Die Anwendung der Schrift
Viele sagen, dass man sich die Fähigkeit, die Bibel anzuwenden, eher intuitiv aneignet anstatt sie „formal“ zu lernen – es sei vor allem eine Sache des Instinkts bzw. geistlicher Weisheit, nicht so sehr der Methode. Trotzdem fällt es den meisten Pastoren schwer, das Wort Gottes anzuwenden. Viele Gläubige hören Woche für Woche dieselben Anwendungen (in etwa denselben Worten): Sie sollen mehr beten, mehr dienen, mehr evangelisieren; sie sollen heiliger, treuer und engagierter sein. Das wird erst vorhersehbar, und dann langweilig. Das schlimmste Verbrechen eines Bibellehrers ist die Verbreitung von Irrlehren – eine langweilige Glaubensverkündigung ist fast genauso schlimm. Viele Pastoren predigen primär aus den Briefen oder anderen didaktischen Teilen der Bibel, weil sie das Gefühl haben, dass sie die Bibel nur dann anwenden, wenn sie ihren Leuten sagen, was sie tun sollen. Infolgedessen meiden sie eher abstrakt-lehrhafte oder narrativ-erzählende Bibelabschnitte.
Das geht auch besser.
Die Bibel als Ganzes gott- und christuszentriert anwenden
Zunächst einmal ist Anwendung gott- und christuszentriert. Sie hat ihren Ursprung in dem Werk Gottes und wie wir darauf reagieren. Deshalb predigen wir die Erlösungsgeschichte und Lehrtexte (und wenden sie an), in denen es um Sünde, Buße, Glauben und unsere Vereinigung mit Christus geht. Diese Texte sind die Grundlage für eine angemessene Reaktion auf Gottes Wahrheit.
Lehrer sind wie Hebammen. Gott ist derjenige, der Menschen ohne unser Zutun geistliches Leben schenkt, aber Gott gebraucht uns als „Geburtshelfer“. Diese Arbeit hat folgende Elemente:
Die wichtigsten Elemente bei der Anwendung sind der Text, der Ausleger und die Zuhörerschaft. Der Ausleger fungiert als Vermittler, der die Botschaft zu den Menschen bringt (Pfeil 1). Er ist auch derjenige, der die Fragen und Bedürfnisse der Zuhörer an den Text heranträgt (Pfeil 2). Mit seinen Auslegungsfähigkeiten erschließt sich der Ausleger die Bedeutung des Bibeltextes (Pfeil 3); am wirksamsten ist die Bibel allerdings erst dann, wenn der Ausleger ihre Botschaft selbst gehört und beherzigt hat (Pfeil 4). Ausleger sind dann am effektivsten, wenn sie die Fragen der Menschen verstehen und beantworten (Pfeil 5). Und schließlich gewinnen Pastoren, wenn sie ihre Gemeinde lieben und Kompetenz im Umgang mit der Bibel beweisen, an Glaubwürdigkeit und ihre Gemeinde hört ihnen zu (Pfeil 6).
Paulus sagt: „Alle Schrift ist … nützlich zur Belehrung, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes ganz zubereitet sei, zu jedem guten Werk völlig ausgerüstet“ (2Tim 3,16–17). Wir sollten also davon ausgehen, dass Erzählungen, Lehrtexte, Lieder und Gebete ebenso nützlich und anwendbar sind wie Gebote.
Bei Geboten scheint die Anwendung oft am einfachsten zu sein. Trotzdem braucht es da pastorales und seelsorgerliches Geschick. So erfordern spezifische Vorschriften aus dem Pentateuch (z.B. über Ochsen oder andere Opfer) oder der Lehre Jesu und der Apostel, dass Ausleger eine fundierte Verbindung zum heutigen Leben herstellen können. Auch allgemeine Grundsätze wie „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“ erfordern einiges an Überlegung. Wie ehrt ein erwachsener Gläubiger törichte Eltern? Pastoren müssen die verschiedenen biblischen Gebote zu diesem Thema im Blick haben und ein kohärentes Gesamtbild entwickeln.
