Wie das Evangelium die Erinnerung an vergangene Zeiten beeinflusst

Buchauszug von Adam Ramsey
30. Dezember 2024 — 19 Min Lesedauer

Das Gedächtnis besitzt eine seltsame Fähigkeit: Wie kommt es, dass ich mich lebendig und detailliert an meine Lehrerin in der ersten Klasse, sowie an die Namen und Telefonnummern meiner Freunde von damals erinnern kann, nicht aber daran, wo ich gestern Abend meine Autoschlüssel hingelegt oder warum ich gerade einen neuen Tab in meinem Webbrowser geöffnet habe? Wie kommt es, dass ich mich an den Namen des geduldigen Snowboardlehrers erinnere, der meinem elfjährigen Ich damals durch seinen ersten Tag auf der Piste in Loveland, Colorado, geholfen hat – und der mit mir die emotionale Reise von „Ich hasse das hier und warum existiert das Universum?“ bis hin zu „Das ist der beste Tag meines Lebens!“ durchlebte (danke, Albert) –, aber nicht an den Namen dieses Mannes, den ich in den letzten Monaten mindestens ein halbes Dutzend Mal in der Gemeinde getroffen habe und mit dem ich mich (einschließlich letzten Sonntag) unterhalten habe? Und warum um alles in der Welt bin ich heute Morgen mit der Titelmelodie von Familie Feuerstein im Ohr aufgewacht – und kann mich an jedes Wort genau erinnern –, obwohl ich die Serie seit den frühen 1990er Jahren nicht mehr gesehen habe? – Das Gedächtnis ist seltsam.

Das Gedächtnis hat aber auch Macht. Einer der frühen Kirchenväter, Augustinus, beschrieb unser Gedächtnis als einen riesigen Palast, in dem die Ideen, Gedanken und Erfahrungen aus unserer Vergangenheit gespeichert sind. Im Akt des Erinnerns „ist einiges alsbald zur Stelle; anderes muss erst länger gesucht und gewissermaßen aus verborgenen Schlupfwinkeln hervorgeholt werden“.[1] Und dann gibt es noch andere Erinnerungen, von denen wir uns wünschten, wir könnten sie loswerden. Dateien in unserem Kopf, die wir am liebsten für immer löschen würden. Erinnerungen, die wir gerne vergessen würden, die in unser Bewusstsein drängen, wenn irgendein Trigger in der Gegenwart uns ein altes Trauma, ein Versagen oder eine Sünde der Vergangenheit erneut durchleben lässt. Die Macht der Erinnerungen – sowohl derjenigen, die uns erfreuen, als auch derjenigen, die uns erschaudern lassen – besitzt die Fähigkeit, uns im Hier und Jetzt unsere Aufmerksamkeit abzuverlangen. Für Augustinus ist die Erinnerung unsere gegenwärtige Erfahrung der Vergangenheit.

Lass mich dir zeigen, wie er das meint.

Die belebende Kraft der Erinnerung

Nimm dir einen Moment Zeit und erinnere dich an den Haupteingang des letzten Hauses, in dem du gelebt hast – nicht deines jetzigen Hauses, sondern des vorherigen. Kannst du ihn sehen? Beweg dich durch den Haupteingang in Richtung Küche. Achte auf die unterschiedlichen Räume, die Wandfarben und die verschiedenen Möbelstücke, an denen du auf deinem Weg vorbeikommst. Setz dich nun auf deinen Lieblingssessel in dieser Wohnung und verschaffe dir einen guten Rundumblick auf deine Umgebung.

Ich gebe dir ein paar Augenblicke Zeit, um dir das alles vorzustellen.

Jetzt geh eine Ebene tiefer. Welche Menschen aus dieser Zeit deines Lebens kannst du dir auf den anderen Sesseln sitzend vorstellen? Welche besonderen, schweren oder lustigen Momente kommen dir in den Sinn, die du dort mit ihnen erlebt hast?

