Stellvertretende Sühne in der Geschichte der frühen Kirche

Artikel von Brian Arnold
27. März 2024 — 9 Min Lesedauer

Fällt ein einzelner Lichtstrahl auf ein Prisma, so zerbricht es in die Farben eines Regenbogens. Keine Farbe ist dominanter als die andere, aber alle zusammen tragen zur Schönheit des Lichts bei.

Wir können die Lehre der Sühne, wie sie in der frühen Kirche gelehrt wurde, mit so einem einzelnen Lichtstrahl vergleichen, der auf ein Prisma trifft und in die vielen Farbtöne der Lehre zerfällt. Die Väter und Mütter der Kirche schätzten die verschiedenen Blickwinkel der Schrift auf das Werk Christi am Kreuz wert und schöpften sie in ihrer Fülle aus. Die stellvertretende Sühne – die Vorstellung, dass Jesus an unserer Stelle bestraft wurde – ist einer dieser Farbtöne, auch wenn sie in den Schriften der frühen Kirche nicht heller als die anderen Farben leuchtet.

An dieser Stelle ist es wichtig, für zwei falsche Annahmen zu sensibilisieren. Der erste Irrtum, unter Theologen häufiger vorzufinden, ist die Annahme, die frühe Kirche habe nie von stellvertretender Sühne gesprochen. Das hoffe ich zu widerlegen. Der zweite Irrtum ist unter Evangelikalen eher verbreitet, die die Texte überstrapazieren und die Lehre der stellvertretenden Sühne in Texte hineinlesen.

Durch eine zu starke Fokussierung auf die stellvertretende Sühne laufen wir Gefahr, die vielen anderen Arten zu verpassen, in denen die frühe Kirche über Sühne sprach – von Christus Victor (die Lösegeld-Theorie) bis hin zu Christus Medicus (Christus, unser Heiler). Dadurch haben einige Evangelikale, statt das volle Farbspiel der Sühne wertzuschätzen, ein monochromatisches (d.h. einfarbiges) Bild von der Sühne gezeichnet – und so können wir von denjenigen profitieren, die das gesamte Spektrum sahen, während wir gleichzeitig weiterhin am stellvertretenden Tod als Grundlage der Sühnetheologie festhalten. Zwischen diesen beiden Irrtümern manövrierend werde ich im Folgenden zwei Kirchenväter und eine Kirchenmutter zu Wort kommen lassen, um aufzuzeigen, dass die Lehre der stellvertretenden Sühne in der frühen Kirche gegenwärtig war.

Clemens

Bevor ich zu den Beispielen komme, die für mich eindeutig erscheinen, richtet sich unser Augenmerk zunächst einmal auf einen Auszug aus dem 1. Clemensbrief. Hieran möchte ich aufzeigen, dass es irreführend sein kann, überall die Lehre über die stellvertretende Sühne in der Theologie der frühen Kirche zu suchen. Der 1. Clemensbrief ist das älteste christliche Schriftstück nach den Schriften des Neuen Testaments. Es ist an die Gemeinde in Korinth gerichtet, die immer noch nicht gut zurechtkam.

Clemens ermahnt die Gemeinde in Korinth, sich auf die Liebe Gottes zu konzentrieren und sich ein Beispiel an der Liebe Christi zu nehmen. Er schreibt: „wegen der Liebe, die er zu uns trug, hat unser Herr Jesus Christus sein Blut hingegeben für uns nach Gottes Willen, sein Fleisch für unser Fleisch, seine Seele für unsere Seelen“ (1. Clem., 49,6)[1].

Hier ist der Gedanke der Stellvertretung eingebettet in das Konzept eines moralischen Vorbilds des Sühneopfers. Jesus zeigt seine große Liebe, indem er stellvertretend für uns eintritt. Aber nur, weil hier Stellvertretung eine Rolle spielt, heißt das noch lange nicht, dass es hier um die Lehre der stellvertretenden Sühne geht. Denn damit es sich um Sühne handelt, muss auch irgendwo die Rede von einer Schuld sein, die Sühne erfordert.

