Tief verwurzelt glauben

Rezension von Daniel Facius
13. Juni 2024 — 11 Min Lesedauer

Gerrit Hohage, Pfarrer aus Gundelfingen, möchte in seinem Buch Tief verwurzelt glauben untersuchen, wie reifer Glaube entsteht. In einem ersten Teil untersucht er die denkerischen Voraussetzungen der Postmoderne, nach der Wahrheitsansprüche nur noch Machtansprüche sind. Er begibt sich in dieser orientierungslosen Umgebung auf die Suche nach einem Bezugspunkt, von dem aus man denkerisch beginnen kann. Mit autobiographischen Komponenten schildert er die zentrale Rolle der Gottesbegegnung. Das entsprechende Geschehen ist für Hohage nicht plausibel damit beschrieben, dass Menschen sich ihre Gottesbilder machen, vielmehr gehen diese Begegnungen von Gott selbst aus. Der Mensch antwortet mit Glauben, wobei dieser sowohl auf Sachinhalte als auch auf die gelebte Beziehung gerichtet ist. Der natürlichen Offenbarung scheint der Autor skeptisch gegenüberzustehen: Gottes Wahrheit sei „nur relational“ zugänglich (S. 54). Er plädiert für eine an das Wort der Bibel gebundene Mystik, sodass Denken, Fühlen und Wollen im Gleichgewicht sind. Bezüglich der (eigentlich eher modernen als postmodernen) Wissenschaftsgläubigkeit wird herausgearbeitet, dass der methodische Atheismus auf Axiomen beruht, die selbst nicht nachweisbar sind. Zu den „erstaunlichsten und problematischsten Erscheinungen der Moderne“ gehört für den Autor, dass auch in der Theologie atheistische Prämissen in großem Stil übernommen worden sind (S. 87).

„Jesus, die Wahrheit, ist ohne die Wahrheit der Bibel nicht zu haben.“
 

Dem setzt Hohage das lebendige Wort Gottes, Jesus, entgegen. Erfreulich, dass er sich gegen die unsinnige Trennung von „Jesustreue“ und „Bibeltreue“ wendet: „Der Gedanke, dass Jesus die Wahrheit ist, setzt also voraus, dass auch die Bibel, die uns von diesem Satz Jesu in Kenntnis setzt, verlässlich und deshalb wahr ist. … Jesus, die Wahrheit, ist ohne die Wahrheit der Bibel nicht zu haben. An Jesus zu glauben, setzt voraus, dass wir der Bibel glauben“ (S. 114). Gleichwohl möchte er nicht die Bibel in ontologischem Sinn als primum principium verstehen (entgegen der lutherischen Orthodoxie), sondern den Schriftgebrauch, „durch den wir die Welt neu und anders verstehen“ (S. 118). Nun mag es sein, dass sich das Schriftprinzip auf den Schriftgebrauch bezieht, Gott offenbart sich aber in der Schrift nicht nur, „wenn wir sie gebrauchen“ (S. 118). Auch verworfen und hinterfragt, kritisiert und ungetan bleibt die Schrift Gottes Offenbarung – und damit der bessere Ansatzpunkt für das primum principium. Ob wir dieses Prinzip tatsächlich anerkennen, zeigt sich dann daran, ob wir die Schrift „gebrauchen“.

Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit Glaubenskrisen und Anfechtungen. In einer Typologie werden Anfechtungen nach ihrem Ursprung (Menschsein, andere, der Versucher und Gott), ihrem Ziel (Denken, Fühlen, Wollen) und ihrem Bezugsfeld (Beziehung zu Gott, zur Gemeinde, Gottes Beziehung zu uns) kategorisiert. Das ergibt aus einem seelsorgerlichen Blickwinkel Sinn, weil die Anfechtungsarten jeweils andere Herangehensweisen erfordern. Für den Gedankengang des Buchs wäre diese Passage aus Sicht des Rezensenten nicht nötig gewesen. Denn die prinzipiell biblische Herangehensweise, um die es entscheidend geht, bleibt die Annahme der Anfechtung, eine Intensivierung, ein Beharren auf dem Festhalten an Gottes Verheißungen, ein Ringen mit dem verborgenen Gott.