– Du merkst, dein Gedächtnis hat diese Erlebnisse aus der Vergangenheit in der Gegenwart wieder zum Leben erweckt – was damals geschah, lässt dich jetzt etwas fühlen. Erinnerungen lassen die Vergangenheit wieder neu aufleben. Die meiste Zeit verbleiben unsere Erinnerungen knapp unterhalb der Oberfläche unseres Bewusstseins und steuern von dort aus die Entscheidungen, die wir treffen, die Gewohnheiten, die wir uns angeeignet haben, und die Fähigkeiten, die wir besitzen. Wenn sich beispielsweise ein potenzieller Arbeitgeber die in deinem Lebenslauf angeführten Erfahrungen ansieht, dann sieht er in Wirklichkeit eine Manifestation der Stärke deines Gedächtnisses und deines Talents, dich an eine bestimmte Fähigkeit zu erinnern, die für die Stelle erforderlich ist und diese genau zu beschreiben. Auch hier gilt: Erinnerungen haben Macht.

Tatsächlich war für Augustinus unser Gedächtnis ein zentraler Bestandteil unserer Identität, die Verbindung zwischen unseren vergangenen Erfahrungen und unserem gegenwärtigen Bewusstsein. Denn „in der weiten Behausung meines Gedächtnisses … begegne ich mir auch selber“.[2] Unsere Erinnerungen machen uns also zu dem, wer wir sind, indem sie das, was wir gewesen sind, in das sich entfaltende Narrativ unseres Lebens integrieren. Auf diese Weise haben sie einen starken Einfluss darauf, wie wir uns entwickeln, offenbaren aber auch, wer wir in der Gegenwart sind. Unsere Erinnerungen definieren uns, sie weisen uns einen Platz zu, weil sie unser wahres Selbst offenlegen – die Geschichte, die wir gelebt haben, nicht die Geschichte, die wir gerne gelebt hätten.

Auch wenn unsere Erinnerungen für unser Selbstverständnis, unsere Handlungen und die Ausrichtung unseres Lebens entscheidend sind, können sie auch zerstörerisch wirken, wenn wir ihnen zu viel Aufmerksamkeit schenken. Wie viele andere Aspekte von Gottes Schöpfung auch, sind auch unsere Erinnerungen, wenn sie uns und unserer Liebe zu Gott dienen, ein großartiges Geschenk. Aber auch das Gegenteil ist der Fall: Wenn wir die Vergangenheit gegenüber der Gegenwart priorisieren, verwandeln wir das Nützliche in etwas Lästiges. Und genau das ist die Gefahr. Die Vergangenheit bleibt oft nicht nur Vergangenheit. Durch unsere Erinnerungen sickert sie in unsere Gegenwart ein und versucht, die Aufmerksamkeit zurückzuerlangen, die sie einst hatte.

Wie wir über unsere Vergangenheit denken und mit solchen Gedanken umgehen, macht einen großen Unterschied.

Die Vergangenheit versucht auf zwei Arten unterschwellig in unsere Gegenwart einzudringen und diese zu beherrschen – entweder als Nostalgie oder Bedauern. Nostalgie plündert unsere Gegenwart durch Vergleiche, Bedauern durch Verurteilung. Nostalgie vermisst die frühere Zeit, Bedauern trauert über vergeudete (oder uns vorenthaltene) Zeit. Beides führt dazu, dass wir es versäumen, in der Gegenwart, d.h. in dem Leben, das Gott uns im Hier und Jetzt schenkt, wirklich da und präsent zu sein.

Nostalgie: vermisste Zeiten

Das Wort „Nostalgie“ setzt sich aus zwei griechischen Wörtern zusammen: nostos heißt „Heimkehr“, álgos bedeutet „Schmerz“. Nostalgie ist Sehnsucht nach einer Vergangenheit, in der wir uns wohler fühlten. Wir alle haben ein Gefühl von Nostalgie in Bezug auf Erfahrungen, Orte und Freundschaften aus unserer Vergangenheit, die uns lieb und teuer sind. Wir hören einen Song, der uns in unsere Highschool-Zeit zurückversetzt. Wir fahren durch unseren Heimatort und tausend Erinnerungen schießen uns durch den Kopf. Es ist verständlich, dass wir die schönen Abschnitte unserer Lebensgeschichte wertschätzen und uns danach sehnen, mehr davon zu erleben. Wir fühlen mit, wenn Andy Bernard in einem tiefsinnigen Moment in The Office (US-Version) klagt: „Ich wünschte, es wäre möglich zu wissen, dass man sich in den guten alten Zeiten befindet, bevor man sie hinter sich gelassen hat.“

