Göttliches Herabsteigen bestaunen

Artikel von Rudi Tissen
23. Dezember 2023 — 7 Min Lesedauer

„Willst du den Charakter eines Mannes erproben, gib ihm Macht.“ Dieser Satz soll von Abraham Lincoln stammen und er bringt, wie ich finde, sehr gut zum Ausdruck, was nicht nur durch die Menschheitsgeschichte bestätigt wird, sondern auch von unserer persönlichen Erfahrung.

Im Lauf der Jahrhunderte hat die Geschichte gezeigt, dass Macht sich unglaublich gut dazu eignet, unser Inneres zum Vorschein zu bringen. Sie offenbart unsere Selbstbezogenheit und unseren Egoismus. Wo Menschen Macht erlangten, haben sie diese schon immer ganz schnell zu ihrem eigenen Vorteil ausgenutzt und ihre weniger mächtigen Mitmenschen ausgebeutet.

Doch der mächtigste König, Jesus Christus, ist ganz anders. Es gibt kaum ein Fest im Kirchenkalender, das uns das so deutlich vor Augen führt wie Weihnachten. Es gibt auch kaum einen Text in der Bibel, der uns das so unmissverständlich zeigt wie Philipper 2,6–11 – dieser so bekannte Text, der sich fast wie ein Gedicht anhört.

Gleich zu Beginn treffen wir dort auf den, um den es an Weihnachten geht: Jesus, den Sohn Gottes. Über ihn heißt es:

„Er, der Gott in allem gleich war und auf einer Stufe mit ihm stand, …“ (Vers 6a NGÜ)

Unser Blick wird nach oben gerichtet, und wir sehen die zweite Person der Dreieinigkeit. Wir sehen den, der selbst ewig und vollkommen Gott ist. Wir sehen unbegrenzte Größe, Macht und Herrlichkeit. Aber wir sehen noch etwas, denn das Gedicht geht weiter:

„Er, der Gott in allem gleich war und auf einer Stufe mit ihm stand, nutzte seine Macht nicht zu seinem eigenen Vorteil aus.“ (Vers 6)

In der Advents- und Weihnachtszeit gibt es immer wieder Umfragen, was Menschen durch den Kopf geht, wenn sie an das Weihnachtsfest denken. Dieses Gedicht zeigt uns, was Gottes Herz bewegte, als er sich aufmachte, um in unsere Wirklichkeit herabzusteigen: selbstlose Liebe, die in diesem göttlichen Herabsteigen sichtbar wurde.

„Weihnachten nahm seinen Anfang im Herzen eines unendlich reichen und allmächtigen Königs, der seine Macht nicht zu seinem Vorteil nutzte. Selbstlos entschied er sich stattdessen, seine Herrlichkeit, seinen Reichtum zu verlassen, um uns für sich zu gewinnen.“
 

Weihnachten nahm seinen Anfang in der Ewigkeit und in einem Herzen voller selbstloser Liebe – dem Herzen Gottes. Weihnachten nahm seinen Anfang im Herzen eines unendlich reichen und allmächtigen Königs, der seine Macht nicht zu seinem Vorteil nutzte. Ganz und gar selbstlos entschied er sich stattdessen – angetrieben von tiefster Liebe zu dir und mir –, seine Herrlichkeit, seinen Reichtum zu verlassen, um uns für sich zu gewinnen.

Hier wird himmlische Selbstlosigkeit sichtbar, die im weiteren Verlauf des Gedichts noch deutlicher aufstrahlt. Da heißt es:

„Im Gegenteil: Er verzichtete auf alle seine Vorrechte und stellte sich auf dieselbe Stufe wie ein Diener. Er wurde einer von uns – ein Mensch wie andere Menschen.“ (Vers 7)

Wenn man so will, sind wir jetzt in Raum und Zeit gelandet. Gott steigt herab und wird Mensch. Er steigt herab in unsere Wirklichkeit – mit all ihren Herausforderungen, Schmerzen und Enttäuschungen. Er tritt in diese Welt, die gezeichnet ist von Ungerechtigkeit, Zerrissenheit und Unfrieden. Er ist kein fernbleibender Gott, sondern er identifizierte sich voll und ganz mit uns und unserer Lebenswirklichkeit.

Das ist das große Geheimnis von Weihnachten, das uns wirklich in Staunen versetzen sollte: Der Sohn Gottes, das ewige Wort vom Vater, wird Mensch. Er, der ewig ist, nahm Endlichkeit an. Er, dem alles gehört, verspürte Hunger und Durst. Er, der niemals aufhört zu wirken, verspürte Müdigkeit. Er, der jegliche Wunde in einem Augenblick heilen kann, verspürte Schmerzen.

Der allmächtige und unendlich reiche Schöpfer des Universums macht sich klein. Die zweite Person der Dreieinigkeit – ewig umgeben vom Lobpreis der Engel – wird ein Baby, das versorgt und gehalten werden muss. Er wird in ärmliche Verhältnisse hineingeboren. In normalen Häusern und Unterkünften gab es keinen Platz für ihn, sodass seine Mutter ihn in einem Stall zur Welt bringen musste. Sein erstes Bett war eine Futterkrippe für Tiere. Seine ersten Lebensmonate waren von Flucht geprägt, weil ein machtgieriger König ihn umbringen wollte. Nicht willkommen. Heimatlos. Gott wurde arm (vgl. 2Kor 8,9).

