Biblische Sprachen – nur was für Pastoren?
Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich kurz vor Beginn meiner ersten Griechischstunde an der Bibelschule vor mich hinträumte. Ich dachte: „Endlich wird sich mir das Neue Testament öffnen. All die kniffligen Passagen, die ich nie verstanden habe, werden einen Sinn ergeben, und Exegese wird von nun an ein Kinderspiel sein!“ Fünf Minuten später war dieser Tagtraum verflogen, als mein Professor eine demütigende Weisheit verkündete: Die Kenntnis der griechischen Sprache löst nicht die theologischen und textlichen Schwierigkeiten des Neuen Testaments. Im Gegenteil, die Sprache enthüllt noch mehr Schwierigkeiten, die in den gängigen Übersetzungen verloren gehen. Es war, als wolle er sagen: „Wenn ihr das Neue Testament jetzt schon schwierig findet, dann wartet, bis ihr es auf Griechisch lest!“
Zehn Jahre später sage ich meinen Studenten dasselbe. Die Bibel in ihren Originalsprachen zu lesen und zu studieren ist nicht einfach und führt nicht immer zu einer einfacheren Exegese. Der Text wird nicht auf wundersame Weise glatter, klarer oder eindeutiger.
Stattdessen passiert etwas viel Besseres.
Das Studium der Originalsprache lässt uns tiefer in den Text eindringen und fordert uns auf, mehr achtzugeben, intensiver mit ihm zu ringen und ihn in seinen historischen, literarischen und theologischen Kontexten zu betrachten. Das Studium der Originalsprache zieht uns in das Buch hinein, das Gott uns zur Anleitung und Formung seines Volkes gegeben hat und in dem wir durch den Heiligen Geist unserem auferstandenen Erlöser begegnen.
„Man muss kein Pastor sein, um Griechisch und Hebräisch fruchtbar nutzen zu können – gleichzeitig braucht man kein Griechisch und Hebräisch, um ein guter Pastor zu sein.“
Dies führt uns zu einer wichtigen Frage: Wer sollte die Originalsprachen lernen? Im Prinzip würden wohl alle gerne noch näher an die von Gott gegebenen Inhalte der Schriften herankommen.
Vielleicht ist es an der Zeit, das Studium der griechischen und hebräischen Sprache nicht länger als obligatorischen Schritt in der Pastorenausbildung zu betrachten, sondern vielmehr als nützliches Werkzeug für jeden Christen, der sich für ein stärker akademisch fundiertes Bibelstudium interessiert. Sich in der Originalsprache mit der Bibel auseinanderzusetzen ist nicht eine Voraussetzung für treuen Gemeindedienst, sondern ein wunderbares Hilfsmittel, mit dem wir besonders aufmerksam auf die Wahrheit der Schrift hören können. Anders ausgedrückt: Man muss kein Pastor sein, um Griechisch und Hebräisch fruchtbar nutzen zu können – gleichzeitig braucht man kein Griechisch und Hebräisch, um ein guter Pastor zu sein.
Wem nützen die Altsprachen?
Biblisches Griechisch und Hebräisch wird zumeist von Studenten an Bibelschulen oder Seminaren gelernt, die sich auf den Pastorendienst in lokalen Gemeinden vorbereiten. Es gibt tatsächlich viele Pastoren, die ihr Griechisch und Hebräisch jede Woche anwenden. Doch man muss die biblischen Sprachen nicht kennen, um das Evangelium treu zu verkündigen. Man muss sie nicht einmal dafür kennen, um ein großer theologischer Denker zu sein! Verständlicherweise setzen sich viele Pastoren nicht regelmäßig mit den originalsprachlichen Texten auseinander, um den unmittelbaren praktischen Belangen des Dienstes am Volk Gottes den Vorrang zu geben – was nicht unbedingt ein Problem ist.