Wie ein Snapchat- oder Instagram-Filter intensiviert Nostalgie die Farben der Vergangenheit und blendet ihre Mängel aus. Das Problem der Nostalgie ist, dass sie das Schöne der Vergangenheit verstärkt, ihre Schwierigkeiten, Ungerechtigkeiten und Probleme dagegen verharmlost. Denk an Israels Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten. Gott führte sie auf wundersame Weise und schenkte ihnen durch eine Wolkensäule bei Tag und eine Feuersäule bei Nacht die Gewissheit seiner Gegenwart (vgl. 2Mose 13). Gott bahnte ihnen auf wundersame Weise einen Weg durch das Rote Meer, um sie vor einem Gemetzel zu bewahren (vgl. 2Mose 14). Gott kümmerte sich um ihre täglichen Bedürfnisse: Er versorgte sie mit Wasser in der Wüste und himmlischem Brot, Manna genannt, das jeden Morgen frisch vom Himmel fiel (vgl. 2Mose 15–16). Sie wurden ständig daran erinnert, dass Gott, so wie er es versprochen hatte, gegenwärtig bei ihnen war.

Doch schon bald erhob sich ein Murren im Volk und einige klagten: „Wir denken an die Fische zurück, die wir in Ägypten umsonst aßen, und an die Gurken und Melonen, den Lauch, die Zwiebeln und den Knoblauch; nun aber ist unsere Seele matt, unsere Augen sehen nichts als das Manna!“ (4Mose 11,5–6). Nun, es sei fern von mir, mich zum Richter über eine Schar hungriger Israeliten mitten in der Wüste zu erheben. Ich persönlich habe noch nie in meinem Leben über das Fehlen von Fisch, Gurken und Knoblauch geklagt. Aber das ist die Macht der Nostalgie. Sie lässt Erinnerungen wieder aufleben, manipuliert diese, indem uns die Dinge besser erscheinen als sie waren und blendet uns mit der Lüge, Gott würde uns etwas vorenthalten. Die Nostalgie der Israeliten betonte den Geschmack von Fisch und Gurken über und ließ 430 Jahre Brutalität und Leiden unter ägyptischen Peitschen auf eine kleine Unannehmlichkeit schrumpfen. Und so murrten sie, weil sie tief in ihrem Inneren glaubten, Gott sei ihnen in der Gegenwart weniger treu als in der Vergangenheit.

Sind wir so viel anders?

Wenn unser Leben eine Wendung nimmt, die uns zum Murren veranlasst, wenn wir eine einflussreiche Position, unsere Gesundheit oder einen geliebten Menschen verlieren, wenn sich unsere gegenwärtige Jesusnachfolge auf tragische und frustrierende Weise weniger gut anfühlt als früher, wenn wir eine Zeit durchmachen, die sich falsch anfühlt und wir uns nach dem sehnen, was wir einmal hatten – neigen wir dann nicht auch dazu, unsere Vergangenheit in einem besseren Licht erscheinen zu lassen? Und verpassen wir dadurch nicht gerade das, was Gott in dieser Zeit für uns bereithält? Selbst wenn vergangene Zeiten objektiv tatsächlich besser waren, gibt es eine Möglichkeit, das Verlorene zu betrauern, ohne uns das entgehen zu lassen, was Gott für uns in dieser Zeit bereithält. Salomo, der weiseste Mann dieser Erde, vor Jesu Geburt, warnt uns in Prediger 7,10: „Sprich nicht: ‚Wie kommt es, dass die früheren Tage besser waren als diese?‘ Denn nicht aus Weisheit fragst du so!“

Dankbarkeit für frühere Zeiten ehrt Gott. Aber der übertriebene Wunsch in die Vergangenheit zu schauen anstatt in der Gegenwart zu leben, macht aus vergangenen Erlebnissen einen Götzen.

Bedauern: vergeudete Zeit

Die zweite Art, durch die die Vergangenheit unser Hier und Jetzt einnehmen kann, ist das Bedauern. Nostalgie ist besessen von den Erfolgen der Vergangenheit, Bedauern hingegen von vergangenen Misserfolgen – vergeudete Zeit, die unwiderruflich verronnen ist. Vielleicht ist es das Bedauern über eine verpasste Gelegenheit. Wie bei Onkel Rico, einem gescheiterten Footballspieler in dem Film Napoleon Dynamite, der sich ausmalt, wie sein Leben ausgesehen hätte:  Wenn nur „der Trainer mich im vierten Quarter eingesetzt hätte – wir wären Meister geworden. Keine Frage. Überhaupt keine Frage. Du kannst mir glauben, die Dinge wären anders gelaufen. Ich wäre Profi geworden... hätte Millionen von Dollars gemacht, irgendwo in einer großen alten Villa gelebt und das alles in einem Whirlpool mit meiner Seelenverwandten genossen.“

