Rechtfertigung ist forensisch (nicht transformativ)
Im Gegensatz zur apokalyptischen Auslegung bin ich der Überzeugung, dass die Rechtfertigung forensisch (d.h. juristisch, gerichtlich bedeutsam) und nicht transformativ (d.h. umgestaltend) ist. Gewiss lehrt Paulus, dass Christen durch Gottes Gnade verändert werden. Aber wir dürfen nicht den Fehler begehen, Paulus’ gesamte Theologie in jedes einzelne Wort hineinzulesen, das er verwendet. Die Rettung hat viele Dimensionen (Erlösung, Versöhnung, Heiligung etc.), doch die Begriffe meinen nicht alle dasselbe. Wir dürfen die Worte nicht alle miteinander verschmelzen, sodass Rechtfertigung das Gleiche bedeutet wie Heiligung. Wir könnten natürlich den Fehler machen, einen zu scharfen Keil zwischen die verschiedenen Worte zu treiben, die Paulus benutzt, um unsere Erlösung in Christus zu beschreiben. Doch gleichzeitig müssen wir auch aufpassen, dass wir die Worte nicht willkürlich in einen Topf werfen, weil sie somit ihre verschiedenen Bedeutungen verlieren.
Es ist auch ein Fehler, Gerechtigkeit und den Bund bei Paulus gleichzusetzen. Paulus bringt die beiden Worte „Gerechtigkeit“ und „Bund“ eigentlich nur selten zusammen.[1] Daraus sollten wir aber nicht schließen, dass der Bund bei Paulus ein untergeordnetes Thema ist, und auch nicht, dass die Gerechtigkeit nichts mit dem Bund zu tun hat. Da die beiden Wörter jedoch nicht zusammen verwendet werden, ist dies ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Bund nicht das Hauptaugenmerk ist, durch das wir die Rechtfertigung definieren sollten. Im weitesten Sinne könnten wir sagen, dass Gottes Gerechtigkeit die Verheißungen des Bundes erfüllt, aber das ist nicht dasselbe wie zu sagen, dass Gottes Gerechtigkeit Bundestreue ist.
Wir sollten uns zunächst die Bedeutung des Wortes „rechtfertigen“ (dikaioō) ansehen. Dabei fällt auf, dass das Verb eindeutig forensisch ist. Es geht darum, für gerecht erklärt zu werden und nicht darum, gerecht gemacht zu werden. Ein paar Beispiele sollen dies verdeutlichen:[2] In 5. Mose 25,1 lesen wir: „Wenn zwischen Männern ein Streit entsteht und sie vor Gericht treten, und man richtet sie, so soll man den Gerechten für gerecht erklären (dikaiōsōsin) und den Übeltäter für schuldig.“ Die Richter machen die Gerechten nicht unschuldig; sie erklären sie aufgrund der vor Gericht vorgelegten Beweise für unschuldig. Ein ähnliches Beispiel finden wir in 1. Könige 8,32 (vgl. 2Chr 6,23), wo Salomo betet und Gott bittet, seinen Knechten Recht zu schaffen, „indem du den Schuldigen verurteilst und sein Tun auf sein Haupt zurückfallen lässt, den Gerechten aber rechtfertigst (dikaiōsai) und ihm nach seiner Gerechtigkeit vergibst“. Salomo bittet Gott in diesem Kontext nicht, dass er die Bösen gerecht macht. Er bittet Gott, gerecht zu urteilen und das Urteil gemäß ihren Taten zu fällen, damit die Bösen für schuldig und die Gerechten für unschuldig erklärt werden.
Elihu ermahnt Hiob folgendermaßen: „Hast du etwas einzuwenden, so widerlege mich; sprich, denn ich möchte dich gern rechtfertigen (dikaiōthēnai)“ (Hi 33,32 MENG). Elihu drückt damit seinen Wunsch aus, dass das öffentliche Gericht erkennt, dass Hiob im Recht ist. Elihu sagt keineswegs, dass er Hiob rechtschaffen machen will. Stattdessen will er zeigen, dass Hiob im Recht ist und dass es keinen Grund gibt, ihn zu verurteilen.
