Ursachen für falschen Umgang mit Gemeindezucht

Buchauszug von Jonathan Leeman
18. März 2024 — 10 Min Lesedauer

Gemeinden sollten sehr darauf achten, die Möglichkeit missbräuchlicher Gemeindezucht zu vermeiden, und für den Fall, dass es doch geschieht, schnell dagegen vorgehen. Wenn ich über dieses Thema schreibe und in Gemeinden darüber spreche, stelle ich oft fest, dass die meisten Gemeinden eher unter Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit im Blick auf Gemeindezucht leiden. Doch einige wenige gehen auch zu rigoros vor.

Merkmale von Gemeinden, die Gemeindezucht missbrauchen

Die meisten (oder alle?) bedauernswerten Fälle von Gemeindezucht, von denen ich in den letzten Jahren gehört habe, traten in nicht-kongregationalistischen Gemeinden auf, in denen die Ältesten der Gemeinde ihren Willen aufzwingen können. Ich bin sicher, dass auch kongregationalistische Gemeinden in diesem Bereich versagen. Aber allein der Umstand, dass sich vor der großen Gemeindeversammlung in einer kongregationalistischen Gemeinde eine Gruppe von Ältesten oder Pastoren in einer kleinen Ältestensitzung treffen muss, sich am Kopf kratzt und sich fragt: „Wie sollen wir das der Gemeinde erklären?“, führt zu gemäßigten Entscheidungen. Es bremst sie ein wenig aus. Eine Gruppe wohlmeinender, aber müder Ältester kann in einer späten Sitzung am Donnerstagabend um 22 Uhr von einer schlechten Denkweise übermannt werden. Aber die Gemeindeversammlung am Sonntag wird als nützlicher Referenzpunkt für die Realität dienen.

Meiner Einschätzung nach kann es in großen Gemeinden zu falschen Ansätzen bei der Gemeindezucht kommen, wenn die schiere Größe sie dazu zwingt, sich auf geregelte Verfahren statt auf persönliche Seelsorge zu verlassen. Der Herausforderung der Größe der Gemeinde begegnet man mit vereinheitlichten, klaren Verfahren und präzisen Verhaltenskodizes. Es wird schwierig, jeden einzelnen Fall individuell und mit Bedacht zu behandeln. Doch so wie kluge Eltern mit jedem Kind individuell umgehen, so wird auch in solchen Fragen jedes Mitglied individuell behandelt. Aus persönlicher Erfahrung kann ich sagen, dass die Disziplinierung und Erziehung meiner Kinder ein langsamer, ineffizienter Prozess ist, der viele Stunden in Anspruch nimmt. So ist es auch mit der Korrektur und Zurüstung bei Mitgliedern unserer Gemeinde.

Missbrauch scheint häufiger in Gemeinden und unter Gemeindeleitern vorzukommen, die sich mit theologischen und praktischen Spannungen unwohl fühlen – Spannungen, die meiner Meinung nach in einer gefallenen Welt unvermeidlich sind. Wie ich an anderen Stellen geschrieben habe, werden die Dinge in Schwarz-Weiß gesehen, wenn man sie mit einer fundamentalistischen Denkweise angeht. Man nimmt ein Prinzip und macht es zur absoluten Richtlinie, anstatt sie durch konkurrierende Prinzipien abzumildern. So besteht zum Beispiel eine gewisse Spannung zwischen dem Verbot von Tratsch und dem Einholen von Ratschlägen, bevor man jemanden zur Rede stellt.

„Man vertraut eher der Autorität eines Mannes, der bereit ist, einer anderen Person das letzte Wort zu geben.“
 

Ein drastisches Beispiel für einen fundamentalistischen Fehler findet sich in Gemeinden mit einem starken Fokus auf männliche Vorsteherschaft und elterliche Autorität. Dies sind biblische Grundsätze, die ich voll und ganz bejahe. Dennoch ärgert es mich, wenn ich von Gemeinden höre, in denen aus lauter Achtung vor der Autorität des Mannes Berichte über Ehemänner, die hart, streng und fordernd zu ihren Frauen sind, geduldet oder zumindest übersehen werden. Sie haben ein Prinzip zu dominant werden lassen, ohne sich von anderen biblischen Prinzipien leiten zu lassen. Im Allgemeinen sollte man argwöhnisch sein, wenn die Führungspersönlichkeiten einer Gemeinde gewisse Personen anderen vorziehen, Andersdenkende bestrafen, aufbrausend sind, immer das letzte Wort haben müssen, keinen Irrtum zugeben, Wert auf äußere Konformität legen, in großen und kleinen Fragen konsequent dogmatisch sind, nur ungern Autorität abgeben, nur ihre engsten Freunde oder Familienmitglieder fördern und generell kontrollierend sind. Wahrscheinlich können uns noch mehr derartige Warnsignale einfallen – vielleicht finden wir sogar einige davon bei uns selbst. Ich persönlich habe gern das letzte Wort. Das sagt nichts Gutes über meinen Umgang mit Autorität. Man vertraut eher der Autorität eines Mannes, der bereit ist, einer anderen Person das letzte Wort zu geben. Ihm geht es weniger um Äußerlichkeiten oder darum, gewisse Ergebnisse zu erzwingen.