Auch eine getroffene Entscheidung oder eine begangene Sünde kann bedauert werden, weil wir etwas getan haben, das (menschlich gesehen) nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Viele von uns können sich an harte Worte erinnern, die wir einem geliebten Menschen an den Kopf geknallt haben – so wie eine Ladung Schrot aus einer Schrotflinte. Und sobald die Worte ausgesprochen waren, wussten wir, dass wir sie nie wieder würden rückgängig machen können. „Wenn ich doch nur...“, klagt unsere Erinnerung. „Hätte ich nur nicht das gesagt, das getan, den Wohnort gewechselt, diesen Menschen vertraut, zu dem Zeitpunkt gekündigt...“

Das Bedauern ruft nach uns aus vergangenen Zeiten. Es zwingt uns, unsere schlimmsten Momente und vergeudeten Jahre in der Hoffnung auf einen anderen Ausgang noch einmal durchzuspielen. Wie Geister, die den Ort nicht verlassen wollen, den sie einst als lebendige Menschen bewohnten, spukt das Bedauern in unserer Erinnerung herum. Es weigert sich weiterzugehen und will auch uns davon abhalten.

Wie können wir verhindern, dass die Vergangenheit in unsere Gegenwart eindringt und uns das Heute raubt? – Sowohl auf die Nostalgie als auch auf Bedauern antworten wir mit dem Evangelium. Wir richten unsere nostalgischen Sehnsüchte nach vorne (statt nach hinten), auf die Zukunft, die Christus uns erworben hat und bereithält; und schicken unser gesamtes Bedauern über Sünde, Schuld, Scham und Verurteilung zurück zum Kreuz, wo die Stimme Jesu den Spott unseres Anklägers übertönt.

Wie das Evangelium unsere Nostalgie verändert

Wie reagieren wir auf gute Zeiten, die im Rückspiegel unserer Erinnerungen verblassen? Nicht mit Murren, sondern mit Dankbarkeit. Wir müssen uns aber auch klar machen, dass unsere Sehnsucht nach der guten alten Zeit ein fehlgeleitetes Verlangen ist. Die Sehnsüchte, die wir auf inzwischen hinter uns liegende Zeiten richten, will Gott in einer noch vor uns liegenden Zeit stillen. Wir blicken in die falsche Richtung. Wahre und anhaltende Herrlichkeit finden wir in der Zukunft, weil unsere Zukunft in Christus in einem „unvergänglichen und unbefleckten und unverwelklichen Erbe [liegt], das im Himmel aufbewahrt wird für uns“ (1Petr 1,4). Wir sollen nicht über das Leben nachgrübeln, das wir in den vergangenen Jahren gelebt haben, sondern stattdessen auf das ewige Leben schauen, das Christus allein uns geschenkt hat. Kein Wunder, dass Paulus uns immer wieder auffordert, in diese Richtung zu blicken! In Kolosser 3,2–4 sagt er:

„Trachtet nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist; denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott. Wenn der Christus, unser Leben, offenbar werden wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit.“

Wie leicht vergessen wir, dass die Höhepunkte des Glücks in diesem Leben lediglich Vorzeichen der kommenden Welt sind. Wenn wir uns daran erinnern, dass alle Freuden, die wir jetzt erleben, lediglich ein Vorgeschmack auf das Fest sind, das vor uns liegt, wird die Schönheit der Vergangenheit in die richtige Perspektive gerückt. Egal wie großartig deine Glanzzeiten auch waren – die wirklich glorreichen Zeiten in Christus stehen dir noch bevor.

Die Erinnerung an unsere Vergangenheit kann dabei helfen, das Feuer des Gebets und der Hoffnung in uns zu schüren, aber wir dürfen nicht zulassen, dass sie unser Herz in der Gegenwart beherrschen. Genauso wenig wie Gott deinen Körper dafür geschaffen hat, heute noch von einer Mahlzeit zu zehren, die du im Jahr 2015 zu dir genommen hast, genauso wenig möchte er deine Seele heute mit Gnadenproviant versorgen, das er dir in deiner Vergangenheit hat zukommen lassen.

