Herrsche!
Ein Plädoyer für eine biblisch-theologische Sicht auf Herrschaft
„Herrschen von Ewigkeit zu Ewigkeit“ – von wem ist hier in der Bibel die Rede? Fix im Internet nachgeschlagen finde ich heraus: von Menschen. Moment mal: Ist das nicht eine typische Aussage über Gott? Über Jesus? Wir erinnern uns vielleicht an die Aussage über Gott in Psalm 146,10: „Der HERR wird herrschen in Ewigkeit.“ Wir denken auch an die Aussage über Jesus in der Offenbarung: „Die Königreiche der Welt sind unserem Herrn und seinem Christus zuteilgeworden, und er wird herrschen von Ewigkeit zu Ewigkeit!“ (Offb 11,15). Wir denken an die Ältesten, die ihre Kronen vor Gott niederlegen, und an Jesus, vor dem sich jedes Knie beugen wird. Gott wird herrschen, Jesus wird herrschen, das leuchtet ein! Und selbstverständlich von Ewigkeit zu Ewigkeit, eine Herrschaft ohne Ende. Doch der Ausdruck der endlosen Herrschaft wird nicht nur Gott, dem Vater, und Gott, dem Sohn, zugesprochen, sondern auch dem Menschen. Und das sogar an einer prominenten Stelle.
Als Gott davon spricht, den Menschen in seinem Bilde zu erschaffen, verbindet er die Absicht der Schöpfung mit dem Zweck „sie sollen herrschen“ – und das über die gesamte Schöpfung. Psalm 8 bestätigt diesen Schöpfungszweck mit den Worten: „Du hast ihn [d.h. den Menschen, d.Verf.] zum Herrscher über die Werke deiner Hände gemacht; alles hast du unter seine Füße gelegt“ (Ps 8,7). Die spannende Stelle über die ewige Herrschaft finden wir dann ganz am Ende des Buches der Offenbarung. Nachdem das atemberaubende Panorama der Menschheitsgeschichte der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschrieben worden ist, endet das Buch mit der Beschreibung: „und sie werden herrschen von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Offb 22,5). Es ist ein grandioses Finale im Neuen Jerusalem und das Letzte, was über den Menschen gesagt wird. Danach kommt der Epilog des Buches und die schriftliche Offenbarung Gottes findet ihren Abschluss. Wir sehen das gesamte Menschsein in der Klammer der Herrschaft: Die Schöpfungsintention am Anfang der Zeit sowie die letzte Aussage über den Menschen am Anfang der Ewigkeit kennzeichnen ihn als Herrscher. Das Erste und Letzte, was wir über den Menschen lesen, hat einen Bezug zur Herrschaft.
Herrschaft als abschreckende Vorstellung
Diese Beobachtung sollte unsere Aufmerksamkeit und Neugier wecken. Ich kann mir allerdings kaum einen Kontext vorstellen, in dem die Vorstellung der Herrschaft von Menschen einen Begeisterungsschub auslösen würde. Eher das genaue Gegenteil ist der Fall. Wenn man schon kaum über „Macht“ sprechen kann, ohne gleichzeitig an den „Missbrauch“ zu denken, oder wenn die gedankliche Autokorrektur aus dem Begriff der „Autorität“ direkt „autoritär“ macht, so hat der Begriff „Herrschaft“ erst recht keine Chance auf eine positive Assoziation. Saul, Nebukadnezar, Nero, Ludwig XIV., Hitler, Stalin, Kim Jong-Un – die Liste der Menschen, die das „Herrschen“ mit dunkelstem Schrecken gefüllt haben, ist schier endlos. Hinzu kommen die Erfahrungen mit dem ein oder anderen Chef oder gar dem eigenen Vater, der seine Rolle nicht gut ausgefüllt hat. All das wollen wir nicht sein. Der Begriff des Herrschens ist verbrannt.
Das Leid der Herrschaft und ihres Vakuums
Als Christen können wir die Transformation des Herrschens vom Positiven ins Negative gut nachvollziehen. In das Bild Gottes geschaffen, kann die Herrschaft des Menschen nur göttlich sein, wenn er in der Gegenwart Gottes lebt. Der Sündenfall hat nicht nur den Menschen, sondern der gesamten Schöpfung, die ihm unterstellt ist, grausame Folgen beschert. Korruption, Mord, Ausbeutung und das Recht des Stärkeren führen weltweit über alle Zeiten hinweg zu unfassbarem Leid. Das verzerrte Ebenbild führt zu einer verzerrten Praxis der Herrschaft, die von Missbrauch und Gewalt gekennzeichnet ist.
