Das Grundproblem des Evangelikalismus
Der Evangelikalismus befindet sich heute zweifellos in einem Zustand der Verwirrung und der Verunsicherung. In Fragen wie der Praxis des Evangelisierens, der Unterweisung in der Heiligung, der Seelsorge und der Ausübung von Gemeindezucht gibt es Anzeichen für eine weitverbreitete Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Zustand und eine ebenso weitverbreitete Ungewissheit, was den Weg in die Zukunft betrifft. Dies ist ein komplexes Problem, zu dem viele Faktoren beigetragen haben; wenn wir jedoch zu seinen Wurzeln zurückgehen, werden wir sehen, dass diese Verunsicherungen nur daraus entstehen, dass wir das biblische Evangelium aus dem Blick verloren haben.
Ein untauglicher Ersatz
Ohne es zu merken, haben wir dieses Evangelium während des letzten Jahrhunderts für ein Ersatzprodukt eingetauscht. Obwohl es in Einzelheiten sehr ähnlich aussehen mag, ist es in seiner Gesamtheit etwas völlig anderes. Daher stammen unsere Probleme, denn das Ersatzprodukt ist untauglich hinsichtlich der Ziele, für die sich das echte Evangelium in vergangenen Zeiten als so mächtig erwiesen hat. Das neue Evangelium versäumt es auf bemerkenswerte Weise, tiefe Ehrfurcht und Reue, echte Demut, einen Geist der Anbetung und herzliche Anteilnahme am Wohl der Gemeinde hervorzubringen. Und warum? Ich behaupte, die Ursache hierfür liegt in seinem eigentlichen Wesen und Inhalt. Es kann die Menschen nicht dazu bringen, dass sie Gott im Mittelpunkt ihres Denkens und die Furcht Gottes in ihren Herzen haben. Das ist auch gar nicht sein eigentliches Anliegen. Man kann sagen, es unterscheidet sich von dem alten Evangelium dadurch, dass es ausschließlich darum bemüht ist, dem Menschen „dienlich“ zu sein – ihm Frieden, Trost, Freude und Erfüllung zu bringen – und zu wenig daran interessiert ist, Gott zu verherrlichen.
„Das Thema des alten Evangeliums war Gott und seine Wege mit den Menschen; das Thema des neuen ist der Mensch und die Hilfe, die Gott ihm gibt. Das ist ein großer Unterschied.“
Das alte Evangelium war auch dem Menschen „dienlich“ – ja, mehr noch als das neue –, doch sozusagen eher beiläufig, denn sein primäres Anliegen war es, Gott Ehre zu bringen. Es war immer und wesentlich eine Verkündigung göttlicher Souveränität – in der Barmherzigkeit und im Gericht; ein Aufruf, sich zu beugen und den mächtigen Herrn anzubeten, von dem der Mensch in allen Dingen abhängig ist, sei es in der natürlichen Versorgung oder in der Gnade. Sein eindeutiger Bezugspunkt war Gott. Aber in dem neuen Evangelium ist der Bezugspunkt der Mensch. Das alte Evangelium war auf eine Weise religiös, wie es das neue Evangelium nicht ist. Während es das Hauptziel des alten war, die Menschen Gottes Wege zu lehren, so scheint das Anliegen des neuen darauf beschränkt zu sein, ihr Wohlbefinden zu fördern. Das Thema des alten Evangeliums war Gott und seine Wege mit den Menschen; das Thema des neuen ist der Mensch und die Hilfe, die Gott ihm gibt. Das ist ein großer Unterschied.
Verschiebung der Inhalte
Ausblick und Schwerpunkt der Evangeliumspredigt haben sich grundlegend gewandelt. Aus dieser Wandlung in der Zielsetzung ist eine Wandlung im Inhalt erwachsen, denn das neue Evangelium hat die biblische Botschaft effektiv im vermeintlichen Interesse der „Dienlichkeit“ umformuliert. Dementsprechend wird heute nicht mehr gepredigt, dass der Mensch von Natur aus zum Glauben unfähig ist, dass Gottes bedingungslose Erwählung die letzte Ursache des Heils ist, und dass Christus für seine Schafe starb. Diese Lehren – so würde man sagen – sind nicht „dienlich“, sie würden Sünder zur Verzweiflung treiben, weil sie ihnen nahelegen, dass es nicht in ihrer Macht liegt, sich durch Christus retten zu lassen (die Möglichkeit, dass solche Verzweiflung heilsam sein könnte, wird nicht bedacht; man hält es für ausgeschlossen, weil unsere Selbstachtung dadurch so grundlegend zerschmettert wird).
„Ein Teil des biblischen Evangeliums wird heute so gepredigt, als sei es das ganze Evangelium; und eine Halbwahrheit, die sich als ganze Wahrheit ausgibt, wird zur ganzen Unwahrheit.“
Wie dem auch sei, das Ergebnis dieser Unterschlagungen ist, dass ein Teil des biblischen Evangeliums heute so gepredigt wird, als sei es das ganze Evangelium; und eine Halbwahrheit, die sich als ganze Wahrheit ausgibt, wird zur ganzen Unwahrheit. So appellieren wir an die Menschen, als hätten alle die Fähigkeit, Christus zu jeder Zeit anzunehmen. Wir reden von seinem Erlösungswerk so, als hätte er durch sein Sterben nichts weiter erreicht, als es uns zu ermöglichen, uns durch Glauben selbst zu retten. Wir reden von Gottes Liebe, als wäre sie nicht mehr als eine allgemeine Bereitschaft, jeden zu retten, der umkehrt und glaubt. Und wir beschreiben den Vater und den Sohn nicht als souverän Handelnde, die Sünder zu sich ziehen, sondern als solche, die in stiller Ohnmacht „an der Tür unseres Herzens“ warten, dass wir ihnen Einlass gewähren. Unbestreitbar ist es das, was wir predigen – vielleicht ist es auch das, was wir wirklich glauben. Aber es muss mit Nachdruck gesagt werden, dass diese Sammlung verdrehter Halbwahrheiten etwas anderes ist als das biblische Evangelium. Wir haben die Bibel gegen uns, wenn wir so predigen. Die Tatsache, dass solche Art der Predigt beinahe zum Standard unter uns geworden ist, zeigt nur, wie nötig es ist, dass wir die Angelegenheit überdenken. Das alte, authentische, biblische Evangelium wieder aufzurichten und unsere Predigt und Praxis damit in Einklang zu bringen, ist gegenwärtig vielleicht die dringlichste Aufgabe.
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Dieser Auszug stammt aus Das alte Evangelium neu entdecken von J.I. Packer (S. 8–10). Das Booklet kann hier bestellt oder heruntergeladen werden.