Das forensische Wesen der Gerechtigkeit ist ein durchgängiges Thema. Jesaja spricht über die Bosheit in Israel und ruft die Menschen zur Gerechtigkeit auf, indem er sagt: „[S]chafft der Waise Recht (dikaiōsate)“ (Jes 1,17). Die Gerechtigkeit soll in die Tat umgesetzt werden. Sie soll im öffentlichen Raum Wirklichkeit werden. Dennoch ist es ein Missverständnis, daraus zu schließen, dass das hier verwendete Verb „gerecht machen“ bedeutet. Die Gerechtigkeit, die den Waisen zusteht, wird in der Gesellschaft missachtet und sollte deshalb von den Richtern durchgesetzt werden. Die Richter machen niemanden gerecht, aber sie sorgen dafür, dass das Recht im politischen Raum verankert und umgesetzt wird.
Der Rechtscharakter der Gerechtigkeit scheint ebenfalls hervor, wenn der Herr sagt: „Erinnere mich, wir wollen miteinander rechten; zähle [doch] auf, womit du dich rechtfertigen (dikaiōthēs) willst“ (Jes 43,26; vgl. auch Jes 43,9). Der Herr lädt Israel ein, mit ihm vor Gericht zu ziehen und die Angelegenheit vor Gericht zu verhandeln. Dort wird sich zeigen, ob das Volk wirklich im Recht ist. Es ist nicht vorgesehen, dass ein Richter Israel recht gibt. Im Gegenteil. Die Frage ist, ob sie mit ihrer Klage gegen den Herrn im Recht sind.
Paulus gebraucht das Verb in der Regel mit forensischer Bedeutung. Römer 2,13 sagt beispielsweise: „[D]ie, welche das Gesetz befolgen, sollen gerechtfertigt (dikaiōthēsontai) werden.“ Die juristische und deklarative Bedeutung des Verbs ist offensichtlich, denn diejenigen, die das Gesetz halten, werden am letzten Tag vom göttlichen Richter für gerecht erklärt werden. Sie werden nicht gerecht gemacht werden, sondern für gerecht erklärt werden. Schauen wir uns auch Römer 3,4b an: „Damit du Recht behältst (dikaiōthēs) in deinen Worten und siegreich hervorgehst, wenn man mit dir rechtet.“ Paulus erklärt, dass Gott als Richter der Sünde bestätigt wird und recht hat, da die Verurteilten seinen Willen missachtet haben.
Der legale Charakter der Rechtfertigung wird auch in Römer 8,33 deutlich: „Wer will gegen die Auserwählten Gottes Anklage erheben? Gott [ist es doch], der rechtfertigt (dikaiōn)!“ Es liegt der Kontext eines Gerichtshofes vor, in dem Gott als der Richter die Seinen, d.h. die Auserwählten, sein Volk, für gerecht erklärt. Es wird kein Schuldvorwurf erhoben. Die legale Dimension von Rechtfertigung taucht auch in 1. Korinther 4,4 auf: „Denn ich bin mir nichts bewusst; aber damit bin ich nicht gerechtfertigt (dedikaiōmai), sondern der Herr ist es, der mich beurteilt.“ Paulus denkt über das Urteil nach, das er vom Herrn am Tag des Gerichts erhalten wird und teilt den Korinthern mit, dass es der Herr als göttlicher Richter ist, der ihn rechtfertigen wird.
Eine weitere interessante Stelle spricht über die Rechtfertigung von Christus selbst: „Gott ist geoffenbart worden im Fleisch, gerechtfertigt (edikaiōthē) im Geist“ (1Tim 3,16). Die Rechtfertigung, von der hier die Rede ist, ereignete sich bei der Auferstehung Jesu und zeigt, dass er von Gott nicht verurteilt wurde. Die Kreuzigung Jesu ließ Menschen zu dem Schluss kommen, dass Gott ihn als Gesetzesbrecher und Gotteslästerer verworfen habe. Sie argumentierten, dass Gott Jesus nicht auf solch schreckliche Weise hätte sterben lassen, wenn er wirklich gerecht gewesen wäre. Ganz im Gegenteil verdeutlicht die Auferstehung Jesu aber, dass er von Gott anerkannt und als vor Gott im Recht erklärt wurde. Gott machte Jesus bei der Auferstehung nicht gerecht; er erklärte ihn im Recht, indem er ihn öffentlich rechtfertigte.