Eine naheliegende Reaktion auf die negativen Auswüchse von Herrschaft liegt in der totalen Ablehnung jeder Form von Hierarchie und Autorität. Anarchisten verfolgen die Idee einer totalen Herrschaftslosigkeit und suchen das Heil in Strukturen, in denen auf die Ausübung von Autorität in Gänze verzichtet wird. Die Geschichte zeigt allerdings, dass diese Ansätze in der Praxis völlig versagen und in hemmungslose Gewalt abgleiten. Wo es kein Gesetz gibt bzw. niemand ein Gesetz durchsetzt, gilt das Gesetz des Stärkeren. Anarchismus steht heute mehr für Chaos und Willkür als für Freiheit und Gerechtigkeit.
Lord Actons Satz „Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut“ transportiert einen Lösungsansatz, der in der Begrenzung der Macht liegt. So soll beispielsweise das Rechtsstaatsprinzip die Macht der staatlichen Organe begrenzen und sicherstellen, dass jeder Akteur vor dem Gesetz gleich behandelt wird. Wie fragil dieses Prinzip in der Praxis ist, kann man in der jüngeren Geschichte gut nachvollziehen. Wenn sie umgesetzt werden, helfen diese Prinzipien zweifellos vor ungezügelter Macht, aber die ultimative Lösung liegt nicht in der Begrenzung der Macht, sondern in ihrer Erlösung.
Alternative Begriffe
Wie immer man die Schlagseiten auch bewerten will: Ausgeprägte Herrschaft hat keinen guten Ruf. Da niemand mehr „herrschen“ will, aber Führungsaufgaben trotzdem erledigt werden müssen, suchen wir nach Begriffen, die weniger belastet sind. Und so weichen wir lieber auf leiten, steuern, organisieren, managen oder – mein Lieblingswort! – koordinieren aus. Formal hat der autoritative Führungsstil zugunsten des kooperativen ausgedient. Der hierarchische Führungsstil hat wohl nur in Bereichen überlebt, wo es um Leben oder Tod geht, sei es bei der Feuerwehr oder der Bundeswehr. Trotzdem wird auch der ein oder andere Angestellte von Erfahrungen herrschaftlichen Gebarens seiner Vorgesetzten berichten, obwohl die Leitbilder eine positive Unternehmenskultur und ein respektvolles Miteinander propagieren.
Lust auf Herrschen?
Dabei haben wir tief in uns drin einen Drang zum Herrschen. Vielleicht klingt es weniger provokant, wenn wir dafür andere Begriffe nutzen. So ist der Drang meiner Frau, im Frühling mal wieder den Garten auf links zu drehen, nur eins der unzähligen Beispiele dafür. Wir sind mit dem Status quo nicht zufrieden, sondern drängen nach Veränderung, die wir steuern und anschieben. Von der Umgestaltung unserer unmittelbaren Wohnumgebung bis hin zu Plänen der Besiedlung des Mars – all das zeugt von unserer Lust zum Herrschen. Wir wollen formen, kultivieren, Rahmen schaffen, ordnen, Einfluss ausüben, Verantwortung übernehmen – und all das zeugt von der göttlichen DNA der Herrschaft im Menschsein. Westliche Vordenker, die es eher nicht mit der Bibel halten, kritisieren den in der Schöpfungsgeschichte verbrieften Herrschaftsanspruch des Menschen auf das Schärfste – aber sie tun genau das, was mit Herrschaft gemeint ist. Mit der Motivation, die Welt zu schützen, schaffen sie anhand gerade aktueller Werte einen Moralkodex mit Begrenzungen, Geboten, Verboten und Sanktionen. Unbeabsichtigt leben sie dabei genau das aus, was Gott dem Menschen aufgetragen hat. Aus ihrer Perspektive versuchen sie beispielsweise das Klima zu schützen, und üben dafür Macht aus. Losgelöst von Gott kommen sie auf so menschenverachtende Forderungen wie die, zugunsten des Klimas auf Kinder zu verzichten. Auch wenn man ihnen dabei keine geheiligte Herrschaft bescheinigen muss: Auf eine gewisse Art versuchen sie sich am Schöpfungsauftrag.
Jesus als der Prototyp der Herrschaft
Der Herrschaftsauftrag in Eden war mit dem Sündenfall nicht aufgehoben. Sowohl die Herrschaft über die Schöpfung als auch die Herrschaft in menschlichen Strukturen wurde kontinuierlich ausgebaut. Doch erst mit Jesus, der als Gott Mensch wurde, bekommt die Welt einen Herrscher zu sehen, wie Gott sich ihn gedacht hat. Jesus rügt die Herrschaft durch Gewalt und Unterdrückung und lehrt seine Jünger ein Vorbild der dienenden Herrschaft.
