Predigst du wirklich Christus?
Auf der Kanzel in London, auf der ich das Predigen lernte, gab es eine kleine Inschrift, die nur für den Pastor bestimmt war, nachdem er die Kanzel bestiegen hatte: „Herr, wir möchten gerne Jesus sehen.“ Diese Worte aus Johannes 12,21 machten deutlich, worin meine Aufgabe bestand. Die Botschaft war zwar einfach, aber nicht oberflächlich. Sie spiegelte die tiefsten Quellen des christlichen Denkens wider.
Denn Jesus Christus ist die Wahrheit und die Herrlichkeit Gottes; in ihm ist die Gnade, das Leben und die Weisheit Gottes. Er ist das vom Vater geoffenbarte Wort und derjenige, von dem der Geist der Wahrheit Zeugnis ablegt. In der Tat haucht Gott die Heilige Schrift durch den Geist aus, um uns durch das Wort Christi „weise zu machen zur Errettung durch den Glauben, der in Christus Jesus ist“ (2Tim 3,15). So findet das Gesetz in ihm seine Erfüllung (vgl. Röm 10,4), und deshalb zeugen die Propheten, die Apostel und die ganze Schrift von ihm (vgl. Lk 24,27.44–47; Joh 5,39–40.46).
Die praktische Anwendung für den Prediger ist einfach: Wenn Jesus zu verkündigen der Wunsch des Vaters, das Wirken des Geistes und der Zweck der Heiligen Schrift ist, dann muss es auch der treue Prediger tun. Wenn es das große und ewige Ziel des Sohnes ist, eine Braut für sich zu gewinnen, dann müssen seine Verkündiger für ihn werben. Sie sind wie Abrahams Knecht in 1. Mose 24, der den Auftrag hatte, eine Braut für den Sohn seines Herrn zu finden.
Von Gott predigen ohne Christus
Leider wird häufig nicht einmal versucht, Christus zu predigen. Es werden alternative Botschaften oder Erlöser propagiert, unbiblische „Christusse“ verkündet, oder Predigen wird einfach mit Belehrung, Moralisieren, Unterhaltung oder Effekthascherei verwechselt.
Selbst diejenigen, die die Heilige Schrift wirklich ernst nehmen, können hier versagen, wie beispielsweise die jüdischen Führer, zu denen Jesus sagte:
„Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben; und sie sind es, die von mir Zeugnis geben. Und doch wollt ihr nicht zu mir kommen, um das Leben zu empfangen.“ (Joh 5,39–40)
So können auch wir die Heilige Schrift als Selbstzweck betrachten und das Predigen einfach nur als ein Mittel ansehen, um aus unseren Leuten Bibelexperten zu machen. Wir können auf eine Weise predigen, die ganz bibeltreu aussieht, aber nur stolze Schriftgelehrte hervorbringt, keine demütigen Anbeter Christi.
Drei hilfreiche Ratschläge für Prediger
Viele von uns Verkündigern wissen natürlich, dass wir Christus predigen sollten. Wir wollen es auch, und doch tun wir uns schwer damit. Aber warum? Im Folgenden möchte ich drei Vorschläge machen, wie bestimmte Fehler vermieden werden können.
1. Predige Christus und keine abstrakten Wahrheiten
Die Anziehungskraft der Sünde, die uns vom Glauben an Christus wegzieht, führt dazu, dass wir Christus durch andere Objekte der Anbetung ersetzen. Eine der subtilsten Arten, wie Prediger dies tun, besteht darin, anstelle der konkreten, wirklichen Person Jesus Christus abstrakte Begriffe zu verwenden. Jede Abstraktion kann das tun, aber je theologischer sie ist, desto schwieriger ist zu erkennen, wie sie an die Stelle Christi tritt und seine Abwesenheit verschleiert. „Das Evangelium“, „die Gnade“ oder „die Bibel“: Sie alle können so behandelt werden, als seien sie Retter oder Götter. Sogar „das Kreuz“ kann als Abstraktion benutzt werden und als Ersatz für Jesus stehen – obwohl bei diesem Thema wahrscheinlich die geringste Gefahr dafür besteht. Verkündiger, die „Christus predigen“ wollen, meinen gerne, sie müssten das Sühneopfer in jeder Predigt wiederholen. Aber dabei kann das Sühnopfer als unpersönliches Vehikel zur „Erlösung“ dargestellt werden, das wenig mit der Wertschätzung Christi zu tun hat.
