Heiligung neu entdecken
Wie das Gebet ist auch Heiligung ein Thema, bei dem viele Christen die Hand aufs Herz legen und sagen: Oh ja, das ist in meinem Leben noch eine Baustelle! Einige dieser Baustellen lasse ich gut und gern mal etwas links liegen, um mich Themen zu widmen, in denen ich mehr Erfolgsbewegung sehe. Der Griff zu einem Heiligungsbuch will gut überlegt sein: Will ich es mir antun? Werde ich die Themen in meinem Herzen auch nur ansatzweise wieder zubekommen, die es aufreißen wird?
James I. Packer ist vor allem für sein millionenfach verkauftes Buch Gott erkennen bekannt. Er schreibt über die Motivation für das vorliegende Buch:
„[Es] spiegelt meine Überzeugung wider, dass es notwendig ist, auf die Vernachlässigung der persönlichen Reinigung hinzuweisen, die in den Jahren meines Dienstes auch zu einem allgemeinen Trend unter bibelorientierten westlichen Christen wurde. Es ist kein Trend, den man erwartet hätte, da die Heilige Schrift so nachdrücklich betont, dass Christen zur Heiligung berufen sind.“ (S. 11)
Grundlage bilden vier Vorträge, die er 1991 gehalten hat. Packer ist überzeugt, dass Heiligung ein Phänomen einer längst vergangenen Welt ist. Er kommt sich vor wie ein Forscher, der ein uraltes, fremdes Modell zutage fördert, und fragt sich, ob es heute überhaupt noch Anklang finden wird? „Als was für ein geistlicher Dinosaurier werde ich angesehen werden, weil ich solch uralte Ideen vorbringe?“ (S. 16). Packer stellt die Diagnose, dass der Großteil der öffentlichen Predigten (YouTube, Fernsehen) Themen wie Reichtum, Freiheit von Sorgen, guten Sex, Familienleben und so weiter behandelt – Heiligung spielt keine Rolle. Die große Zahl ethisch gefallener Leiter ist für ihn ein Indiz dafür, dass den Kirchen ihre Heiligung nicht wichtig ist, sondern ihre Leistung. Dagegen zitiert er Robert Murray McCheyne: „Das größte Bedürfnis meines Volkes ist meine persönliche Heiligkeit“ (S. 33). Auch findet Packer, dass der Fokus in der Evangelisation zwar stark auf den Glauben (zu Christus kommen, seinen Verheißungen vertrauen, auf den Himmel hoffen), aber kaum noch auf Buße (Sünden bekennen, vergangenes Unrecht gutmachen, über Sünde trauern) gelegt wird.
Systematisch, aber nicht langweilig
Packer bearbeitet das Thema Heiligung systematisch-theologisch. Man sollte allerdings nicht zum falschen Schluss kommen, das Buch wäre deshalb trocken, fachlich und langweilig! Seine Methode ist strukturiert, gut durchdacht, aber seine Sprache ist mahnend, werbend und voller Sehnsucht, die Notwendigkeit und Schönheit von Heiligung im Herzen des Lesers leuchten zu lassen.
Zunächst einmal nimmt Packer uns in die Schule der Heiligung und des Gebets. Er beginnt mit drei Wahrheiten. Erstens müssen Gebet und Heiligung durch Gehorsam gelernt werden. Zweitens ist das Leben mit allen Freuden und Sorgen der Lehrplan der Disziplin. Drittens müssen wir sehen, dass Jesus selbst in der Schule des Gebets und der Heiligung mit uns anwesend ist. Je mehr uns das bewusst ist, desto mehr werden wir vor Bitterkeit bewahrt und wachsen stattdessen in der Heiligung.