„Erst mit Jesus, der als Gott Mensch wurde, bekommt die Welt einen Herrscher zu sehen, wie Gott sich ihn gedacht hat.“
Er ist nicht der König, der die Untergebenen vor sich her in den Kampf ziehen lässt, sondern der König, der seine gesamten herrschaftlichen Vorteile aufgibt, um für sein Volk zu sterben. Als Bild seiner Herrschaft bleibt bei den Jüngern die Erfahrung beim letzten Abendmahl: Er dient ihnen, indem er ihnen die Füße wäscht. Seine Herrschaft besteht nicht nur in dem einen Moment auf Golgatha, sondern ist dienend zu seinen Lebzeiten. Gleichzeitig ist er keine Führungsperson, vor der die Jünger den Respekt verlieren. Immer noch haben sie eine derart große Scheu vor ihm, dass selbst Petrus es nicht wagt, eine direkte Frage über den Verräter an ihn zu richten, und Johannes vorschickt. Am Ende jedoch wird Jesu Herrschaft absolut sein: Jedes Knie wird sich vor ihm beugen. Niemand wird an Jesus als Herrscher vorbeikommen. Jesus beansprucht die totale Herrschaft – und lebt doch den hingebungsvollsten Dienst am Menschen.
Herrschaft annehmen und Herrschaft ausüben
Wir erkennen also die Klammer der Herrschaft als Schöpfungsintention Gottes für den Menschen: Er ist zur Herrschaft geschaffen und wird zum Herrschen geführt. Ursprünglich war Herrschaft nur positiv besetzt und beinhaltete das gütige, umsorgende und gestalterische Handeln, wie Gott selbst auch für die Schöpfung gütig herrschte. Erst der Sündenfall führte diese Fähigkeit in den Missbrauch mit unermesslichem Leid als Folge. Als vollkommener Mensch gibt Jesus der Herrschaft wieder die heilbringende Ausrichtung. In der Ewigkeit wird Herrschaft wieder völlig rein und von Sünde unbelastet in der Gegenwart Gottes ausgeübt werden. Aber es gilt schon hier den Gedanken der Herrschaft positiv zu füllen und auszuleben.
In der Theologie geht man von vier Mandaten aus, in die die Welt des Menschen aufgeteilt ist: Familie, Staat, Arbeit und Gemeinde. Jede von ihnen hat eine göttliche Legitimation und einen Bereich der Herrschaft. Auch wenn es gemeinsame Schnittmengen gibt, wird die Herrschaft in jedem Mandat abgegrenzt vom anderen ausgeübt. Die Regierung ist für den Staat zuständig, die Eltern für die Familie, der Unternehmer für den Betrieb und die Ältesten für die Gemeinde. Herrschaft positiv zu füllen bedeutet, die jeweilige Rolle zu erkennen, anzunehmen und im Sinne des Königs der Könige auszufüllen. Da wir noch in einer gefallenen Welt leben, wird es immer nötig sein, Begrenzungen einzuführen und Kontrolle zu implementieren. Den Herrschaftsauftrag umzusetzen bedeutet, die Verantwortung in der Politik und Gesellschaft, in Familien, Unternehmen und Gemeinden anzunehmen und die Möglichkeiten des Einflusses und der positiven Macht zum Wohl der Menschen aktiv zu nutzen. Wenn dies innerhalb des geoffenbarten Willens Gottes geschieht, dann dient das auch immer zum Lob seiner Herrlichkeit: Denn der in Gottes Sinne herrschende Mensch entspricht seiner Intention.
„Am Ende werden die Kronen wieder aufgesetzt und Menschen tun in der neuen Schöpfung das, was sie schon in der alten hätten tun sollen: vor Gottes Angesicht auf Gottes Art über sie zu herrschen.“
Grundsätzlich ist jedes Interesse für die Formung und Gestaltung innerhalb dieser Welt ein Echo der Herrschafts-DNA, die wir aufgrund der Schöpfungsabsicht Gottes in uns tragen. Bis Jesus wiederkommt und die sichtbare Königsherrschaft antritt, ist es nur natürlich, dass wir im Sinne des Schöpfer-Königs auf diese Welt und die Menschen einwirken und visionär-formend unser Umfeld gestalten: sei es in dem jeweiligen Mandat oder in der Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft, Technologie oder Ökologie. Selbstverständlich können wir kritisieren, wie andere es tun, aber wir sollten anerkennen, dass die Tatsache, dass sie es tun, der Schöpfungsansicht Gottes entspricht.
Herrschen von Ewigkeit zu Ewigkeit
„Und sie werden herrschen von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ Es ist erhebend und inspirierend, am Ende der Bibel diese Worte über den Menschen Gottes zu lesen. Das Ende der Menschheitsgeschichte besteht nicht darin, dass alle ihre Kronen vor dem Thron Gottes niederlegen und den Rest der Ewigkeit nichts anderes tun, als in Harfenbegleitung Lobgesänge anzustimmen. Nein, am Ende werden die Kronen wieder aufgesetzt und Menschen tun in der neuen Schöpfung das, was sie schon in der alten hätten tun sollen: vor Gottes Angesicht auf Gottes Art über sie zu herrschen, d.h. sie gestalten, sie verwalten, sie entwickeln, sie verändern, während sie sich in ihr für immer an Gott erfreuen.