Nein, er möchte dir heute seine Gnade schenken. Er wünscht sich, dass du heute zu ihm kommst. Dass du ihn heute anbetest. Dass du heute um seine Fürsorge bittest. Du sollst heute darauf vertrauen, dass er gut ist und Gutes tut (vgl. Ps 119,68). Der Gott der unendlichen Macht und Weisheit und Güte und Herrlichkeit wird es nicht versäumen, die Bedürfnisse derer zu stillen, die ihn suchen. Wir müssen nur darauf achten, an der richtigen Stelle zu suchen. C.S. Lewis erinnert uns:

„In jedem unserer Lebensbereiche … greifen wir immer auf den einen Fall zurück, der uns vollkommen erschien, erheben ihn zur Norm und vergleichend werten wir alle übrigen Fälle ab. Diese andern aber, so schwant mir, wären oft voll eines eigenen, neuartigen Segens, wenn wir uns ihm nur öffnen wollten. Gott zeigt uns eine neue Facette der Herrlichkeit, und wir weigern uns, sie anzublicken, weil wir noch immer nach der alten Ausschau halten … Das Komische – oder Tragische – bei alledem ist, daß diese goldenen Augenblicke der Vergangenheit, so peinigend, wenn wir sie zur Norm erheben, sich als so restlos nährend, beglückend und heilsam erweisen, wenn wir uns begnügen, sie als das zu nehmen, was sie sind: Erinnerungen.“[3]

Wie das Evangelium unser Bedauern besiegt

Vielleicht neigst du dazu, dich selbst zu geißeln, indem du dir immer wieder das Versagen in deiner Vergangenheit vor Augen führst. Es müssen nicht einmal die Versäumnisse deiner Jugend sein; viele von uns geraten in einen Teufelskreis des Selbsthasses, indem sie sich einfach nur in das Versagen der letzten Woche hineinsteigern. Satan ist der Ankläger, der uns mit unseren ganz realen Sünden verhöhnt – und manchmal auch mit den Sünden anderer, von denen er möchte, dass wir uns dafür die Schuld geben. Er spottet: „Wie lange folgst du Jesus nun schon nach und du kannst es doch immer noch nicht richtig machen? Schau nur, wie du schon wieder versagt hast.“ Dann flüstert uns die Scham zu: „Du bist so peinlich. Schließe diese Erinnerung weg. Niemand darf jemals dein wahres Ich kennenlernen.“ Und dann verurteilt uns unser Herz: „Du bist der Versager. Du bist bedauernswert. Du gehörst zu mir.“

Wohin können wir uns wenden, wenn uns das Bedauern über unsere nahe oder ferne Vergangenheit so verfolgt?

Unsere Nostalgie muss nach vorne ausgerichtet werden, auf den Tag unserer Verherrlichung. Unser Bedauern dagegen muss zurückgeschickt werden, zurück zum Tag unserer Rechtfertigung. Weiter zurück als das „Wenn doch nur…“-Bedauern vergeudeter Zeit. Sogar weiter zurück als der Tag unserer Geburt. Zurück durch die Jahrhunderte, als unser Bedauern am Kreuz besiegt wurde.

Am Kreuz hat Jesus die Anschuldigungen Satans zum Schweigen gebracht. „Wer will gegen die Auserwählten Gottes Anklage erheben?“, fragt Paulus in Römer 8,33: „Gott [ist es doch], der rechtfertigt!“ Sein Urteil kann nicht umgestoßen werden, weder von Menschen noch vom Teufel.

Dort am Kreuz nahm Jesus die Scham auf sich, die der ständige Begleiter unseres Bedauerns ist. Als er die Schmach des Kreuzes ertrug, hat er unsere Scham ein für alle Mal abgenommen (vgl. Heb 12,2). Die Scham verliert ihre bestimmende und definierende Kraft, wenn wir uns daran erinnern, dass Jesus unser wahres Selbst geliebt und mit dem Licht seiner Barmherzigkeit auch die dunkelsten Teile unserer Geschichte erhellt hat.