Doch was ist Heiligung überhaupt? Packer definiert die biblische Begrifflichkeit „für Gott ausgesondert“ als Hingabe und Angleichung: Hingabe im Dienst für Gott und Angleichung in der Nachahmung von Christus. Er vertieft es in den vier folgenden Aspekten: (1) Heiligung hat immer mit meinem Herzen zu tun. Alles andere ist Formalismus oder Gesetzlichkeit und keine Heiligung. (2) Heiligung hat doch immer etwas mit meinem Temperament zu tun. Ausgehend von den vier menschlichen Grundtemperamenten darf der Christ sich nicht als Opfer seines Temperaments sehen.[1] Heiligung geschieht, wenn sich die Stärken aller vier Temperamente vereinen, jedoch ohne ihre Schwächen. (3) Heiligung hat mit meinem Menschsein zu tun. Das bedeutet, dass sie uns zu zutiefst menschlichen und liebenswerten Menschen macht. (4) Heiligung hat mit meinen Beziehungen zu tun. Hier tritt Packer entschieden gegen die Vorstellung, Heiligung wäre etwas Inneres, das meine Beziehungen nicht betrifft. Das Gegenteil ist der Fall: Wirkliche Heiligung schlägt sich positiv auf die Wahrnehmung von uns als Beziehungsmenschen nieder.
Befreit und fröhlich
Als Nächstes nimmt sich Packer im Kapitel „Erlösung entdecken“ vor, „das gesamte Werk der göttlichen Gnade im Menschen von Anfang bis Ende aus der Heiligen Schrift herauszuarbeiten“ (S. 44). Nach Packer hat die neutestamentliche Erlösung drei Zeitformen: Sie befreit von der Schuld der Sünde in der Vergangenheit. Sie befreit von der Macht der Sünde in der Gegenwart: Die Sünde beherrscht uns nicht mehr. Zuletzt befreit sie uns von der Existenz der Sünde: In Zukunft wird sie nur eine Erinnerung sein. Die Spannung, in der wir leben, beschreibt Packer so: „Wir sind ganz erlöst, aber die Erlösung ist noch nicht ganz in uns“ (S. 46). Als Gerettete können wir uns nicht an Gott erfreuen, solange wir uns noch im Griff ethischer Schwächen und Widerwärtigkeiten befinden. „Sich hier und jetzt als – in Luthers Worten, simul justus et peccator, gleichzeitig gerecht und Sünder – zu wissen, dass er mit Gott im Reinen ist, obwohl er noch sündigt – ist ein wunderbares Vorrecht“ (S. 57), doch die Hoffnung für uns ist größer: Gott zu sehen als solche, die keine Sünder mehr sind. Daher ist der göttliche Stundenplan für den Rest des Lebens meine Heiligung. Sie besteht in der zunehmenden Angleichung an das Bild Christi. Hier führt Packer ein Bild für Heiligkeit ein, das er später öfter benutzt. Heiligung ist vergleichbar mit einem dreibeinigen Hocker: Lehre, Erfahrung und Praxis. Die Verkürzung eines Beines bringt den ganzen Hocker zum Kippen.
Heiligung beginnt bei Packer mit den Reaktionen auf Gottes Heilsplan: (1) eine tiefe Ehrfurcht vor Gottes Großartigkeit, die zum Lobpreis führt. Man soll so lange bei Gottes Wahrheiten im Nachdenken verweilen, bis man in dieser Ehrfurcht vor Gott steht. Als nächstes (2) Dankbarkeit für die Barmherzigkeit Gottes, denn ohne Dank gibt es keine echte Motivation zur Heiligung. Dann (3) der Eifer für seine Herrlichkeit und als Letztes (4) in natürlicher Weise als Kind Gottes leben. Packer verwirft dabei die Vorstellung, dass in einem Christen zwei Naturen leben, von denen er die eine fördern und die andere aushungern soll. Vielmehr ist seine Natur geistlich, und dementsprechend soll er „natürlich“ leben. Sündigen ist unnatürlich. Rückfall ist unnatürlich.