Mehr als ein Drittel der Bibel besteht aus Erzähl- und Geschichtstexten, die sehr anwendungsreich sind. Biblischen Erzählungen erzählen die Geschichte der Erlösung. Jesus sagte, dass die ganze Bibel von ihm handelt (vgl. Lk 24,25–27). Die verschiedenen Siege und Niederlagen, die Propheten, die Priester und die Könige des Alten Testaments weisen alle auf Jesus hin. Die Erzählungen der Evangelien beschreiben eindeutig das Erlösungswerk Jesu. Die Erzählungen rufen uns also zum Glauben auf; sie offenbaren das Wesen des Gottes, dem wir vertrauen und den wir anbeten, und rufen uns zu ihm (vgl. Röm 8,29).
Jesus, Paulus und der Hebräerbrief zeigen außerdem, dass wir auch aus der biblischen Geschichte, also den Ereignissen der Vergangenheit, moralische Lehren ziehen sollten. Jesus möchte, dass wir vom vorbildlichen Glauben der Menschen, denen er begegnet, lernen; aber auch Leute wie David haben uns etwas zu sagen (vgl. Mt 8,5–13; 12,1–8). Paulus gebraucht David und die sündigen Israeliten als Vorbilder, denen man folgen (oder die man meiden) sollte (vgl. Röm 4,6–8; 1Kor 10,1–14). Und Hebräer 11 lädt uns ein, die Helden des Glaubens nachzuahmen.
Die Lieder und Gebete der Bibel lehren uns, wie wir lobpreisen, Sünden bekennen, in schweren Umständen klagen, und Gott um Weisheit bitten können. Sie geben uns eine Sprache, mit der wir Gott die Vielfalt unserer Gedanken und Gefühle darlegen können (vgl. Ps 13; 69; 103).
Lehre ist wichtig. Biblische Lehre offenbart vor allem den Charakter Gottes – seine Heiligkeit, Gerechtigkeit, Liebe, Barmherzigkeit, Gnade und Treue. Da uns Gott nach seinem Ebenbild geschaffen hat, das in uns durch Christus wiederhergestellt wird, entspricht Gottes Charakter dem Charakter, nach dem auch wir streben sollten. Außerdem können wir eine Lehre (wie z.B. die liebende Vorsehung Gottes) anwenden, indem wir ein paar einfache Fragen stellen: „Wenn diese Lehre wahr ist, welche Gedanken und Handlungen würden daraus folgen?“ Oder: „Wenn ich diese Lehre wirklich glauben würde, wie würde sie meine Gedanken, Gefühle und Handlungen beeinflussen?“ Lehren haben auch die Kraft, Dinge zu erklären. Wenn wir mit den großen Fragen des Lebens konfrontiert werden, liegt die Antwort oft in einem Glaubenslehrsatz.
Bisher haben wir uns damit befasst, wie Bibellehrer ihren Zuhörern die Bibel durch gute Anwendungen nahebringen können. Jetzt befassen wir uns damit, wie sie bei den Fragen der Menschen ansetzen können. Die Bibel sowie die Geschichte der Ethik zeigen, dass unsere Fragen nach dem richtigen und guten Leben in Kategorien fallen, die wir als „Die vier Fragen, die Menschen stellen“ bezeichnen können. In den meisten Predigten können Pastoren zwei oder drei dieser Fragen beantworten.