„Es muss ein Zusammenhang zwischen Stellvertretung und einer juristischen Vorstellung bestehen, damit man von stellvertretender Sühne im eigentlichen Sinn sprechen kann.“
 

Das Konzept der Stellvertretung war in den ersten Jahrhunderten weit verbreitet, sodass einige Studenten der frühen Kirchengeschichte solche Texte überinterpretierten. Es muss jedoch, wie die nächsten drei Beispiele verdeutlichen, ein Zusammenhang zwischen Stellvertretung und einer juristischen Vorstellung bestehen, damit man von stellvertretender Sühne im eigentlichen Sinn sprechen kann.

Eusebius von Caesarea

Einer der besten Belege für das Konzept der stellvertretende Sühne in der frühen Kirche kommt aus einer überraschenden Quelle: Eusebius von Caesarea, der vor allem für seine Historia Ecclesiastica (Kirchengeschichte) bekannt ist. Eusebius schrieb daneben aber noch ein weitaus weniger bekanntes Buch, Demonstratio Evangelica (die Offenbarung des Evangeliums), worin er Ungläubige vom Glauben zu überzeugen und Gläubige im Glauben zu stärken versucht.

An einer Stelle in dem Buch geht Eusebius sehr detailliert auf den Fluch und die Strafe ein, die das mosaische Gesetz mit sich bringt. Sünde verlangt immer eine Strafe. Indem er Jesaja 53,5 zitiert („Er wurde um unserer Übertretungen willen durchbohrt“), argumentiert Eusebius folgendermaßen:

„Hier zeigt er, dass Christus, selbst von aller Sünde frei, die Sünde der Menschen auf sich nehmen wird. Und darum wird er die Strafe der Sünder auf sich nehmen, und um ihretwillen leiden, nicht um seiner eigenen willen.“ (Demonstratio Evangelica, 3.2)

Das Wesen der stellvertretenden Sühne wird hier klar sichtbar: Jesus nahm unsere Strafe auf sich, damit wir vor Gottes Zorn verschont bleiben. Viele Theologen übersehen, dass es diese explizite Verbindung zwischen Sühne und Strafe in der frühen Kirche gibt. Eusebius ist ein klares Zeugnis hierfür. Immer wieder verbindet er diese Motive, wenn er darüber schreibt, wie Christus die uns zustehende Strafe auf sich nahm.

Makrina die Jüngere

Zu den wichtigsten Persönlichkeiten in den Debatten über die Dreieinigkeit im 4. Jahrhundert zählten die kappadokischen Väter: Basilius von Caesarea, Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz. Ebenfalls sehr bekannt zu jener Zeit war die Schwester von Basilius und Gregor von Nyssa, Makrina die Jüngere. Für ihre Brüder war sie ein Vorbild in ihrer Frömmigkeit und Liebe zu Christus. Nach ihrem Tod schreibt Gregor von Nyssa über ihr Leben und gibt ihre letzten Worte wieder:

„Du hast uns vom Fluch und von der Sünde errettet, indem du beides für uns geworden bist. Du hast die Köpfe des Drachen zerquetscht, der mit seinem Rachen den Menschen in den Abgrund des Ungehorsams hinabgerissen hatte. Du hast uns den Weg der Auferstehung bereitet, da du die Pforten der Hölle zerbrochen und den, der die Macht über den Tod hatte, überwunden hast.“ (Vita Macrinae, 21)[2]

Die Hölle ist die Strafe und Satan der Feind. Doch Christus hat uns erlöst, indem er an unserer Stelle die Sünde und den Fluch auf nahm. Er hat sich für uns eingetauscht und die Strafe für den Fluch der Sünde gezahlt. Makrinas Gebet auf dem Sterbebett strahlt von Hoffnung auf die Stellvertretung Christi, Erlösung von Sünde, den Sieg über den Teufel und die Erwartung der Auferstehung.