Umgekehrt kenne ich viele, die nie ein theologisches Seminar oder eine Bibelschule besucht haben und auch keine Ambitionen für einen vollzeitlichen Dienst haben, die aber täglich Griechisch für ihr persönliches Bibelstudium benutzen. Warum lernen sie Griechisch? Vielleicht weil sie gerne Sprachen lernen, oder weil sie in der Lage sein wollen, mit akademischer theologischer Literatur umzugehen. Oder sie wollen einfach die Texte des Neuen Testaments in einem neuen Licht sehen.
Warum sollten wir uns gegen die Vorstellung wehren, das Studium des Griechischen und Hebräischen sei nur etwas für Pfarrer und Theologen? Ganz einfach: Weil das Sprachenstudium auch über den Predigtdienst hinaus Nutzen und Segen bringt. Sind Griechisch- und Hebräischkenntnisse für ein tiefes Verständnis der Heiligen Schrift notwendig? Nein. Sind sie ein wertvolles Hilfsmittel für jeden, der die Heilige Schrift liebt und sich näher mit dem Text befassen möchte? Auf jeden Fall – ob man nun Pastor ist oder nicht.
Vier Gründe, biblische Sprachen zu erlernen
Warum sollte man ganz konkret die Zeit und Energie dafür aufwenden, Griechisch und Hebräisch zu lernen? Hier sind vier gute Gründe.
Du wirst langsamer
Man muss nicht allzu viel Zeit in Gottesdiensten verbringen, bis einem die bekannteren Teile der Heiligen Schrift vertraut werden. Wenn man in einem christlichen Elternhaus aufgewachsen ist, können einem die Bergpredigt, die Begegnung Jesu mit Nikodemus und viele der Ermahnungen des Paulus vielleicht zu bekannt klingen. Ich habe festgestellt, dass mich das Durcharbeiten solcher Passagen auf Griechisch oder Hebräisch dazu zwingt, langsamer zu werden und dem Text mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Du triffst auf eine Welt voller neuer Ressourcen
Viele der besten Hilfsmittel für das Bibelstudium (wie etwa Lexika, theologische Wörterbücher und exegetische Kommentare) setzen Kenntnisse des Griechischen und Hebräischen voraus. Jemandem, der die biblischen Sprachen kennt, stehen damit deutlich mehr Hilfsmittel zur Verfügung.
Du kannst akademische Diskurse mitverfolgen
Warum streiten sich die Gelehrten über Paulus und die Rechtfertigungslehre? Sollen wir das Schma Jisrael als „der Herr ist eins“ oder als „der Herr allein“ lesen (vgl. Mk 12,29)? Die Kenntnis der biblischen Sprachen löst diese komplexen Fragen nicht, aber sie ermöglicht es, sie besser zu verstehen und eigene fundierte Entscheidungen zu treffen.
Du lernst, dich der Heiligen Schrift mit Demut und Offenheit zu nähern
„Wenn wir uns mit dem griechischen und hebräischen Text beschäftigen, stoßen wir immer wieder an unsere Grenzen. Das sollte uns zum Gebet führen, der einzig angemessenen Haltung christlicher Exegese.“
Das Studium der Bibel in den Originalsprachen hat mich gelehrt, die Exegese weniger als das Lösen eines Rätsels zu betrachten, sondern vielmehr als das Hören auf eine Stimme. Immer wieder stoßen wir in unserem Verständnis des Wortes Gottes an unsere Grenzen. Wir können es nie vollständig „begreifen“, wie wir eine mathematische Gleichung oder ein Rätsel lösen würden. Wenn wir uns mit dem griechischen und hebräischen Text beschäftigen, stoßen wir immer wieder an unsere Grenzen. Das sollte uns zum Gebet führen, der einzig angemessenen Haltung christlicher Exegese.
Zusammenfassung
Warum sollten diese Segnungen nur denjenigen zuteil werden, die hauptberuflich in der Gemeinde arbeiten? Ich habe erlebt, dass Gemeinden sehr von Mitgliedern profitieren, die Griechisch und Hebräisch gelernt haben. Führt der Herr dich zu einem Studium der biblischen Sprachen? Es könnte sich lohnen, darüber im Gebet nachzudenken.