„Die vier Fragen, die Menschen stellen“
Die erste Frage lautet: Was ist meine Pflicht? Oder anders: Was soll ich tun? Was bin ich Gott und der Menschheit schuldig? Zweitens: Wer soll ich sein? Wie kann ich ein Mensch werden, der gewohnheitsmäßig das Richtige tut, auch wenn es schwerfällt? Kann ich einen Charakter entwickeln, der das Richtige tun will? Drittens: Welche Ziele sollte ich verfolgen? Für welche Ziele sollte ich meine Energie einsetzen? Wenn wir gute Ziele haben, investieren wir in lohnende Projekte und finden die Mittel, um sie zu erreichen. Viertens: Wie kann ich richtig sehen lernen? Wie kann ich Einsicht, Weisheit und Urteilsvermögen erlangen, um Wahrheit von Irrtum zu unterscheiden? Wie kann ich in die Irre führende Stimmen erkennen? Wie kann ich die Welt aus Gottes Perspektive sehen und Entscheidungen richtig angehen?
Viele Pastoren glauben, dass sie die Bibel anwenden, wenn sie den Menschen sagen, was ihre Pflicht ist; und das tun sie auch! Aber Jüngerschaft bedeutet mehr als Gehorsam gegenüber Geboten. Wir wenden die Bibel auch an, wenn wir den Menschen sagen, wer sie sind, und wie sich das, was sie sind, auf die Kultivierung der Frucht des Geistes in ihnen auswirken sollte. Wir wenden die Bibel auch an, wenn wir die Menschen auf richtige Ziele hinweisen, damit sie so Projekten im Reich Gottes nachgehen können.
Gebote schaffen den Rahmen für ein richtiges Leben, aber wir brauchen mehr als Gebote. Um das Gute zu tun, muss man gut sein. Ein guter Baum bringt gute Früchte (vgl. Mt 7,18). Ein neues Herz und Wesen, die auf Glauben und Buße beruhen, ermöglichen es einem, gute Werke zu tun. Das Herz, der Verstand und unsere Neigungen (was wir lieben) sind die Wurzel wahren Gehorsams; eines Gehorsams, der von der Liebe motiviert ist. Gebote und Pflichten sind wichtig, aber es ist unmöglich, Regeln so detailliert aufzustellen, dass sie alle möglichen Situationen abdecken. Deshalb stellen wir uns in moralischen Situationen bestimmte Fragen: Was ist die richtige moralische Entscheidung? Schätze ich diese Situation richtig ein? Werde ich die Kraft haben, das Richtige zu tun?
Eine wirksame Anwendung beantwortet „Die vier Fragen, die Menschen stellen“. Diese Fragen wollen wir nun genauer untersuchen.
Pflicht: Was sollte ich tun?
Pastoren konzentrieren sich auf die Pflicht, wenn sie meinen, dass die Menschen Rat benötigen oder wissen müssen, was sie tun sollen. Die Schlüsselfrage lautet: Was verlangt Gott in der Bibel? Pastoren werden sich vor allem dann auf die Pflicht berufen, wenn ihre Leute vor neuen oder ungewissen Situationen stehen. Die Bibel nennt unsere Pflichten im Gesetz (vgl. 2Mose 20) und in den Propheten sowie in der Lehre Jesu und der Apostel. Gesetze und Gebote formulieren die Grundregeln des Lebens. Pflichten können universell sein: Jeder soll die Wahrheit sagen. Sie können aber auch spezifisch sein: Tischler stellen Tische her und Pastoren bereiten Predigten vor.
Pflichten können aus den falschen Gründen attraktiv sein. Manche Pastoren mögen es, autoritativ zu klingen. Autoritäre Leiter versuchen vielleicht, die Kontrolle zu behalten, indem sie Gesetze erlassen – und dann gibt es Menschen, die es mögen, wenn man ihnen sagt, was sie tun sollen.
Charakter: Wer bin ich?
Pastoren fokussieren sich auf den Charakter, wenn sie glauben, dass ihre Leute moralische Fähigkeiten und Veranlagungen brauchen, die sie über Jahre hinweg in Bereichen wie Arbeit oder Ehe auf den richtigen Weg bringen werden. Hier erklären Pastoren den Menschen, wer sie in Christus sind. Sie ergründen mit ihnen, wie sie ihm ähnlicher werden können, und überlegen, wie sich die Menschen verändern müssen, um einen „langen Gehorsam“ in die Richtung erleben zu können.
