40 Jahre nach Francis Schaeffer – was bleibt?
Vor 40 Jahren – am 15. Mai 1984 – starb Francis August Schaeffer im Alter von 72 Jahren an einem Krebsleiden. Der presbyterianische Theologe, Apologet und Kulturkritiker hinterließ eine lebendige Gemeinschaft in den Schweizer Alpen, schrieb über 20 Bücher, nahm Hunderte von Kassetten mit Tonmaterial auf und beeinflusste durch sein Leben und Werk buchstäblich Tausende von Menschen, die er zum Glauben führte und durch seine tiefen Einsichten in Gottes Wort und die westliche Kultur prägte.
Ich selbst bin einer der zu spät Geborenen und konnte Schaeffer nicht mehr persönlich kennenlernen. Doch durch seine Schriften und auch durch seine zahlreichen Schülerinnen und Schüler durfte ich einen Zugang zu seinem Leben und Werk bekommen. Heute soll eine Frage im Zentrum stehen: Was bleibt 40 Jahre nach Francis Schaeffers Tod? Was kann man im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts von L’Abri und den damaligen Mitarbeitern und Bewohnern lernen?
Viele der Vorhersagen, die Francis Schaeffer in seinem Leben traf, trafen nach seinem Tod ein. Sein letztes Buch, Die große Anpassung, das er kurz vor seinem Tod schrieb, ist aktuell wie nie zuvor. Dort beschreibt er die „Wasserscheide“. Eine Wasserscheide ist ein Ort, der Berggrat, an welchem das Regenwasser in zwei verschiedene Richtungen nach unten fließt. Je nachdem, wo genau die Tropfen landen, ist ihr Ziel ein ganz anderes. Solange eine Schneedecke darüber liegt, sieht das Ganze wie eine Einheit aus. Doch mit der Schneeschmelze fließt das Wasser in eine ganz andere Richtung. So eine Wasserscheide sah Schaeffer in der Theologie auch. Viele Gemeinden, die er kennenlernte, bezeichneten sich als bibeltreu, aber lebten das nicht aus. Sie gingen Kompromisse ein. Eins der Beispiele, die Schaeffer aufzählte, waren Scheidung und Wiederheirat.
„Zu jeder Form der Orthodoxie – des richtigen Glaubens – gehört zwangsläufig auch immer die Orthopraxie, also das richtige Handeln.“
Es kommt – und das ist ganz wichtig zu betonen – Francis Schaeffer nicht nur darauf an, das Richtige zu glauben und zu bekennen. Ebenso wichtig ist es auch, das Leben danach auszurichten. Zu jeder Form der Orthodoxie – des richtigen Glaubens – gehört zwangsläufig auch immer die Orthopraxie, also das richtige Handeln. Jesus Christus persönlich zu kennen und zu jeder Zeit in seiner Gegenwart zu leben, aus seiner Kraft heraus zu handeln, darauf kommt es an.
Francis Schaeffer und die Kultur
Wenn wir die Kulturkritik von Schaeffer näher beleuchten, gibt es eine Aussage, die im Zentrum steht: Gott schweigt nicht. Gott spricht. Gott spricht durch Worte, und diese sind verständlich. Hier war auf der einen Seite die klare Linie gegen den theologischen Liberalismus gerichtet: Gott spricht mit Worten, die nicht erst noch in ihr Gegenteil verkehrt werden müssen. Wie vor ihm John G. Machen sah auch Schaeffer klar, dass jeder Versuch, liberale Positionen in die Bibel hineinzulesen, immer zwangsläufig zu einer anderen, neuen Religion wird. Als die Lausanner Erklärung von 1974 verabschiedet wurde, warnte er vor einer Hintertür: Im Artikel zur Irrtumslosigkeit der Schrift heißt es: „[Das Wort Gottes] ist ohne Irrtum in allem, was es verkündigt …“[1]
Was hier geschieht ist, dass die Bibel in zwei Teile zertrennt wird, in Dinge, die die Schrift verkündigt, und in andere Dinge, die zwar darin stehen, aber nicht irrtumslos sind. Also Dinge, welche die Bibel nicht verkündigt, obwohl sie darin stehen. Wer jetzt die Grenze zieht und aufgrund welcher Kriterien, bleibt offen. Das hat in den vergangenen Jahrzehnten auch das individualistische Bibelverständnis enorm geprägt und gleichzeitig das Aufkommen zahlloser evangelikaler Päpste und (häufig digitaler) Formate geführt, welche ex cathedra bestimmte Teile der Bibel wegdiskutieren.
