Stellvertretende Sühne

Artikel von Thomas R. Schreiner
19. Juni 2024 — 10 Min Lesedauer

Stellvertretende Sühne ist die Grundlage für andere Wahrheiten über das Sühnopfer, sei es Christus victor, Christus als Vorbild oder Heilung durch das Sühnopfer. Stellvertretende Sühne bedeutet, dass Christus anstelle der Sünder starb und die verdiente Strafe auf sich nahm.

Menschen benötigen einen Stellvertreter, denn „alle haben gesündigt und verfehlen die Herrlichkeit, die sie vor Gott haben sollten“ (Röm 3,23). Die Sünde trennt den Menschen von Gott, wie wir am Sündenfall von Adam und Eva im Garten Eden sehen. Nur vollkommener Gehorsam wird Gottes Gerechtigkeit genügen. Dies wird daran ersichtlich, dass Adam und Eva wegen einer einzigen Sünde von Gott getrennt wurden. In Galater 3,10 heißt es:

„Denn alle, die aus Werken des Gesetzes sind, die sind unter dem Fluch; denn es steht geschrieben: ‚Verflucht ist jeder, der nicht bleibt in allem, was im Buch des Gesetzes geschrieben steht, um es zu tun.‘“

Der Fluch trifft alle, die Gottes Gebote übertreten, und niemand ist davon ausgenommen (vgl. Röm 3,9–20.23).

Sünde muss bestraft werden, weil Gott heilig ist. Die Übertretung des Gesetzes ist nicht nur eine unpersönliche Realität, denn Sünde ist eine Rebellion gegen Gott selbst (vgl. 1Joh 3,4). Der Kern der Sünde besteht darin, Gott nicht zu verherrlichen und ihm nicht zu danken (vgl. Röm 1,21). Sünde ist die eklatante Weigerung, sich der Herrschaft Gottes zu unterstellen, und wer sündigt, verdient zu Recht das vergeltende Gericht Gottes. Weil Gott heilig ist (vgl. 3Mose 19,2), richtet er alle, die sein Gesetz übertreten. Gottes Gericht zeigt sich in der Sintflut Noahs, im Gericht über die Heidenvölker im Alten Testament und im Gericht über Israel wegen seiner Sünde. Johannes, der Täufer, warnt die Menschen, die dem kommenden Gericht des Herrn entfliehen wollen (vgl. Mt 3,1–12). Sie werden aufgefordert, Buße zu tun, bevor das künftige Gericht eintrifft (vgl. Apg 2,14–39; 3,12–26; 4,8–12). Paulus bezieht sich häufig auf Gottes eschatologisches Gericht am Ende der Zeiten (vgl. Röm 2,5.16; 6,23; 9,22; 1Kor 1,18; 5,5; 2Kor 2,16; Gal 1,8–9; Phil 3,18–19; 1Thess 1,10; 2,14–16; 5,9). Der vergeltende Charakter des Gerichts wird in 2. Thessalonicher 1,5–9 am deutlichsten. Paulus argumentiert, dass Gott „gerecht“ ist, wenn er für die Menschen eine ewige Strafe wegen ihrer Sünde vorsieht.

„Sünde ist die eklatante Weigerung, sich der Herrschaft Gottes zu unterstellen, und wer sündigt, verdient zu Recht das vergeltende Gericht Gottes.“
 

Gottes Zorn gegen die Sünde ist seine persönliche Reaktion auf die Sünde. Das Gericht ist nicht nur Ursache und Wirkung, sondern Gottes heiliger Zorn gegen die Sünde, der vom sündigen menschlichen Zorn unterschieden werden muss. Gottes Zorn ist heilig und in diesem Sinne schön und richtig, weil die Sünde so schrecklich ist, dass sie eine Bestrafung rechtfertigt. Wenn man dies nicht erkennt, zeigt man damit, dass man die Sünde nur als geringfügigen Fehltritt und nicht als zerstörerisches und entstellendes Krebsgeschwür betrachtet.