Ich höre manchmal Eltern sagen, dass Weihnachten ganz schön teuer geworden ist. Niemanden jedoch hat Weihnachten so viel gekostet wie Gott selbst. Der König der Könige lässt seine Macht hinter sich und wird zum Diener (so heißt es in Phil 2,7). Gott erniedrigte sich selbst, um uns nahezukommen. Er machte sich selbst zu nichts.

Aber auch hier endete der Weg seines selbstlosen Herabsteigens nicht. Denn unser Gedicht nimmt uns an der Hand und führt uns von der Krippe weg an einen anderen Ort. Hier liegt dieser König nicht mehr arm und klein in einer Krippe, sondern hängt verachtet und blutend an einem römischen Kreuz:

„Aber er erniedrigte sich noch mehr: Im Gehorsam gegenüber Gott nahm er sogar den Tod auf sich; er starb am Kreuz wie ein Verbrecher.“ (Vers 8)

Jemand soll einmal die Inkarnation von Gottes Sohn als das größte Wunder des christlichen Glaubens überhaupt bezeichnet haben. Ich glaube, das stimmt tatsächlich. Wir verkünden und glauben, dass der Sohn Gottes ein Mensch wurde, der verletzt und getötet werden konnte.

Gottes Sohn wurde nicht nur Mensch. Nein, er starb einsam, von Freunden verlassen, halbnackt und furchtbar verwundet an einem römischen Kreuz. Das war die Hinrichtungsart, die für die schlimmsten Verbrecher bestimmt war. Der Prophet Jesaja kommentiert dies treffend mit den Worten:

„Wir sahen ihn, aber sein Anblick gefiel uns nicht.“ (Jes 53,2 SLT)

Der König des Himmels, ein Herrscher von unvergleichlicher Macht, stieg herab, um ein römisches Kreuz zu seinem Thron zu machen – das Kreuz, an dem er für dich und mich starb. Er stieg in vollkommener Selbstlosigkeit und Liebe herab, um dort am Kreuz stellvertretend die Strafe für unsere Schuld zu tragen. Er stieg herab, um uns zu sich hinauf zu heben.

„Der König des Himmels stieg in vollkommener Liebe herab, um am Kreuz stellvertretend die Strafe für unsere Schuld zu tragen.“
 

Genau deshalb – und das ist der letzte Teil unseres Gedichts (Phil 2,9–11) – hat der Vater seinen Sohn, der diese gewaltige Erniedrigung auf sich nahm, über alles und jeden erhöht. Er hat ihm einen Namen über allen anderen Namen verliehen und dafür gesorgt, dass Christus aller Ruhm, alle Anbetung und aller Lobpreis zukommt – jetzt und bis in alle Ewigkeit. Der, der sich unvergleichlich erniedrigte, wurde unvergleichlich erhöht.

Unser Gedicht aus Philipper 2 fordert uns heraus. Weihnachten fordert uns heraus. Denn tief in uns allen steckt diese sündige Tendenz, „groß“ sein zu wollen. Das ist schon seit 1. Mose 3 so, und das Echo dieses Strebens hallt bis heute nach: „Yeah, you can be the greatest, you can be the best … And the world’s gonna know your name“ (dt. „Ja, du kannst der Größte sein, du kannst der Beste sein … Und die Welt wird deinen Namen kennen“, Liedtext von The Script, 2012). Die Sehnsucht nach Größe scheint durch die Sünde fest in unserem Herzen verankert zu sein.

Philipper 2 zeigt uns den, der allein wirklich groß war, aber sich bereitwillig klein gemacht hat. Weihnachten lädt uns ein, sein göttliches Herabsteigen zu bestaunen. Der Sohn Gottes ließ seine Herrlichkeit zurück, um unsere Augen für die Herrlichkeit Gottes zu öffnen (vgl. Joh 1,18; 2Kor 3,8).

Die Inkarnation des Sohnes Gottes ist ein gigantisches Wunder. Es besitzt die Kraft, unsere Herzen immer wieder neu aufzusprengen – eine ganz neue Selbstlosigkeit, Demut und Liebe in unserem Miteinander als Brüder und Schwestern hervorzubringen (vgl. Phil 2,1–5) und uns in die Anbetung unseres selbstlosen, herrlichen Königs zu führen (vgl. Phil 2,9–11).

„Du König der Ehren, Herrscher der Heerscharen,
verschmähst nicht zu ruhen in Marien Schoß.
Gott, wahrer Gott, von Ewigkeit geboren!
O lasset uns anbeten, o lasset uns anbeten,
o lasset uns anbeten, den König!“

(Aus dem bekannten Weihnachtslied „Herbei, o ihr Gläubigen“.)

Frohe Weihnachten!