Christus zu predigen bedeutet, alle Lehren über Christus zu verkündigen. Jedoch darf keine Lehre von ihm abstrahiert und zur obersten gemacht werden. Christus selbst ist in seiner Person der Weg, die Wahrheit und das Leben (vgl. Joh 14,6). Er allein ist derjenige, der als die Herrlichkeit und die Freude der Heiligen herausgestellt werden soll.
2. Verkünde die Realität, nicht nur ein Konzept
„Christus aus der ganzen Schrift predigen“ ist zu einem Standardthema in evangelikalen Büchern und Konferenzen geworden. In vielerlei Hinsicht ist das eine gute Sache, aber es besteht die Gefahr, dass die Predigt über Christus zu einem bloßen hermeneutischen Spiel wird, bei dem wir herausfinden, wie wir am Ende der Predigt bei ihm „ankommen“ können. Christus wird dann zur brillanten Lösung des Predigers, um den Text zu enträtseln. Mit anderen Worten: Christus wird als die richtige Antwort präsentiert, aber nicht als derjenige, der angebetet werden soll.
„Christus wird als die richtige Antwort präsentiert, aber nicht als derjenige, der angebetet werden soll.“
Bei diesem Fehler geht es nicht so sehr darum, dass Christus durch eine andere Wahrheit ersetzt wird; vielmehr wird er wie ein totes Exemplar behandelt, das von uns seziert und analysiert wird. Das appelliert natürlich an unseren Stolz. Denn wenn die Heilige Schrift nicht vollkommen göttlich, lebendig und aktiv ist, sondern ein totes Artefakt, das auf bestimmte Konzepte untersucht werden muss, dann können wir uns als Meister des Textes über sie stellen. Wir müssen dann nie das Unbehagen erleben, mit dem Bibelwort konfrontiert zu werden. Aber die Predigt wird damit zu einem bloßen Christusdenkmal, zu einem Grabstein.
Als Paulus seine flehentliche Bitte als Botschafter Christi niederschrieb (vgl. 2Kor 5,20), sah er sich eindeutig in einer größeren Rolle als die eines Lehrers, der die theologische Grammatik überarbeitet. Seinem Volk wurde Jesus Christus so anschaulich vorgestellt, damit es zu ihm kommt, seine Zuneigung auf ihn richtet und ihm vertrauen kann.
3. Christus zeigen, nicht nur von ihm erzählen
Wenn die Menschen Christus wertschätzen sollen, können wir ihnen nicht nur sagen, dass er gut, wahr und schön ist. Er muss ihnen auch gezeigt werden, damit sie ihn schmecken und sehen. Doch das Zeigen ist eine viel schwierigere Aufgabe für den Prediger: Eine solche Predigt kann weder ziellos dahergesagt werden noch von einem Prediger kommen, der sich nicht selbst an Christus erfreut und ihn anbetet.
Deshalb geben wir Prediger uns nur allzu leicht mit dem Erzählen zufrieden. Die rhetorischen Fragen, die man oft von der Kanzel hört („Ist das nicht eine wunderbare Wahrheit?“ oder „Ist Christus nicht herrlich?“), sind nur klassisches Beiwerk. Sie klingen fromm, aber anstatt zu zeigen, wie herrlich und wunderbar Christus ist, überlässt man es den Zuhörern, dies selbst herauszufinden.
„Der Botschafter kann nicht von seiner Botschaft getrennt werden.“
Zeigen ist nicht nur eine Herausforderung für die Predigt selbst. Das Zeigen fordert den ganzen Menschen. Denn ein gottloser Prediger mag zwar von Christus sprechen – und das mit Eloquenz –, aber die Menschen werden sein Ego, seine Lieblosigkeit oder seine Bitterkeit im Geist spüren. Und das übertragen sie dann möglicherweise auf den Christus, den er verkündet. Der Botschafter kann nicht von seiner Botschaft getrennt werden.
Wenn wir als Prediger Christus treu in all seiner Herrlichkeit darstellen sollen, müssen wir uns wie Christus an Gott erfreuen und die Sünder lieben, zu denen wir sprechen. Ohne es zu wollen, wird der Prediger das ausstrahlen, wessen er sich wirklich rühmt. Auch ohne es zu wollen, werden die Menschen den Charakter Christi an ihm ablesen. Im Guten wie im Schlechten ist also das Herz des Predigers selbst eine Predigt.
Wer genügt all diesen Anforderungen? Keiner von uns in sich selbst. Aber gerade deshalb werden wir auf Christus geworfen. Dann werden wir kleiner und er wird größer. Und wenn er erhöht ist, wird er alle Menschen zu sich ziehen (vgl. Joh 12,32).
Meine Herren: Unsere Zuhörer wollen Jesus sehen.