Wir sehen die stellvertretende Sühne in den alttestamentlichen Opfern, denn ihr Hauptzweck besteht darin, Sündenvergebung zu erlangen. Die Menschen legten ihre Hände auf das Tier, um zu zeigen, dass das Tier als ihr Stellvertreter fungierte. So wurde ihre Sünde auf das Tier übertragen. Der gewaltsame Tod des Tieres steht für die Strafe, die der Mensch für seine Sünde verdient. Der Tod des Tieres erfolgt also stellvertretend für den Anbeter. Der stellvertretende Charakter der Opfer wird besonders deutlich am Versöhnungstag (vgl. 3Mose 16), dem großen Tag im Jahr, an dem die Sünden Israels gesühnt wurden. In 3. Mose 17,11 sehen wir, dass Sühne durch das Vergießen von Blut durch einen gewaltsamen Tod erfolgt. Vergebung kommt nur durch den gewaltsamen Tod eines Tieres, und das Tier nimmt die Strafe auf sich, die der Anbeter verdient hat.

Tieropfer können keine ewige Sühnung der Sünden bewirken (vgl. Hebr 9,1–10.18). Diese Opfer weisen auf den Sühnetod Jesu Christi hin, der die vollständige und dauerhafte Vergebung der Sünden gewährleistet. In Jesaja 53 sehen wir, dass Jesus als Gottesknecht anstelle der Sünder den Tod erlitt: „Fürwahr, er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen“ (Jes 53,4). Im nächsten Vers heißt es:

„Doch er wurde um unserer Übertretungen willen durchbohrt, wegen unserer Missetaten zerschlagen; die Strafe lag auf ihm, damit wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt worden.“

Er starb als „Schuldopfer“ stellvertretend für die Sünder (Jes 53,10). In seinem Tod hat er „die Sünde vieler getragen“ (Jes 53,12). Dem Herrn „gefiel es, ihn zu zerschlagen“ (Jes 53,10), und Jesus Christus erlitt als Knecht des Herrn den Zorn Gottes, den die Sünder verdient hatten.

Römer 3,21–26 ist ein zentraler Text über das stellvertretende Sühnopfer. Im vorangehenden Abschnitt des Briefes sehen wir, dass ausnahmslos alle Menschen Sünder sind und das endgültige Gericht verdienen (vgl. Röm 1,18–3,20). Paulus bekräftigt in Römer 3,21–22, dass eine rechtmäßige Beziehung zu Gott nicht durch das Halten des Gesetzes erlangt werden kann (weil alle sündigen, vgl. Röm 3,23), sondern nur durch den Glauben an Jesus Christus. Wie kann Gott Sündern vergeben, damit sie in einer rechten Beziehung zu ihm stehen? Die Antwort steht in Römer 3,25–26:

„Ihn hat Gott zum Sühnopfer bestimmt, [das wirksam wird] durch den Glauben an sein Blut, um seine Gerechtigkeit zu erweisen, weil er die Sünden ungestraft ließ, die zuvor geschehen waren, als Gott Zurückhaltung übte, um seine Gerechtigkeit in der jetzigen Zeit zu erweisen, damit er selbst gerecht sei und zugleich den rechtfertige, der aus dem Glauben an Jesus ist.“

Das Wort, das mit „Sühnopfer“ übersetzt wird, hat eine eher technische Bedeutung und kann mit „Versöhnung“ oder „Gnadenstuhl“ (hilastērion) wiedergegeben werden. Das Wort „Versöhnung“ bedeutet, dass Gottes Zorn durch das Kreuz Christi gestillt oder besänftigt worden ist.