Damit hat Packer die Grundlagen eines heiligen Lebens gelegt. Es ist ihm wichtig, zum Abschluss dieses Teils hervorzuheben, dass echte Heiligung in ihrem Wesen eine fröhliche Angelegenheit ist:
„Ein Paradoxon der christlichen Heiligung, das Außenstehenden Rätsel aufgibt, ist, dass trotz Entbehrungen, die Jesus als Selbstverleugnung, Kreuztragen, Abhacken von Hand und Fuß, Ausstechen des Auges und Verlassen von Reichtum und Sicherheit zugunsten von Armut und einem gewissen Grad an Verfolgung beschrieb, Heiligung im Wesentlichen eine glückliche Angelegenheit ist.“ (S. 82)
Praktisch und demütig
Die Frage, die sich Packer als Nächstes aufdrängt, lautet: Was sollen wir nun tun? Wie wirkt sich das für unsere Praxis konkret aus? Hier zeigt er zunächst ein Panoramabild, das das christliche Zeitalter und im Wesentlichen alle Traditionen einschließt. Wie beim Thema „Diät“ jeder die Vorstellung hat, seine sei die Beste, und sich dabei irrt, ist Packer der Auffassung, dass man in jeder christlichen Richtung etwas Bestimmtes über Heiligung lernen kann – ja muss! –, das in der eigenen theologischen Blase fehlt. So lernt man beispielsweise die Umlenkung des Verlangens am besten von den Kirchenvätern und Mönchen. Heiligung als Abtötung der Sünde ist eine Stärke bei den Puritanern. Heiligung durch beharrliches Gebet kann man in der Heiligungsbewegung lernen. Heiligung als Einübung von geistlichen Regeln und Disziplin findet sich gut durchdacht bei einigen evangelikalen Autoren. Packer ist es wichtig, dass der ganze Mensch in allen Bereichen seines Lebens Jesus ähnlicher wird. Eine konfessionsorientierte Diät ist dabei eine zu schmale Kost. Hier fordert Packer die Evangelikalen eindeutig heraus. Einigen wird es nicht schmecken. Sein Ziel ist jedoch kompromisslose Heiligung und daher spart er bei seinem Panoramablick keine christliche Richtung aus, um aus ihr zu lernen.
Als Nächstes betrachtet Packer vier Themen genauer. Das erste ist für ihn das Prinzip, dass das Wachstum in der Heiligung ein Hinunterwachsen ist – ein Wachsen nach unten. Das Mittel dieses Wachstums ist die Buße. Hier sind besonders die Puritaner ein Vorbild. Buße ist ein notwendiger Bestandteil eines Christen, der in Heiligung leben will. Sie muss regelmäßig und umfassend sein. Die Form genügt nicht, sie muss aus der Tiefe des Herzens kommen. Buße ist wichtig, weil sie wie ein Abflusskanal die Seele entschlackt, damit Jesu Ähnlichkeit in ihr wachsen kann. Das ist der nächste Schwerpunkt: Heiligung ist nicht nur das Ausscheiden von falschen Dingen, sondern auch Wachstum in Christusähnlichkeit. Hier nutzt Packer abermals das Beispiel vom Dreibein, um ein gesundes Wachstum zu illustrieren. Ein Kopfchrist kann theologisch gewieft sein, wie er möchte – das allein ist keine Christusähnlichkeit. Ein Christ, der ständig auf außergewöhnliche Erfahrungen aus ist, wird dadurch Jesus nicht ähnlicher. Auch ein Christ, der von Aktivität zu Aktivität hetzt, wird Jesus nicht ähnlicher. Ganzheitliche Jesusähnlichkeit wächst dort, wo Kopf, Erfahrung und Praxis gleichermaßen beteiligt sind.
Die letzten beiden Kapitel handeln von der Kraft des christlichen Lebens und von der Kraft in der Ausdauer der Heiligung. Obwohl Packer beobachtet, dass der Begriff „Kraft“ im christlichen Umfeld inflationär gebraucht wurde, wirbt er dafür, mit der Kraft Gottes für die Heiligung zu rechnen. Dabei ist Heiligung ein Langstreckenlauf. Hebräer 12,1–3 ist die Vorlage für dieses Kapitel: Indem wir unsere Augen auf Jesus richten, laufen wir unermüdlich unsere Bahn. Leid und Schmerz nehmen wir als etwas an, das notwendig ist, uns zu formen.