Dem stellt Hohage am Beispiel Jerobeams einen dysfunktionalen Umgang mit Anfechtung gegenüber, den Dreischritt aus Distanzierung, Subtraktion  und Substitution. Zu Recht bemerkt er, dass daran auch jede menschliche Beziehung zerbräche. Die so gewonnenen Erkenntnisse werden dann auf das Phänomen der „Dekonstruktion“ des Glaubens angewendet, die eben oft dysfunktional abläuft. Glaubensfragen werden „gelöst“, indem man sie als irrelevant behandelt, indem man Glaubensaussagen abschafft und die entstandenen Lücken durch Ideen füllt, die der persönlichen Neigung entsprechen. „Dann dient ein neues Verständnis des Glaubens dazu, den Umstand vor sich selbst und vor anderen zu kaschieren oder zu legitimieren, dass man Gottes Weisung ganz einfach nicht folgen will“ (S. 185). Der biblische Weg ermöglicht es dagegen, Gott in der Anfechtung tiefer kennenzulernen. Hier finden sich viele gelungene Passagen.

Im dritten Teil des Buches wird der Einfluss des „Historischen“ untersucht, das der Autor als „eine Hauptquelle von Anfechtung für die Christenheit“ sieht (S. 193). Einer fideistischen Sichtweise erteilt er eine Absage: „,Hoffnung‘ ohne Grund einer Hoffnung, ,Vertrauen‘ ohne etwas, dem ich vertrauen kann, ‚Liebe‘ ohne Liebeserweis, das alles sind Worthülsen zum Wohlfühlen“ – aber weder plausibel, noch überzeugend“ (S. 195). Die Annäherung an den Begriff des „Historischen“ gerät dann aber unnötig kompliziert. Ist wirklich nur „historisch“, was „sprachlich multiplikatorisch weitergegeben“ wird? Existiert das eigentlich Historische wirklich nur „in der Vorstellungswelt des Menschen“ (S. 199)? Gab es vor dem 18. Jahrhundert wirklich keine Vorstellung von „der Geschichte“ (S. 200)? Könnte Rankes Definition von „historisch“ als „das, was wirklich gewesen ist“, nicht auch von Herodot geteilt werden?

Wertvoll wird dann allerdings herausgearbeitet, dass die „historisch-kritische“ Beschäftigung mit der Bibel nicht ohne Axiome abläuft, die „sämtlich Glaubenssätze“ (S. 206) darstellen. Die Methode greift dabei auf Analogie und Korrelation zurück und damit letztlich auf das, was dem jeweiligen Forscher als plausibel erscheint. So nimmt es nicht wunder, dass die Ergebnisse der Leben-Jesu-Forschung „immer dem Idealtypus ihrer Forscher entsprachen“ (S. 204). Wenn Theologen also „historisch“ sagen, handelt es sich dabei nicht um eine feststehende Eigenschaft, sondern um einen „Frame“ (S. 209), den man über die biblische Überlieferung legt. Nur das wird dann als „historisch“ angesehen, was sich innerhalb dieses Rahmens befindet. Das Urteil „unhistorisch“ sagt damit im Ergebnis wenig darüber aus, was tatsächlich, was real stattgefunden hat, sondern nur darüber, was sich innerhalb des vorab konstruierten Rahmens darstellen lässt. Die „historische Apologetik“ hält Hohage zwar durchaus für hilfreich, er formuliert jedoch drei Einwände (S. 215): Erstens sei eine solche Argumentation nur möglich, wenn man das gleiche Wahrheitsverständnis teile, zweitens versuche man so mittels einer Wissenschaft, die Gott methodisch ausklammert, Belege für den Glauben zu erhalten, der Zweifel beseitigt und drittens bestätige man so die Gleichung „Nur was historisch ist, ist wirklich und wahr“.