Und wenn wir gerade dabei sind … es ist allgemein bekannt, dass der Missbrauch von Autorität in Stolz wurzelt. Aber ich denke, man kann es auch anders ausdrücken: Der Missbrauch von Autorität und Disziplin wurzelt in Menschenfurcht. Eine Person, die Gott mehr als alles andere fürchtet, ist weniger geneigt, Gottes Untergebene zu missbrauchen. Jemand, der Menschen fürchtet, kümmert sich hingegen zu sehr um den äußeren Schein. Er oder sie möchte die sichtbare Fassade kontrollieren. Die tyrannischsten Herrscher im Haus, im Staat oder in der Gemeinde sind unsichere und ängstliche Menschen. Ich wünsche mir auf keinen Fall, einer Führungsperson unterstellt zu sein, die in Angst lebt.

Ein Mann oder eine Gemeinde, die sagt: „Er muss zunehmen, aber ich muss abnehmen“, wird weit weniger wahrscheinlich Autorität und Disziplin missbrauchen. Ein Mensch oder eine Gemeinde, die immer versucht „zuzunehmen“, wird sie eher missbrauchen.

Die vielleicht anschaulichste und ablehnenswerteste Form des geistlichen Missbrauchs im Neuen Testament (abgesehen von den Irrlehrern, die eine Herde in die Irre führen) ist die legalistische Religion der Pharisäer und Schriftgelehrten. Sie schreiben Gesetze vor, wo Gott keine vorschreibt. Sie verurteilen andere um ihres eigenen Vorteils willen. Sie herrschen über andere, damit sie selbst geehrt werden. Und schließlich sind sie bereit, Gott selbst zu töten, um die Kontrolle zu behalten.

Die richtige Kultur entwickeln

Der beste Weg, um eine Gemeindekultur des Missbrauchs zu vermeiden, in der Gemeindezucht hart gehandhabt wird, ist nichts anderes als die Pflege einer Kultur des Evangeliums.

Ich hatte einmal die Gelegenheit, mit einigen Gemeindeältesten zu sprechen, die einen sehr komplexen Fall von Gemeindezucht fromm, aber schlecht gehandhabt hatten. Die Medien hatten die Geschichte aufgegriffen und eine Reihe von christlichen und nichtchristlichen Schriftstellern warfen der Gemeinde Missbrauch vor. Ich kenne die Gemeinde und ihre Leiter; es ist eine am Evangelium orientierte und gesunde Gemeinde. Die Brüder haben in einer komplizierten Situation einen Fehler gemacht, für den sie sich schnell entschuldigt und den Kurs geändert haben. Gute Gemeinden werden Fehler machen, genauso wie gute Eltern und gute Präsidenten Fehler machen. Gibt es eine Führungspersönlichkeit in der Bibel, die das nicht getan hat – Abraham? Mose? David? Salomo? Jesus wusste es, als er die Gemeinde mit Autorität ausstattete. Die Tatsache, dass selbst unsere besten Leiter Fehler machen, hilft uns, unsere letzte Hoffnung auf Christus zu setzen, den einzigen Leiter, der keine Fehler macht.

Gehen wir also davon aus, dass Fehler, sogar sündhafte Fehler, passieren werden. Die Frage ist: Was ist die beste Umgebung, um schädliche Auswirkungen dieser Fehler zu absorbieren – so wie ein Papiertuch vergossenen Saft aufsaugt? Und was ist das beste Umfeld, um Fehler von vornherein zu vermeiden? Die Antwort muss lauten: ein Umfeld, das vom Evangelium geprägt ist. Die Brüder in der eben erwähnten Gemeinde konnten sich so schnell entschuldigen und ihren Kurs ändern, weil sie das Evangelium kennen und danach leben. Sie haben kein Image zu verteidigen, kein Lebens- oder Entscheidungsmuster zu rechtfertigen. Sie sind in Christus gerechtfertigt, was sie dazu befähigt, sich schnell zu entschuldigen.