Schlicht und doch leidenschaftlich
Schon auf den ersten Seiten wird deutlich, dass der Verfasser mit großer Leidenschaft an das Thema herangeht. Hier sehen wir keinen Theologen, der einfach nur eine Abhandlung schreibt, sondern einen Theologen, der mit ganzem Herzen ein „einfacher Mann“ (S. 65) sein will – ein Mann, der Jesus immer ähnlicher wird. Schon nach dem Lesen der ersten Seiten überfiel mich die Sehnsucht nach Veränderung, nach mehr Jesus in meinem Leben.
Die Aufmachung des Buches ist schlicht und wirkt mitunter wie ein Fachbuch, doch sollte der ästhetisch verwöhnte Leser nicht zu schnell urteilen! Der Schreibstil ist einfach, der Gedankengang durchgehend gut durchdacht, sodass man gut folgen kann. Häufige und passende Illustrationen helfen, den jeweiligen Aspekt zu verstehen, und machen das Lesen flüssig. Im Anhang gibt es einen Studienteil, der hilft, das Gelesene zu vertiefen und zu reflektieren. Die Übersetzung ist wirklich gelungen, das Buch liest sich sehr flüssig (ausgenommen die Gedichte, aber das liegt in der Natur der Übersetzung von Lyrik). Gleichzeitig ist der Text inhaltlich dicht, sodass man sich recht bald entscheiden muss, nicht alles Wichtige zu unterstreichen, sondern nur das Herausragende.
Logisch und breit
Die Struktur des Buches folgt einer intuitiven Logik, der Packer als Systematiker stimmig folgt. Er möchte vom Erfahrungshorizont des Lesers hin zur Heiligung argumentieren. Das gelingt ihm gut. Er malt zuerst die Schönheit, die Vorzüge und den Gewinn durch Heiligung, um den Leser dafür zu gewinnen, in die Tiefe zu steigen und systematisch theologisch zu arbeiten. Diese Arbeit entpuppt sich dann Stück für Stück zu einem echten persönlichen Gewinn. Sie bleibt nicht bei einer Beschreibung theologischer Wahrheiten stehen, sondern fordert den Leser praktisch heraus. Packer nutzt den Dialogstil, um den Leser bei sich und beim Thema zu halten. Das macht das Buch lebendig.
Ich muss aber auch gestehen, dass ich mit der Weite des Spektrums der Vorbilder, die Packer heranzieht, gefremdelt habe. In der zweiten Auflage fügt er ein ausführliches Kapitel an, das die Katholikin Mutter Theresa als Vorbild in einem Heiligungsaspekt beschreibt. Auch Vorbilder aus anderen christlichen Richtungen werden angeführt, wie aus der Heiligungsbewegung. Packer offenbart dazu aber auch sein Motiv: Heiligung ist dermaßen vernachlässigt und defizitär, dass er alle Beispiele heranziehen möchte, die diesen Missstand beheben helfen. Er scheut sich nicht, dafür alle Register zu ziehen, und sucht das Beste auch in den bedenklichen Traditionen. Dabei ordnet er kritische Aspekte aber auch ein.
Klagend, aber einladend
Es gehört wohl zum Wesen von Büchern über Heiligung, dass viel über den Mangel an Heiligung geklagt wird. Das tut Packer auch, doch bleibt er dabei nicht stehen. Er verfällt auch nicht in die Schieflage einer einseitigen oder platten Betrachtung des Themas und eines Lieblingsaspekts. Er will auch nicht über das schlechte Gewissen zur Heiligung drängen. Vielmehr lädt er den Leser ein, indem er ihn gut durchdacht und mit einem spürbar echten Anliegen an die Hand nimmt und ihn mit Blick auf die Schönheit und Hoffnung der Heiligung in die Praxis führt. Es ist ein echter Gewinn für die deutschsprachige Leserschaft, dass der Verlag dieses Buch herausgebracht hat. Wer sich hier mitnehmen lassen will, wird das Buch mit großem Gewinn lesen!
Buch
James I. Packer, Heiligung neu entdecken: Die Fülle des Lebens mit Gott kennenlernen, Verlag für Glaube, Theologie & Gemeinde: Petzenkirchen, 2023, 288 Seiten, 27 EUR.
1 Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker, Melancholiker.