Auf der anderen Seite bedeutet für Schaeffer ein Gott, der nicht schweigt, aber auch die Verantwortung aller Menschen, mit diesem Gott in direkten Kontakt zu kommen. Es gibt keine kleinen, keine unbedeutenden Menschen. Jeder kann Gott hören – aber kann es auch verdrängen und verdrehen. Jeder, der auf Gott hört und und ihm glaubt, kann in Gottes große Geschichte mit dieser Welt hineinkommen und sie mitprägen. Gott spricht, aber das ist auch der Punkt, an welchem der Teufel unsere Kultur in besonderer Weise attackiert. Sprache wird zerlegt, völlig neu interpretiert, unverständlich gemacht, Menschen werden von der Unsicherheit eingeschüchtert, was sie wie noch verstehen dürfen, welche Bücher noch ohne Rotstift der politisch korrekten Inquisition gelesen werden dürfen.
Zwei Stockwerke des Lebens
In seinem Buch Preisgabe der Vernunft (engl. Titel Escape from Reason) beschreibt Francis Schaeffer ein Tool, welches hilft, die jeweilige Kultur zu beurteilen. Er verfolgt die Theologie- und Philosophiegeschichte über die Jahrhunderte und arbeitet heraus, wie immer mehr eine Zweiteilung des Lebens stattgefunden hat. Im tiefsten Kern findet diese Zweiteilung zwischen Natur und Gnade statt. Es ist wie ein Haus, welches aus zwei Stockwerken besteht. Im Erdgeschoß ist die Natur, und wenn man die Treppe hochgeht, kommt man in den Bereich der Gnade. Es wurde gefragt, was man alles über Gott und die Welt wissen kann, ohne auf die Offenbarung der Bibel schauen zu müssen. Mit der Zeit haben sich diese zwei Stockwerke immer mehr getrennt, so als ob sie zu zwei verschiedenen Wohnungen gehörten. Für Francis Schaeffer waren Wahrheit und Realität, die Realität Gottes und der Welt, immer eine untrennbare Einheit. Gene Edward Veith schreibt, dass Schaeffer in kurzer Zeit sehr viele verschiedene Themen und Fachgebiete streifen konnte. Von einem persönlichen Besuch auf Bermuda über ein Gedicht, ein paar Gedanken über Charles Darwin, einen Song der Rockgruppe The Doors, den Artikel eines Geschichtsprofessors, Franziskus von Assisi und den Zen Buddhismus.[2]
Wer sich heutzutage umsieht, findet viele Beispiele dafür, dass das Erdgeschoß vom Rest abgetrennt ist. Es werden Menschenrechte verkündet, welche nur auf einer christlichen Weltanschauung Wert und Fundament haben können. Diese Abtrennung hat eine Verwischung der Grenzen zur Folge: Wer legt fest, ab wann Menschenrechte gelten? Wer sagt, was lebenswertes Leben ist? Wie lange sollen Menschen am Leben (erhalten) bleiben, wenn sie durch Krankheit und Alter immer weniger leisten können und auf immer mehr Hilfe angewiesen sind? Die Kultur des Todes greift um sich und wird irgendwann die Menschenrechte zum Frühstück verspeisen, wenn sie nicht wieder auf das jüdisch-christliche Fundament der ganzen Bibel gestellt werden.
Von Krisen und Chancen
Ein besonders eindrücklicher Schlüsselmoment im Leben von Francis Schaeffer war sein Umgang mit einer Glaubenskrise. Es war um 1951/52 herum, als er merkte, wie wenig von Gottes Realität in der Christenheit übrig geblieben war. Wie sich alles nur noch um Rechthaberei oder liberale Theologie drehte. Die einen wollten die Wahrheit in den Mittelpunkt stellen und vergaßen dabei die Liebe zu den Menschen; die anderen hoben die Liebe hoch und machten dafür Kompromisse mit Gottes Wort. Francis Schaeffer wanderte längere Zeit immer wieder allein in die Berge oder ging auf dem Heuboden auf und ab. Er betete, rang mit Gott und sich selbst – und ging alle Gründe noch einmal neu durch, weshalb er damals Christ geworden war.