Der Autor möchte stattdessen einen offenen Geschichtsbegriff etablieren, sodass Ereignisse der biblischen Geschichte auch dann als „wirkliche Geschehnisse" wahrgenommen werden können, wenn sie „im Rahmen des Historischen nicht dargestellt werden können“. Statt von „historischen“ soll dann von „realen“ oder „wirklichen Ereignissen in der Geschichte“ gesprochen werden (S. 229). Das erscheint unnötig defensiv. Die Gleichsetzung des „Historischen“ mit dem von Hohage korrekt identifizierten Frame wird so einfach akzeptiert. Wäre es nicht sinnvoller, den Begriff von seinem Frame zu lösen und die Verkürzung (und es handelt sich dabei sowohl geschichtlich als auch inhaltlich in der Tat um eine solche) des „Historischen“, wie sie uns in der liberalen Theologie begegnet, zurückzuweisen? Wäre es nicht besser, darauf hinzuwirken, dass Wissenschaft ergebnisoffen nach der besten Erklärung sucht, statt sich durch atheistische Definitionen, Axiome und Begriffsbildungen vereinnahmen zu lassen?

Die Frage „An welchen Gott können und wollen wir glauben?“ bietet dann den Anlass, um die Dekonstruktion auch am Thema Gottesbild durchzudeklinieren. Wenn wir „an Gott glauben“, meinen wir dann den realen Gott oder unser Gottesbild? Der Autor weist zu Recht darauf hin, dass „mein Gottesbild“ (eben weil es das meine ist) an mir hängt und mit mir stirbt und niemandem helfen kann: „Ein solches Mas-Gott-chen braucht niemand wirklich“ (S. 234). Es wird aufgezeigt, dass die Tatsache, dass wir von Gott in Bildern und Metaphern reden, nicht bedeutet, dass diese Bilder beliebig austauschbar wären oder wir nichts Sinnvolles über Gott aussagen können. Die göttliche Inspiration der Schrift soll dabei mit der Inkarnation Christi zusammengedacht werden. Wo die Formulierung „Gotteswort im Menschenwort“ uneindeutig bleibt, plädiert Hohage für die Definition der Bibel als „Gottes Wort in, mit und unter ihren menschlichen Worten, unvermischt und ungetrennt“ (S. 242). Gleiches gilt für Jesus, der sich eben nicht in einen „historischen Jesus“ und einen „Christus des Glaubens“ trennen lässt. Auch dieser Versuch wird zu Recht als dysfunktional bezeichnet.

Wenig überzeugend ist es vor diesem Hintergrund, die Bedeutung der Schrift wieder in den (und sei es nur zeitlichen) Hintergrund zu rücken: „Nicht was wir über die Schrift denken ist wichtig, sondern dass wir sie so lesen, dass wir Gottes Stimme in ihr hören“ (S. 250). Die Unterscheidung scheint im Hinblick auf die vorhergehenden Darlegungen kaum nachvollziehbar, denn ob wir die Schrift so lesen, dass wir Gottes Stimme in ihr hören, hängt eben ganz entscheidend davon ab, was wir von ihr denken. Wieso das keine „Voraussetzung“, sondern lediglich ein „Nach-Denken“ sein soll, erschließt sich nicht. Hohage selbst hat dargestellt, wie etwa ein „historischer“ Zugang mit entsprechendem Frame dazu führt, dass Gottes Stimme a priori ausgeblendet wird. Es erscheint offensichtlich, dass das, „was wir von der Schrift denken“, ganz maßgeblich beeinflusst, wessen Stimme wir in ihr hören. Das Denken geht dem Gebrauch sowohl zeitlich als auch logisch voraus, denn es ist nicht möglich, in der Schrift etwas zu hören, ohne zuvor etwas von ihr zu denken. Dass das Hören der Schrift wiederum geeignet sein kann, das Denken über sie zu beeinflussen und damit gleichsam a posteriori einem neuen Denken den Weg zu ebnen, ist natürlich auch richtig. Auch in diesem Fall ist es aber nicht unwichtig, was wir über die Schrift denken.