Es geht im christlichen Leben um mehr als nur um richtiges und falsches Handeln. Es geht auch darum, eine bestimmte Art Mensch zu werden. Christen mit Charakter glauben, dass Recht und Unrecht wichtig sind. Sie lieben das Richtige, hassen das Böse und tun auch unter Druck zuverlässig das Richtige.
Es ist sinnlos, weltlichen Menschen zu befehlen: „Sammelt euch vielmehr Schätze im Himmel“ (Mt 6,20). Weltliche Menschen können gar nicht anders, als Schätze auf Erden zu sammeln. Der Atheismus hebt die Fähigkeit zum Gehorsam auf. Ebenso wehren sich nominelle Christen gegen die Lehre Jesu: „Niemand kann zwei Herren dienen … Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (6,24). Sie denken: „Warum nicht?“ Ein christlicher Charakter schafft also überhaupt erst die Fähigkeit, Anweisungen zu befolgen. Wer wir sind, bestimmt, was wir tun können.
Die Pflicht sagt: „Tu das Richtige.“ Der Charakter sagt: „Gerechte Menschen tun das Richtige.“ Der Charakter ist der Architekt eines Lebensstils. Er ist ergebnisoffen. Niemand weiß, wohin eine Tugend wie Mut führen kann. Mutige Menschen handeln mutig, auch wenn es sie etwas kostet.
Charakter ist essenziell, weil das Gesetz das christliche Leben nicht vollständig abdecken kann. Wir finden unseren Weg, wir improvisieren – entsprechend unserem Charakter – in neuen Situationen; unser Charakter schafft Stärken, die uns gut improvisieren lassen.
Pastoren konzentrieren sich auf das Herz oder den Charakter, weil die Fähigkeit, Geboten zu gehorchen, grundlegender ist als die Gebote selbst. Warum sollte man Menschen befehlen, zu gehorchen, wenn sie es nicht können? Genauso gut könnte man einem Ertrinkenden befehlen, zu schwimmen. Ja, tatsächlich sollte er schwimmen, aber er ist dazu nicht fähig. Trotzdem können wir den Menschen nicht einfach befehlen, sich zu verändern. Veränderung beginnt, wenn Gottes Geist uns belebt, wir anfangen zu glauben und mit Christus vereinigt werden. Dann schaffen wir unser Heil mit Furcht und Zittern – weil Gott in uns wirkt (vgl. Phil 2,12–13).
Ein Charakter ändert sich nur langsam, aber wir können in dieser Hinsicht trotzdem wachsen. C.S. Lewis sagte:
„Eher würde ich sagen, daß wir jedesmal, wenn wir eine Entscheidung treffen, den innersten Kern unseres Wesens ein klein wenig verändern. Und wenn wir unser ganzes Leben betrachten, mit den unzähligen Entscheidungen, die wir zu treffen haben, dann bedeutet das, daß wir diesen innersten Kern unser ganzes Leben lang ganz allmählich verwandeln, entweder in etwas Himmlisches oder in etwas Teuflisches.“[1]
Ziele: Wohin sollte ich gehen?
Pastoren konzentrieren sich auf Ziele, wenn sie Menschen seelsorgerlich beraten, die sich zwischen mehreren legitimen (und guten) Optionen entscheiden müssen. Wie sie sich entscheiden, hängt davon ab, wohin sie gehen und was sie erreichen wollen. Pastoren stellen dann Fragen wie: Was ist die Richtung deines Lebens? Was sind die besten Mittel, um gottgefällige Ziele zu erreichen? Kannst du deinen Teil der Welt so gestalten, dass er den Plänen Gottes entspricht? Wenn Pastoren das Wort Gottes lehren, helfen sie den Menschen, zu entdecken, was sie erreichen wollen.