Wenn wir das Wort „rechtfertigen“ im Galaterbrief untersuchen, sollte es im entsprechenden legalen Rahmen ausgelegt werden. Wir erfahren dreimal in Galater 2,16, dass Menschen durch den Glauben an Jesus Christus gerechtfertigt (dikaioō) sind und nicht durch die Werke des Gesetzes. Menschen sind nicht im Recht vor Gott aufgrund ihrer Einhaltung der Thora, sondern durch ihren Glauben an Jesus. Das Wort „gerechtfertigt“ hat hier eine deklarative Bedeutung. Der darauffolgende Vers weist darauf hin, warum die Werke des Gesetzes nicht rechtfertigen: „Wenn wir aber, weil wir in Christus gerechtfertigt (dikaiōthēnai) zu werden suchen, auch selbst als Sünder erfunden würden, wäre demnach Christus ein Sündendiener? Das sei ferne!“ (Gal 2,17). Der Herr erklärt als göttlicher Richter, dass Menschen vor ihm nicht durch die Werke der Thora als rechtschaffen befunden werden. Das Wort „befunden“ (heuriskō) hat oft eine legale und juristische Bedeutung[3] und das ist auch der Fall in Galater 2,17. Der Grund ihrer Verurteilung ist Ungehorsam: Menschen werden durch das Gesetz als Sünder befunden. Folglich stehen sie nicht im Recht vor Gott durch ihren Gehorsam, weil sie Sünder sind. Stattdessen sind sie rechtschaffen vor Gott durch den Glauben. Paulus unterstreicht diese Thematik mehrfach im Galaterbrief, indem er bekräftigt, dass die Rechtfertigung durch den Glauben kommt (vgl. Gal 3,8.24) und nicht durch das Gesetz (vgl. Gal 3,11; 5,4).
Ich habe die Behauptung aufgestellt, dass das Verb „rechtfertigen“ in Galater 2,16–17 eine forensische Bedeutung hat. Aber was ist mit dem Nomen „Gerechtigkeit“ (dikaiosynē) in Galater 2,21? „Ich verwerfe die Gnade Gottes nicht; denn wenn durch das Gesetz Gerechtigkeit [kommt], so ist Christus vergeblich gestorben.“ Hat das Nomen „Gerechtigkeit“ ebenfalls eine forensische Bedeutung? Es scheint unwahrscheinlich, dass dem Verb „rechtfertigen“ und dem Nomen „Gerechtigkeit“ verschiedene Bedeutungen zugewiesen werden, denn beide kommen im gleichen Kontext vor und befassen sich mit demselben Thema, nämlich der Frage, ob Menschen gerecht vor Gott stehen können.
Dieselbe Schlussfolgerung sollte aus dem Gebrauch des Wortes „Gerechtigkeit“ in Galater 3,6 gezogen werden. Paulus bezieht sich auf Abraham, der „Gott geglaubt hat und es ihm zur Gerechtigkeit angerechnet wurde“. Wir könnten möglicherweise verstehen, dass Paulus sagt, Abrahams Glaube sei tugendhaft gewesen. Ist dies der Fall, so steht die „Gerechtigkeit“ für Abrahams Gerechtigkeit bzw. seine ethische Tugend. Diese Lesart steht jedoch im Widerspruch zur Botschaft des Galaterbriefes als Ganzes, denn es ist die Gnade Gottes, die rettet – nicht die Gerechtigkeit von Menschen. Dies wird bestätigt, wenn wir Galater 3,2 und Galater 3,5 lesen, wo der Glaube den Werken des Gesetzes entgegengesetzt wird. Auf die gleiche Weise wird aus Galater 3,6 ersichtlich, dass Glaube und menschliche Werke zwei verschiedene Annäherungen an Gott repräsentieren. Interessanterweise erklärt Paulus in Galater 3,8 (nur zwei Verse nach Galater 3,6), dass es die „Schrift voraussah“, dass Gott die Heiden aus Glauben rechtfertigen würde.