Sodann nähert sich der Autor dem tatsächlichen biblischen Gott und seinen „schockierenden“ Seiten, insbesondere dem „Zorn Gottes“. Dass ein „zorniger Gott für die antike griechische Welt“ undenkbar gewesen sein soll“ (S. 253), dürfte aber allenfalls für Philosophenkreise zutreffen. Im griechischen Götterhimmel mangelte es kaum an emotionalen Kandidaten. Hohage sieht den Zorn Gottes als „Kehrseite der genauso leidenschaftlichen Liebe Gottes“, die nicht mit dem heute verbreiteten Verständnis einer „Liebe, die alles gelten lässt“ gleichgesetzt werden kann (S. 254). Zu Recht sieht er darin einen „Übergriff in Gottes Identität“. Scharfsichtig bemerkt er, dass ein Gebot, das die Gerechtigkeit konkretisiert, sich nur dadurch von einer Empfehlung unterscheidet, „dass seine Übertretung etwas auslöst“ (S. 256). Vom Zorn Gottes her nähert er sich dann dem Kreuz Jesu.

„Eine Gesellschaft, die die stellvertretende Sühne des Kreuzes nicht mehr kennt, wird gnadenlos und von Angst geprägt.“
 

Auch insoweit wird die Dekonstruktion überkommener Interpretationen als dysfunktional entlarvt. Wenn die Bedeutung des Kreuzes, wie sie Luther in seiner Rechtfertigungslehre ausformulierte (Jesus trägt am Kreuz die Sünde der Welt, er nimmt die Menschheitsstrafe auf sich, um den Gläubigen seine Gerechtigkeit zuzueignen), negiert wird, lässt die Theologie die Menschen mit der Last ihrer Sünde allein. Das wird zu Recht als „dramatisch“ bezeichnet (S. 277), auch in der Folge: „Eine Gesellschaft, die die stellvertretende Sühne des Kreuzes nicht mehr kennt, wird gnadenlos und von Angst geprägt“ (S. 279). Als einfach richtige Interpretation des biblischen Befundes will Hohage die Rechtfertigungslehre aber nicht stehen lassen. Sie ist ihm vielmehr „der Goldstandard, an dessen Anschaulichkeit und biblischem Erschließungspotential sich jeder andere Entwurf messen lassen muss“ (S. 282).

Zuletzt widmet sich das Buch der Kirche und ihrer Apostolizität, die nur auf strukturellem Weg sichergestellt werden kann. Hohage diagnostiziert zu Recht ein ekklesiologisches Problem, das entsteht, „sobald die Bibel von den Axiomen des ‚historischen Denkens‘ aus gelesen und auseinandergenommen wurde“ (S. 298). Damit bestätigt er selbst, dass eben das Denken über die Bibel a priori deren Lesen beeinträchtigt. Wer sich nach eigenen Vorstellungen und Idealen ein Jesusbild zusammenstrickt, indem er aus dem Menschenwort mittels selbst gebastelter Kriterien das vermeintliche Gotteswort heraussucht, gefährdet die Apostolizität der Kirche. Wie „unter den Bedingungen der Postmoderne“ (S. 302) ein neuer Konsens gefunden werden kann, darauf hat der Autor „keine schnelle, einfache Antwort“ und meint, ganz postmodern, die Frage selbst sei womöglich wichtiger.

Darin zeigt sich gut das Dilemma des Buches. Es möchte „unter den Bedingungen der Postmoderne“ arbeiten, statt diese Bedingungen ganz grundsätzlich zu hinterfragen. Funktioniert die postmoderne Wirklichkeitskonstruktion nur „nicht überall“ (S. 73) – oder eher nirgendwo? Viele Beobachtungen Hohages sind zutreffend und richtig, aber hin und wieder werden postmoderne Prämissen akzeptiert, die womöglich Teil des Problems sind. So bleibt am Ende der Eindruck, dass der Autor zwar dem Problem auf der Spur, aber noch nicht tief genug zu seiner Wurzel vorgedrungen ist. Gleichwohl ist Tief verwurzelt glauben ein lesenswerter Beitrag zu einer wichtigen Debatte.

Buch

Gerrit Hohage, Tief verwurzelt glauben. Wie man heute christlich denken kann, Holzgerlingen: Brockhaus 2024, 351 Seiten, Hardcover, 50 Euro.