Die Schönheit der Ehe

Das Hohelied

Artikel von Miles Van Pelt
12. Juni 2024 — 5 Min Lesedauer

Das Hohelied gehört wie auch das Buch Prediger und die Sprüche zu der poetischen Weisheitsliteratur aus der Feder Salomos (vgl. Hld 1,1). Die Grammatik des Liedtitels auf Hebräisch („Lied der Lieder“) ist superlativisch und bedeutet „das beste Lied“, so wie „König der Könige“ oder „Herr der Herren“. Diese Bezeichnung im Superlativ ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass Salomo 1.005 Lieder schrieb (vgl. 1Kön 4,32). Offenbar handelt es sich um das beste Lied der Sammlung, aber die Kirche hat sich aufgrund des intimen und sogar sexuellen Inhalts schwergetan, die Botschaft des Liedes in ihrer Gänze zu erfassen. Folgende drei Dinge solltest du über das Hohelied wissen:

1. Der Schlüssel zum Verständnis des Hohelieds kommt am Ende

Dieses Merkmal findet sich auch in anderer Weisheitsliteratur im Alten Testament. Zum Beispiel stellt der Autor am Ende vom Buch Prediger abschließend alles, was vorausging, in seine richtige Perspektive: „Lasst uns die Summe aller Lehre hören: Fürchte Gott und halte seine Gebote; denn das macht den ganzen Menschen aus“ (vgl. Pred 12,13). In ähnlicher Weise sind wir, wenn wir das letzte Kapitel von Hiob lesen, in der Lage, den Grund für alles Geschehene zu verstehen. Die gleiche Methode gilt für das Hohelied.

Die wichtigste Lektion des Liedes befindet sich in Hoheslied 8,6–10. Zusammenfassend lehrt uns das Hohelied, dass der Bund der Ehe sowohl Verpflichtung (vgl. Hld 8,6a) als auch Intimität (vgl. Hld 8,6b) beinhalten sollte. Eine Ehe, die sich dem Erhalt beider Aspekte verschrieben hat, wird Schwierigkeiten besser ertragen (vgl. Hld 8,7a), der Versuchung widerstehen (vgl. Hld 8,7b) und im Kontext dieser Beziehung ganzheitliches Gelingen (hebr. shalom) fördern (vgl. Hld 8,10). Die Welt liebt den Part der Intimität, lehnt aber oft die Verbindlichkeit ab. Auf der anderen Seite bejaht die Kirche zwar nachdrücklich eine lebenslange, felsenfeste Bindung, aber sie hat wenig getan, um die Schönheit sexueller Intimität im Kontext einer Ehe nach 1. Mose 2 zu fördern. Wir sind dazu aufgerufen, beides zu fördern.

2. Das Hohelied beschreibt sowohl die Ehe als auch die Beziehung Gottes zu seinem Volk

Im Hohelied Salomos geht es nicht nur um die Verpflichtung und Intimität im Kontext einer Ehe; das Buch beschreibt auch die Art von Beziehung, die Gott zu seinem Volk haben möchte. Es ist jedoch keine phantasievolle Allegorie, die die Beziehung zwischen Gott und Israel oder Jesus und der Kirche beschreibt. Es ist eindeutig ein Weisheitslied über Bindung und Intimität im Kontext der Ehe. Aber die Schrift lehrt, dass der Ehebund von 1. Mose 2 dazu bestimmt war, über sich selbst hinaus auf die eschatologische Ehe von Offenbarung 19–22 hinzuweisen.

„Der Bund der Ehe sollte uns an die Hoffnung erinnern, die am Ende auf uns wartet.“
 

Davon spricht Paulus am Ende von Epheser 5, wenn er 1. Mose 2 zitiert: „‚Deshalb wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhängen, und die zwei werden ein Fleisch sein.‘ Dieses Geheimnis ist groß; ich aber deute es auf Christus und auf die Gemeinde“ (Eph 5,31–32). All das Gute, das Gott in der Ehe geschaffen hat, wird im neuen Himmel und auf der neuen Erde noch verstärkt und vervollkommnet werden. Außerdem werden alle durch die Sünde verursachten Sorgen und Verluste in der Ehe beseitigt werden. Die Ehe ist ein wichtiges Thema in der Bibel. Wir können sogar sagen, dass es die Bibel umrahmt. Der Bund der Ehe sollte uns daher an die Hoffnung erinnern, die am Ende auf uns wartet.