Ziele sind die Ursachen und Bestrebungen, die unsere Fähigkeiten, Kräfte und Entscheidungen lenken. Ziele können klein oder groß und lebensbestimmend sein. Ziele motivieren uns, uns weiterzubilden und Positionen und Verbündete zu suchen, die es uns ermöglichen, unsere gewählten Projekte zu verwirklichen. Ziele erklären, warum wir an dieser Sache arbeiten (und nicht an jener). Pastoren helfen Menschen oft dabei, sinnvolle Ziele zu wählen und zu verfolgen. Gute Ziele passen in den Rahmen von Recht und Pflicht. Wir helfen niemandem, unmoralische Ziele zu verfolgen.
An Plänen und Zielen interessiert zu sein, wird von der Bibel eindeutig befürwortet. Gott gab Mose die Aufgabe bzw. das Ziel, Israel aus Ägypten herauszuführen; Josua führte sie in das verheißene Land. Paulus hatte ein Ziel, nämlich zu predigen und eine Grundlage für das Evangelium an Orten zu legen, an denen der Name Christi noch nie genannt worden war (vgl. Röm 15,20). Wir müssen unsere Ziele jedoch prüfen, weil es sein kann, dass Gott sie nicht bejaht: David wollte den Tempel bauen, aber Gott ordnete an, dass Salomo diese Aufgabe übernehmen sollte, während David ihm dabei half (vgl. 1Chron 22).
Wenn wir Ziele verfolgen, spiegeln wir das Ebenbild Gottes wider, der auch Pläne macht und ausführt. Das Konzept geistlicher Gaben deutet darauf hin, dass Gott bestimmte Ziele für die Menschen hat. Wenn wir unsere von Gott gegebenen Talente einsetzen, erreichen wir unsere Ziele mit Freude.
Urteilsvermögen: Wie kann ich die Dinge richtig sehen?
Pastoren fokussieren sich auf das Urteilsvermögen, wenn sie ihren Leuten dabei helfen müssen, falsche Denkweisen und Gewohnheiten zu erkennen, ihnen zu widerstehen und in Weisheit zu wachsen. Sie wissen, dass das, was Menschen tun, weitgehend von den Handlungsoptionen abhängt, die sie im Blick haben.
Urteilsvermögen bedeutet Einsicht und Verständnis. Es geht darum, die Dinge so zu sehen, wie sie sind: nämlich aus der Perspektive Gottes. Es ermöglicht uns, zwischen biblischen und unbiblischen Aspekten innerhalb von konkurrierenden Weltanschauungen, denen wir begegnen, zu unterscheiden. Urteilsvermögen ist verwandt mit der Weisheit. Wenn Weisheit die Kunst des Lebens ist, dann ist Urteilsvermögen die Kunst des Sehens. Bruce Waltke hat Weisheit als Wissen um Gottes Welt und das Geschick, sich in ihr einzufügen, definiert; darauf aufbauend können wir Urteilsvermögen als Wissen um die Welt und die Fähigkeit, sich (je nach Situation) in sie einzufügen oder ihr zu widerstehen, beschreiben.
Urteilsvermögen beginnt mit grundlegenden Überzeugungen über Gott und die Welt. Grundüberzeugungen werden zum Maßstab, mit dem wir andere Ideen oder Sichtweisen überprüfen.
David veranschaulicht Urteilsvermögen: Als die Armeen der Philister und der Israeliten in den Hügeln von Judäa in einer Pattsituation steckten, bot Goliath an, gegen einen israelischen Helden zu kämpfen und diesen Kampf als Schlachtersatz gelten zu lassen. Saul hatte dem Freiwilligen seine Tochter zur Heirat und Befreiung von allen Steuern versprochen, aber niemand meldete sich (Soldaten wissen, dass Tote sowieso keine Steuern zahlen). Sie fragten sich, wer es wagen würde, gegen den Riesen zu kämpfen.