„Ungelöste Zweifel führen zu einem unangenehmen inneren Grundgefühl, welches über längere Dauer zu einer Abneigung gegen den Glauben wird.“
Dieser Umgang mit Glaubenskrisen sollte für unsere Zeit zum Vorbild werden. Weniger Ablenkung, mehr Ringen, mehr Fragen, mehr den Zweifeln nachgehen. Ungelöste Zweifel führen zu einem unangenehmen inneren Grundgefühl, welches über längere Dauer zu einer Abneigung gegen den Glauben wird. Als Verantwortliche in Gemeinden und Jugendarbeit ist es entscheidend, dass wir Zweifel nicht verteufeln, sondern als ganz normalen Teil des Menschseins verstehen und den Betroffenen helfen, der Wahrheit Gottes auf den Grund zu gehen. Leider werden solche Zweifel in unserer Zeit viel zu schnell abgetan oder verdrängt, unter den Teppich gekehrt, wo sie weiter gären und wachsen. Für die damalige Nachkriegsgeneration wurde L’Abri zu einer Auffangstation, einer Zuflucht für Menschen mit solchen Krisen. Ihnen wurde geholfen, alle Grundlagen des Lebens neu zu durchdenken. Durch die geradezu pandemische Ausbreitung dieser Zweifel wäre es nötig, dass an jedem Ort ein solches L’Abri entstünde.
Ein „L’Abri“ für jeden Ort
Nancy Pearcey, ihrerseits eine Schülerin von Edith und Francis Schaeffer, schreibt in ihrem Buch Die ganze Wahrheit (engl. Titel Total Truth):
„Wir müssen sicherstellen, dass unsere Kinder ihr Elternhaus mit der tief eingeprägten Überzeugung verlassen, dass das Christentum sich durchaus behaupten kann, wenn es auf dem Markt der Ideen herausgefordert wird. Es genügt nicht, jungen Leuten zu zeigen, wie man persönliche „Stille Zeit“ macht, Bibelverse auswendig lernt und sich christlichen Campusgruppen anschließt. Wir müssen sie ausrüsten, damit sie auf die intellektuellen Herausforderungen reagieren können, denen sie im Hörsaal begegnen werden. Bevor sie das Haus verlassen, sollten sie mit den „Ismen“ wohlvertraut sein, die ihnen begegnen werden, vom Marxismus, über den Darwinismus bis hin zum Postmodernismus. Es ist für junge Gläubige am besten, sie hören von diesen Ideen zuerst von Eltern, Pastoren und Jugendleitern, denen sie vertrauen, und die ihnen Strategien beibringen, wie man konkurrierende Ideologien analysiert.“[3]
Buchempfehlungen
Die Bücher von Francis und Edith Schaeffer sowie zahlreicher ihrer Schüler bieten dafür eine gute Grundlage. Deshalb möchte ich den Artikel mit ein paar Vorschlägen zum Weiterlesen beenden:
Schaeffer, Edith, L’Abri, Das Haus der Bibel Verlag, 2021: Edith Schaeffer erzählt den Weg nach, den sie als Familie gegangen sind, um von Gott in dieser Weise gebraucht zu werden.
Schaeffer, Francis, die sogenannte Trilogy (in einem Band leider nur auf Englisch und antiquarisch zu finden):
- Gott ist keine Illusion, Das Haus der Bibel Verlag, 2011
- Preisgabe der Vernunft, Das Haus der Bibel Verlag, 2011
- Und er schweigt nicht, R. Brockhaus Verlag Wuppertal, 1991, nur antiquarisch
In den drei Büchern, die gemeinsam diese Trilogie genannt werden, weist Francis Schaeffer nach, wie die Geschichte des Abendlandes eine bestimmte Richtung aufweist, und wie man dem begegnen kann. Auf viele Fragen der Menschheit gibt es nur von der Bibel her gute Antworten.
Guinness, Os, Berufung, Heroldverlag, 2023: Dieses Buch ist inzwischen auch schon so etwas wie ein Klassiker geworden, es geht um die Frage: Was ist die Identität des Menschen, was hat Gott damit zu tun? Os Guinness war schon früh ein Schüler der Schaeffers und von L’Abri.
Pearcey, Nancy, Die ganze Wahrheit, Betanien Verlag, 2024: Ausgehend von Francis Schaeffers Verständnis von Weltanschauung geht seine Schülerin Nancy Pearcey in die Offensive und zeigt praktisch, wie man aus Gesprächen und Diskussionen eine Weltanschauung erkennen, analysieren und beurteilen kann.
Koukl, Greg, Tactics, Zondervan, 2019: Greg Koukl hat viel von den Schaeffers gelernt und greift auf viele Konzepte und Taktiken im Gespräch zurück. Leider gibt es bis dato noch keine deutsche Ausgabe.
1 Francis A. Schaeffer, Die große Anpassung, 3. Aufl., Bielefeld: CLV, 2008, S. 67.
2Gene Edward Veith, „The Fragmentation and Integration of Truth“, in: Dennis T. Lane (Hrsg.), Francis A. Schaeffer – Portraits of the Man and his Work, Crossway Books, Westchester, Illinois, 1986, S. 36.
3Nancy Pearcey, Die ganze Wahrheit: Das Christentum aus der weltanschaulichen Gefangenschaft befreien, Betanien Verlag, 2024, S. 196.