3. Das Hohelied ist reich an bildlicher Sprache

In der Poesie ist der künstlerische Gebrauch der Sprache stärker ausgeprägt als in Erzähltexten oder Prosa. Bildliche Ausdrücke in einer anderen Sprache und aus einer alten Kultur entsprechen möglicherweise nicht genau unserem eigenen kulturellen und sprachlichen Kontext. Zum Beispiel würde ich meiner Frau kein Kompliment machen, indem ich sage: „Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen“ (vgl. Hld 4,1) oder „Deine Wangen sind wie die Hälfte eines Granatapfels“ (vgl. Hld 4,3). In Hohelied 4,2 lesen wir: „Deine Zähne gleichen einer Herde frisch geschorener Schafe, die von der Schwemme kommen, die allesamt Zwillinge tragen, und von denen keines unfruchtbar ist.“ Ich war weder schon mal Zeuge eines solchen Ereignisses noch habe ich viel Erfahrung mit Schafen, sodass es etwas Mühe kostet zu verstehen, dass die hier beschriebene Frau weiße Zähne hat und keiner von ihnen fehlt. Beachte die Sprache in Hohelied 4,11, wo die Frau als begehrenswert beschrieben wird. Dort heißt es: „Honigseim träufeln deine Lippen, [meine] Braut, Honig und Milch sind unter deiner Zunge, und der Duft deiner Kleider ist wie der Duft des Libanon!“ Nektar, Honig, Milch und der Duft des Libanon entsprechen nicht unseren modernen Beschreibungen von Begehren, aber wir können diese antiken Ausdrucksformen verstehen, wenn wir sie mit Dingen aus unserem Kontext vergleichen, z.B. Rotwein, Parfüm oder Rosenblättern.

Das Hohelied verwendet auch Metaphern, z.B.: „Die Söhne meiner Mutter zürnten mir, sie setzten mich zur Hüterin der Weinberge; [doch] meinen eigenen Weinberg habe ich nicht gehütet!“ (Hld 1,6). Die Frau erklärt, dass ihre Haut gebräunt ist, weil ihre Brüder sie zur Arbeit in den Weinbergen der Familie zwangen, was bedeutete, dass sie keine Zeit hatte, sich um ihren eigenen Weinberg, also ihren Körper, zu kümmern. Dieselbe metaphorische Anordnung erscheint wieder am Ende des Liedes, wo die Weinberge Salomos zusammen mit dem eigenen Weinberg der Frau, also ihrem Körper, vorkommen (vgl. Hld 8,11).

Außerdem verwendet das Lied Euphemismen, um Themen, die heikel sind oder ein gewisses Maß an Zurückhaltung erfordern, dezent zu verschleiern. Zum Beispiel ist der Geliebte eingeladen, „in seinen Garten zu kommen und seine herrlichen Früchte zu essen“, was als Einladung zu sexueller Intimität zu verstehen ist (vgl. Hld 4,16). In ähnlicher Weise lesen wir: „Ich sprach: Ich will die Palme besteigen und ihre Zweige erfassen“ (Hld 7,9). Ein oft übersehener Euphemismus taucht in Kapitel 3 auf, wo die sechzig Krieger um Salomos „Sänfte“ als „mit Schwertern bewaffnet“ beschrieben werden (vgl. Hld 3,8), aber im hebräischen Text heißt es eigentlich „vom Schwert erfasst“. Mit anderen Worten: Sie waren Eunuchen. Die Bildsprache im Hohelied gehört zu den Dingen, die es zum besten aller Lieder machen. Die Leser werden belohnt, wenn sie diesem Aspekt des Buches besondere Aufmerksamkeit schenken.