Brief an Diognet

Der Brief an Diognet ist ein apologetisches Werk aus dem 2. Jahrhundert. In ihm verbirgt sich womöglich das Kronjuwel der Lehre über die stellvertretende Sühne in der frühen Kirche. Das folgende Zitat ist die wohl beste Beschreibung der Stellvertretung in den ersten Jahrhunderten, wenn nicht sogar der gesamten Kirchengeschichte:

„O überschwengliche Menschenfreundlichkeit und Liebe Gottes! – da hasste und verstieß er uns nicht und gedachte nicht des Bösen, sondern war langmütig und geduldig und nahm aus Erbarmen selbst unsere Sünden auf sich; er selbst gab den eigenen Sohn als Lösepreis für uns, den Heiligen für die Unheiligen, den Unschuldigen für die Sünder, den Gerechten für die Ungerechten, den Unvergänglichen für die Vergänglichen, den Unsterblichen für die Sterblichen. Denn was anders war imstande, unsere Sünden zu verdecken als seine Gerechtigkeit? In wem konnten wir Missetäter und Gottlose gerechtfertigt werden, wenn nicht allein im Sohne Gottes? Welch süßer Tausch, welch unerforschliches Walten, welch unverhoffte Wohltat, dass die Ungerechtigkeit vieler in einem Gerechten verborgen würde und die Gerechtigkeit eines einzigen viele Sünder rechtfertige!“ (Diogn., 9)[3] 

„Welch süßer Tausch!“ Christus für uns! Jesus nahm unsere Sünde auf sich, weil er heilig, schuldlos, gerecht, unbestechlich und unsterblich war, während wir gesetzlos, schuldig, ungerecht, bestechlich und sterblich sind. Unsere Sünden mussten in ihm verborgen werden, wir seine Gerechtigkeit empfangen – ein herrlicher Ausdruck der doppelten Zurechnung (unsere Sünden zu Jesus, seine Gerechtigkeit zu uns). Wir sollten außerdem beachten, dass Diognet Christus als „Lösegeld“ erwähnt. In diesem einen Abschnitt finden wir gleich mehrere Schattierungen des Sühneopfers.

Die Farben des Regenbogens

Wir enden dort, wo wir begonnen haben: bei den Farben des Regenbogens. Das ist ein passendes Bild, weil die Kirchenväter aus jedem Wort der Schrift eine Bedeutung herauslasen – auch aus den Farben. Ein Bild, das immer wieder genutzt wurde, um Sühne zu veranschaulichen, ist Rahabs „Schnur aus karmesinrotem Faden“ (vgl. Jos 2,18), die zu ihrer Errettung aus dem Fenster hing. Viele in der frühen Kirche sahen dies als Zeichen des Blutes Christi.

„Jesus nahm unsere Sünde auf sich, weil er heilig, schuldlos, gerecht, unbestechlich und unsterblich war, während wir gesetzlos, schuldig, ungerecht, bestechlich und sterblich sind.“
 

Um noch einmal Clemens zu zitieren:

„Und sie rieten ihr, ein Zeichen zu geben, dass sie zu ihrem Hause ein rotes (Seil) heraushängen solle; damit offenbarten sie, dass durch das Blut des Herrn Erlösung zuteil werden soll allen, die an Gott glauben und auf ihn hoffen.“ (1. Clem., 12,7)[4]

Für die Christen in der frühen Kirche, für die Reformatoren, für die modernen Evangelikalen – für alle, die jemals ihr Heil in Jesus Christus suchen werden: Unsere Hoffnung liegt in seinem Blut, das vergossen wurde, um den Zorn abzuwenden, den wir verdient haben.


1 Clemens von Rom, Erster Brief des Klemens an die Korinther, in: Bibliothek der Kirchenväter (BKV), 1. Reihe, Bd. 35, München 1918, online unter: https://bkv.unifr.ch/de/works/cpg-1001/versions/clem-1clem-bkv/divisions (Stand: 25.03.2024).

2 Gregor von Nyssa, Vita Macrinae, in: BKV, 1. Reihe, Bd. 56, Kempten/München 1927, online unter: https://bkv.unifr.ch/de/works/cpg-3166/versions/lebensbeschreibung-seiner-schwester-makrina-bkv/divisions/23 (Stand: 25.03.2024).

3 Brief an Diognet, in: BKV, 1. Reihe, Bd. 12, München 1913, online unter: https://bkv.unifr.ch/de/works/cpg-1112/versions/brief-an-diognet-bkv/divisions/10 (Stand: 25.03.2024).

4 1. Clem., in: BKV, https://bkv.unifr.ch/de/works/cpg-1001/versions/clem-1clem-bkv/divisions/13 (Stand: 25.03.24).