Unsere in der Geschichte vollbrachte Rechtfertigung erinnert uns daran, dass „es jetzt keine Verdammnis mehr für die [gibt], welche in Christus Jesus sind“ (Röm 8,1). „Keine“ bedeutet: nicht jetzt und auch niemals sonst. Deine Vergangenheit kann dich nicht mehr verdammen, wenn du lernst, ihr mit Paulus entgegenzuhalten: „Wer will verurteilen? Christus [ist es doch], der gestorben ist, ja mehr noch, der auch auferweckt ist, der auch zur Rechten Gottes ist, der auch für uns eintritt!“ (V. 34). Wenn Erinnerungen uns heimsuchen und der Satan Anklage gegen uns erhebt, reagieren wir darauf, indem wir uns an die Wahrheit Gottes erinnern, der uns liebt.

Der Gott, der sich erinnert … und vergisst

Obwohl unser Gedächtnis wichtig für unsere Identität ist, hat es nicht das letzte Wort. Entscheidend ist dagegen folgendes Wort:

„[E]uer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott.“ (Kol 3,3)

Wenn wir eines Tages vor Gott stehen, werden wir erkennen, wie seine Treue uns durch jeden Abschnitt unseres Lebens hindurch getragen hat – er hat uns nicht vergessen. Der Gott, der uns durch und durch kennt, „weiß, was für ein Gebilde wir sind; er denkt daran, dass wir Staub sind“ (Ps 103,14). Es geht ihm nicht darum, dass du eine heldenhafte Vergangenheit aufweisen kannst. Er möchte, dass du ihm in der Gegenwart aufrichtig vertraust. Und zu denen, die ihre Zeit in seine Hände legen – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – sagt er:

„[D]enn ich werde ihre Missetat vergeben und an ihre Sünde nicht mehr gedenken!“ (Jer 31,34) „Ich, ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen, und an deine Sünden will ich nie mehr gedenken!“ (Jes 43,25)

Diesen beiden alttestamentlichen Propheten zufolge hat Gott nicht nur ein vollkommenes Erinnerungsvermögen, sondern auch eine Fähigkeit des vollkommenen „Vergessens”. Mein Freund Ray Ortlund hat mich darauf hingewiesen, dass dadurch selbst die Anschuldigungen Satans zu Mitteln werden, durch die uns das Evangelium Trost spenden kann.

„Satan, der Ankläger, tritt vor Gott und sagt: ‚Sieh dir den Christen da unten an. Warum liebst du ihn immer noch? Erinnerst du dich nicht daran, was er dir letzte Woche angetan hat? Und am Dienstag und gestern wieder?‘ Und Gott sagt (wenn ich es mal so ausdrücken darf): ‚Nein, ich erinnere mich nicht. Gabriel, in welcher Beziehung steht dieser Gläubige mit uns? Schau einmal in der Datenbank nach.‘ Gabriel loggt sich ein, aber die einzige Information, die auf dem Bildschirm erscheint, ist die Gerechtigkeit Christi, die diesem Sünder frei gutgeschrieben wird, denn auf diese Weise verherrlichet sich Gott als Gott. ‚Ich tilge deine Übertretungen, ich verwandele alles Schlechte in etwas Schönes, um meinetwillen.‘ Gott sagt also zu Satan: ‚Ich behaupte nicht, dass deine Fakten falsch sind, aber du erzählst mir nicht die ganze Geschichte über diesen Christen. Was mir am wichtigsten ist (und zwar um meinetwillen), ist nicht, was diese Person alles getan hat, sondern was Christus für sie getan hat.‘ Das ist Gnade. Das ist Gott. Das ist der Weg zur Erweckung.“[4]

Wenn dein ganzes Leben „verborgen [ist] mit dem Christus in Gott“ (Kol 3,3), schließt das deine Vergangenheit mit ein. Deine Vergangenheit ist verborgen mit dem Christus in Gott. Glaubst du wirklich, dass Gott dich so sieht?

Wenn deine Zeit zu Ende geht, wenn dein Körper im Sarg liegt und deine Seele vor Gott erscheint, wenn das, was einst in der Zeit lebte, nur noch eine Erinnerung in den Köpfen derer ist, die bleiben – dann wird Gott sich so erinnern und so vergessen, wie nur er es kann. Vollkommen.


1 Aurelius Augustinus, Bekenntnisse, 3. Aufl., München: Artemis Verlag, 1982, S. 254.

2 Ebd., S. 256.

3C.S. Lewis, Du fragst mich wie ich bete, 7. Auflage, Freiburg i.Br.: Johannis 2024, S. 33–34.

4Ray Ortlund, Isaiah: God Saves Sinners, Wheaton, IL: Crossway, 2005, S. 28–29.