l’Enfant-Roi Isaïe 7,14: «Almâ» et «Parthenos» dans l’univers biblique: un point de vue linguistique, Étude de la Bible en ses traditions, Paris: Cerf, 2013, S. 258.

2Vgl. J. Gresham Machen, The Virgin Birth of Christ, 2. Aufl., 1930, Nachdr., Grand Rapids: Baker, 1965, S. 262–263.

3Epheser 7,2; 18,2; 19,1; Smyrnäer 1,1.

4Vgl. z.B. Justin, Dialogue with Trypho S. 66–70, S. 84–85; 1 Apology 22, 33; Melito of Sardis, On the Passover S. 66, SS. 70–71, 104; Irenaeus, Against Heresies 1.10.1; 3.4.2; 3.5.1; 3.9.2; 3.16.2; 3.18.3; 3.18.7; 3.19.1–3; 3.21–22; 4.9.2; 4.23.1; 5.19.1; 5.21.1; idem, Demonstration of the Apostolic Preaching SS. 32–33, 36–39, 53–57; Aristides, Apology 2; Machen, Virgin Birth, S. 2–43, vgl. S. 317–379.

5Andrew T. Lincoln, Born of a Virgin? Reconceiving Jesus in the Bible, Tradition, and Theology, Grand Rapids: Eerdmans, 2013, vgl. SS. 9, 255, 258–259.

6Diese folgen eng meiner Erörterung in: Brandon D. Crowe, Was Jesus Really Born of a Virgin?, Christian Answers to Hard Questions, Phillipsburg, NJ: P&R Publishing; Philadelphia: Westminster Seminary Press, 2013, S. 26–28.

7Irenaeus, Dem. 38. Übersetzt aus On the Apostolic Preaching, übersetzt und herausgegeben von John Behr, Popular Patristics Series 17, Crestwood, NY: St. Vladimir’s Seminary Press, 1997, S. 64.