Ich denke, dass eine Gemeinde, in der die Leiter Fehler machen und sich dafür entschuldigen, gesünder ist als eine solche, in der die Leiter scheinbar nie Fehler machen und sich nie entschuldigen. Das ist eine Lektion, die ich als Vater lernen musste. Stellen wir uns vor, wir haben zwei Elternteile: einen, der nach außen hin einen guten Eindruck macht und daher nie die Notwendigkeit sieht, um Vergebung zu bitten, und einen, der sündigt, sowohl gegen die Kinder als auch anderweitig, der aber schnell um Vergebung bittet und transparent nach dem Evangelium lebt. Welcher Elternteil ist der bessere? Welcher Elternteil wird seine Kinder besser auf dem Weg des Evangeliums führen? In den ersten Jahren unserer Elternschaft war ich eher der erste Elternteil. Ich habe im Allgemeinen den guten Schein gewahrt und es fiel mir schwer, mich bei meinen Töchtern zu entschuldigen oder Fehler einzugestehen, wenn mein Gewissen es mir nahelegte. Schließlich wollte ich ihnen ein gutes Vorbild sein. Ich wollte ihr Bild von mir nicht zerstören, indem ich Schwächen zugab. Und manchmal – tragischerweise – sagten sie, dass sie dachten, ich hätte nie gesündigt. Was für eine Lektion gegen das Evangelium habe ich ihnen da erteilt! Oh, wenn ihr nur den Stolz und die Selbstsucht im Herzen eures Vaters kennen würdet!

Auch die Gemeinden und ihre Leiter müssen lernen, transparent nach dem Evangelium zu leben. Das bedeutet, dass wir einander unsere Sünden bekennen und uns über die Gnade freuen, die Gott schenkt. Das Zeugnis der Gemeinden des Reiches Christi hängt nicht von unserer moralischen Vollkommenheit ab. Wie attraktiv ist ein Gebäude voller Pharisäer? Vielmehr hängt unser weltweites Zeugnis von unserer Liebe zum Evangelium und gegenseitiger Vergebung bei Sünde ab.

„Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander lieben sollt, damit, wie ich euch geliebt habe, auch ihr einander liebt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“ (Joh 13,34–35)

Was bedeutet es, einander zu lieben, wie Christus uns geliebt hat? Es bedeutet, barmherzig und vergebend zu lieben. Und es bedeutet natürlich auch, dass wir einander unsere Sünden bekennen, damit uns vergeben werden kann. So lebt man transparent nach dem Evangelium. Und es ist diese Art des Lebens in der Gemeinde, das der Welt zeigt, dass wir seine Jünger sind.

Man bedenke, wer aus den Gemeinden ausgeschlossen wird: die Pharisäer. Pharisäer sind diejenigen, die ihre Sünde nie als Sünde anerkennen und daher nie bereuen. Ich verwende hier das Wort Pharisäer in einem erweiterten Wortsinn. Wahrscheinlich denkt man instinktiv zuerst an die Pharisäer, von denen wir in den Evangelien lesen, die sich „vollkommen“ an das Gesetz hielten. Was ich mit dem Begriff meine, ist, dass sie die gleiche Art Mensch sind wie der Sünder, der sich weigert, seine Sünde zu lassen. Beide sind nicht arm im Geiste. Keiner von beiden bekennt seine Sünde. Beide rechtfertigen sich bis zum Ende. Mit anderen Worten: Beide sind gesetzlich. Sowohl der erfolgreiche als auch der gescheiterte Gesetzliche sind beide immer noch gesetzlich, beide sind „Pharisäer“. Gemeindezucht, wenn sie in Weisheit durchgeführt wird, ist nichts anderes als ein Mittel, um gegen das Pharisäertum in der Gemeinde vorzugehen. Pharisäer weigern sich nicht nur, die Balken in ihrem eigenen Auge zu sehen – sie erlauben es auch anderen nicht, auf Splitter hinzuweisen.

„Die Armen im Geiste hingegen, die Sanftmütigen und die, die das Evangelium lieben, erkennen ihre Schwachstellen an und freuen sich über diejenigen, die sie darauf hinweisen.“
 

Interessanterweise sind gerade die, die jede Art von Gemeindezucht unterlassen, vielleicht die größten Pharisäer. Sie können sich nicht vorstellen, dass sie sich selbst täuschen oder vielleicht korrigiert werden müssen: „Wie kannst du es wagen, auf den Splitter in meinem Auge hinzuweisen!“ Die Armen im Geiste hingegen, die Sanftmütigen und die, die das Evangelium lieben, erkennen ihre Schwachstellen an und freuen sich über diejenigen, die sie darauf hinweisen.

„Weise nicht den Spötter zurecht, damit er dich nicht hasst; weise den Weisen zurecht, und er wird dich lieben!“ (Spr 9,8)

In welchem Haus oder welcher Gemeinde würden Sie lieber sein – dort, wo alle „perfekt“ sind? Oder dort, wo Menschen ihre Sünden bekennen und im Vertrauen auf die stellvertretende Gerechtigkeit Christi leben? Wenn Letzteres der Fall ist, ergreifen wir die Initiative? Nicht um andere zu korrigieren, sondern um unsere Sünde zu bekennen? Wenn nicht, könnte es sein, dass wir diejenigen sind, die dazu neigen, Gemeindezucht zu missbrauchen?

Machen wir uns bewusst, dass Sündenbekenntnis eine notwendige Voraussetzung für Kurskorrektur ist und dass diejenigen, die sich nicht korrigieren lassen, wahrscheinlich auch nicht bekennen können.