„Gott hat seine Gerechtigkeit nicht kompromittiert, da Christus die verdiente Sündenstrafe getragen hat und stellvertretend für die Sünder gestorben ist.“
 

Diese Vorstellung passt zum Gedankengang des Römerbriefes, denn in Römer 1,18 heißt es: „es wird geoffenbart Gottes Zorn vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen.“ In Römer 2,5 wird uns auch gesagt: „Aber aufgrund deiner Verstocktheit und deines unbußfertigen Herzens häufst du dir selbst Zorn auf für den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes.“ Römer 3,25–26 lehrt also, dass Gottes Rechtschaffenheit, seine Heiligkeit und Gerechtigkeit im Tod Christi befriedigt worden sind. Im Kreuz Christi erweist sich Gott als liebevoll und heilig, barmherzig und gerecht, als der „Gerechte und Rechtfertiger“ derer, die an Jesus glauben. Gott hat seine Gerechtigkeit nicht kompromittiert, da Christus die verdiente Sündenstrafe getragen hat und stellvertretend für die Sünder gestorben ist.

Diese Wahrheit wird in Galater 3,10–13 erläutert. Niemand kann dem Fluch Gottes durch Werke des Gesetzes entgehen, da alle ohne Ausnahme sündigen. Die Lösung für das Übel des Menschen wird in Galater 3,13 beschrieben: „Christus hat uns losgekauft von dem Fluch des Gesetzes, indem er ein Fluch wurde um unsertwillen denn es steht geschrieben: ‚Verflucht ist jeder, der am Holz hängt.‘“ Der Fluch, den jeder Mensch verdient, ist für diejenigen aufgehoben, die ihr Vertrauen auf Christus setzen, denn Christus hat den Fluch, den wir verdient haben, auf sich genommen. Er nahm die verdiente Strafe auf sich und erfüllte damit die Worte aus 5. Mose 21,23, wonach verflucht ist, wer an einen Baum gehängt wird.

Dieselbe Wahrheit lesen wir auch in 2. Korinther 5,21: „Denn [Gott] hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm [zur] Gerechtigkeit Gottes würden.“ Hier findet der große Tausch statt. Jesus hat unsere Sünde auf sich genommen, indem er an unserer Stelle gestorben ist, und wir haben dafür seine Gerechtigkeit empfangen.

Diese Lehre ist auch nicht auf Paulus beschränkt. Jesus selbst lehrt in Markus 10,45 eindeutig das stellvertretende Sühnopfer: „Denn auch der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele.“ Dies ist eine Anspielung auf Jesaja 53. Jesus als der Menschensohn aus Daniel 7 ist auch der leidende Gottesknecht aus Jesaja 53. Indem er sein Leben im Tod hingab, starb er als Lösegeld für viele. Sein Tod war die geforderte Bezahlung für die begangenen Sünden. Die gleiche Lehre findet sich auch im Johannesevangelium: „Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt!“ (Joh 1,29). Jesus als das Opferlamm Gottes – ob als Passahlamm, als Lamm im Opfersystem oder als Lamm aus Jesaja 53,7 (oder in allen drei Formen) – stirbt als Opfer anstelle der Sünder.

Das stellvertretende Sühnopfer ist in die Struktur des Neuen Testaments eingewoben. Petrus erklärt unter Berufung auf Jesaja 53: „Er hat unsere Sünden selbst an seinem Leib getragen auf dem Holz, damit wir, den Sünden gestorben, der Gerechtigkeit leben mögen; durch seine Wunden seid ihr heil geworden“ (1Petr 2,24; Hervorh.d.Verf.). Im nächsten Kapitel erklärt er: „Denn auch Christus hat einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, damit er uns zu Gott führte“ (1Petr 3,18).

Die stellvertretende Sühne bildet den Kern der Sühnelehre, denn im Sühnopfer Christi werden sowohl die Liebe als auch die Gerechtigkeit Gottes sichtbar. Wir sollten den Vater nicht gegen den Sohn ausspielen, da der Sohn sich freiwillig und gern für die Sünder hingab (vgl. Joh 10,18). Wie das Johannesevangelium wiederholt betont, sandte der Vater den Sohn, wobei dieser sich freute, den Willen des Vaters zu tun.

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