Das Nomen „Gerechtigkeit“ und das Verb „rechtfertigen“ sind eng aufeinander abgestimmt. Wir haben bereits gesehen, dass das Verb forensisch ist und es ergibt Sinn, dass das Nomen „Gerechtigkeit“ ähnlich zu verstehen ist. Sowohl laut Galater 3,6 als auch in Galater 3,8 ist Glaube erforderlich, um gerecht vor Gott zu sein. Das Nomen „Gerechtigkeit“ steht auch in Galater 3,21 und sollte hier ebenfalls forensisch gelesen werden: „Ist nun das Gesetz gegen die Verheißungen Gottes? Das sei ferne! Denn wenn ein Gesetz gegeben wäre, das lebendig machen könnte, so käme die Gerechtigkeit wirklich aus dem Gesetz.“ Wenn wir darauf achten, wie eng Galater 3,11 in Galater 3,21 widergespiegelt wird, so wird die legale und deklarative Bedeutung von Gerechtigkeit zusätzlich unterstrichen. In Galater 3,11 sehen wir den engen Zusammenhang zwischen den Verben „rechtfertigen“ und „leben“ und in Galater 3,21 hängt das Nomen „Gerechtigkeit“ mit dem Verb „leben“ zusammen. Es geht hier nicht darum, dass die Wörter „rechtfertigen“ und „leben“ dieselbe Bedeutung haben. Die beiden Wörter sind keine Synonyme. Ziel ist es, aufzuzeigen, dass das Verb „rechtfertigen“ und das Nomen „Gerechtigkeit“ beide deklarativ sind und betonen, dass das Gesetz nicht rechtfertigt bzw. Gerechtigkeit bringt. Es ist also sehr unwahrscheinlich, dass das Nomen „Gerechtigkeit“ (dikaiosynē) und das Verb „rechtfertigen“ (dikaioō) unterschiedliche Bedeutungen haben. In beiden Fällen geht es um die Rechtschaffenheit vor Gott.
Der letzte Gebrauch von „Gerechtigkeit“ taucht in Galater 5,5 auf: „Wir aber erwarten im Geist aus Glauben die Hoffnung der Gerechtigkeit“. Es ist gewiss möglich, dass hier ein Bezug zur ethischen Gerechtigkeit hergestellt wird. Doch der bisherige Gebrauch des Begriffes im Brief und im Kontext weist auf ein forensisches Verständnis hin. Galater 5,4 bezieht sich auf diejenigen, die versuchen, „durchs Gesetz gerecht“ zu werden. Das Verb ist eindeutig forensisch. Es scheint ziemlich unwahrscheinlich, dass das Nomen „Gerechtigkeit“, das im nächsten Vers (vgl. Gal 5,5) vorkommt, eine andere Bedeutung als „rechtfertigen“ in Galater 5,4 hat. Der Inhalt, um den es geht, führt uns zu der gleichen Schlussfolgerung. In Galater 5,5 vergleicht Paulus den Glauben und das Werk des Geistes mit dem Gesetz und an dieser Stelle des Briefes ist der Gedanke, dass Menschen durch Glauben im Recht vor Gott stehen, ein übergeordnetes Thema. Folglich gibt es gute Gründe, zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass Gott am letzten Tag der Welt öffentlich erklären wird, dass Gläubige im Recht vor ihm stehen. Ich komme zu dem Ergebnis, dass das Nomen „Gerechtigkeit“ im Galaterbrief eine forensische Bedeutung hat und dass das Nomen „Gerechtigkeit“ und das Verb „rechtfertigen“ in ihrer Bedeutung nicht voneinander unterschieden werden sollten.
1 Mark A. Seifrid zeigt das in seinem bedeutenden Buch Christ, Our Righteousness: Paul’s Theology of Justification, NSBT 9, Downers Grove, IL: InterVarsity Press, 2001.
2 Auch wenn die folgenden Zitate der ESV Old Testament (in dt. Übersetzung Schlachter 2000) auf den MT basieren, habe ich die Form von dikaioō gewählt, die in der LXX auftaucht.
3 Vgl. Apg 4,21; Apg 13,28; Apg 23,9.29; Apg 24,5.12.20; Röm 4,1; 1Kor 4,2; 15,15; 2Kor 12,20; Phil 3,9; 2Tim 1,18; 1Petr 1,7; 2Petr 3,10.14; Offb 2,2; 14,5; 20,15.