David hatte das Vermögen, die Situation aus Gottes Perspektive zu sehen und zu beurteilen. Er wusste, dass die Frage nicht lautete: „Wer traut sich, gegen den Riesen zu kämpfen?“, sondern: „Wer ist dieser Mensch, dass er den lebendigen Gott verhöhnt?“ David erkannte, dass Goliath Gott verachtet hatte und erklärte, dass der Kampf dem Herrn gehört, als er sich seinem Gegner stellte (vgl. 1Sam 17,26.42–48).
Urteilsvermögen prägt unsere heutigen Entscheidungen. Nehmen wir Abtreibung als Beispiel: Für die einen handelt es sich dabei um die Entfernung eines Zellhaufens, des „Produkts einer Empfängnis“; für die anderen handelt es sich um einen Gewaltakt gegen die Schwachen und Wehrlosen. Die einen sehen, dass Frauen die Kontrolle über ihr Leben erlangen; andere sehen Kinder, die ihr Leben verlieren. Urteilsvermögen befähigt uns, einer naiven Anpassung an unsere Zeit zu widerstehen. Gemeinschaft ist für viele Menschen deshalb wichtig, da sie „Gefolgsleute“ sind. Sie sehen moralische Situationen so, wie es ihre Kultur tut. Gemeinschaften haben Gewohnheiten, die an moralischer Kraft gewinnen können; was gewohnheitsmäßig üblich ist, erscheint moralisch und richtig.
Urteilsvermögen gehört auch deshalb zur Bibelanwendung dazu, weil sich ein Teil der Zuhörerschaft einem Pastor stillschweigend widersetzt, wenn er kontroverse Themen anspricht. Wenn die Zuhörer die Sicht des Leiters auf die Themen ablehnen, werden sie auch seine Führung ablehnen. Deshalb sprechen Pastoren über die Weltanschauungsfragen ihrer Zeit und setzen sich damit kritisch auseinander. Im Idealfall befähigt uns Gottes Wort, uns von unserer Kultur so weit zu lösen, dass wir sowohl ihre wertvollen Einsichten als auch ihre blinden Flecken erkennen können.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Pflicht betont, was wir tun sollten; der Charakter konzentriert sich darauf, wer wir sein sollten; Ziele beziehen sich auf das, was wir anstreben sollten; und das Urteilsvermögen setzt sich mit konkurrierenden Ideen über Gott, Pflichten und Charakterfragen auseinander. Pflichten sind definiert und feststehend, aber unser Charakter, unsere Ziele und unser Urteilsvermögen sind dynamisch und offen. Ein Mensch mit Charakter weiß, wie er handeln wird, aber nicht, wohin das führen kann. Ein Mensch, der Ziele verfolgt, weiß, wohin er gehen wird, aber nicht, wie er dorthin kommt.
Gottesfürchtige Pastoren haben also viele Möglichkeiten, die Bibel anzuwenden. Anwendungen können aus biblischen Geboten, Erzählungen, Lehrtexten sowie Liedern und Gebeten gezogen werden. Sie versuchen auch, in ihren Predigten zwei oder drei der vier Fragen zu beantworten, die Menschen stellen. Auf diese Weise bringen sie die Bibel zu den Menschen und die Menschen zur Bibel. Durch Gottes Gnade können wir unseren Leuten helfen, in ihre Identität in Christus hineinzuwachsen.
Literaturhinweise
- Daniel Doriani, Putting the Truth to Work: The Theory and Practice of Biblical Application, Phillipsburg: P&R Publishing, 2007.
- Bruce Birch und Larry Rasmussen, Bible and Ethics in the Christian Life, erw. Aufl., Augsburg: Fortress Press, 1988.
- Jack Kuhatschek, Taking the Guesswork out of Applying the Bible, Downers Grove: InterVersity Press, 1990.
- Kevin Vanhoozer, The Drama of Doctrine: A Canonical Linguistic Approach to Christian Doctrine, Louisville: Westminster John Knox Press, 2005.
1 C.S. Lewis, Pardon, ich bin Christ: Meine Argumente für den Glauben, Gießen: Brunnen, 1998, S. 95–96.